Ein wichtiger Essay in der New York Times
Michelle Goldberg
Quelle: https://www.nytimes.com/by/michelle-goldberg
Letzte Woche gingen die Ergebnisse einer EU-Studie zum Antisemitismus durch die Medien. Demnach fühlen sich Juden viel mehr angegriffen als bisher bekannt. Zwei Gründe für diesen Widerspruch zu bisher Bekanntem sind: Die Studie war nicht repräsentativ, vielmehr konnte teilnehmen wer wollte. Zum anderen überließ es die Studie den Befragten selbst, Ereignisse als antisemitisch einzuordnen. Der Verdacht liegt nahe, dass daher viele Teilnehmende Unmut über Israel als Ausdruck von Antisemitismus werteten; denn der Unterschied zwischen diesen Einstellungen wird heute vielfach vernebelt.
Von großer Bedeutung ist daher, dass in der New York Times, dem liberalen Leitmedium der USA-Presse, ein Aufsatz von Michelle Goldberg erschien, in dem sie deutlich macht, dass Antizionismus nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen ist. Dabei geht sie auch auf die Situation der Juden in den USA ein und auf die neue außenpolitische Strategie von Ministerpräsident Netanyahu, der nationalistische europäische Politiker wie Viktor Orban (trotz dessen antisemitischer Kampagne gegen George Soros) und Matteo Salvini hofiert, weil er sich ihre Unterstützung für seine Politik, z.B. gegenüber dem Iran, erhofft.
Wir dokumentieren hier Michelle Goldbergs Essay in unserer Übersetzung.
New York Times v. 7. Dezember 2018
Michelle Goldberg
Antizionismus ist nicht dasselbe wie Antisemitismus
Amerikanische Juden haben von den neuen Kritikern Israels im Kongress nichts zu befürchten
Am Montag hat Rashida Tlaib, Mitglied der Demokratischen Partei aus Michigan – im November als erste palästinensische Amerikanerin in den Kongress gewählt – die BDS-Bewegung öffentlich unterstützt, die durch wirtschaftlichen Druck auf Israel die Rechte der Palästinenser sichern will. Damit ist sie nach Ilhan Omar, der Abgeordneten der Demokraten aus Minnesota, das zweite neue Kongressmitglied, das die BDS-Bewegung unterstützt.
Keines der bisherigen Kongressmitglieder unterstützt BDS; die Bewegung ist in der amerikanischen Politik ein Tabu, aus mehreren Gründen. Ihre Gegner argumentieren, Israel als Ziel ökonomischer Bestrafung herauszugreifen, sei unfair und diskriminierend, da Israel nicht im entferntesten der schlimmste Verletzer der Menschenrechte sei. Darüber hinaus unterstütze die Bewegung das Recht der palästinensischen Flüchtlinge und ihrer Nachkommen auf Rückkehr nach Israel, was zu einem Ende des Staates Israel als mehrheitlich jüdischer Staat führen könne. (Viele BDS-Unterstützer setzen sich für einen binationalen Staat für beide Völker ein). Natürlich wurde die Auffassung von Tlaib und Omar von konservativer Seite in den USA – und nicht nur von dieser – als antisemitisch angeprangert.
Dieser Vorwurf ist unzutreffend. Die Gleichsetzung von Antizionismus mit Antisemitismus hat etwas von einem Taschenspielertrick, der auf der Annahme basiert, Israel sei die Verkörperung des jüdischen Volkes auf der ganzen Welt. Sicherlich ist manche Kritik an Israel antisemitisch, aber man kann sehr wohl gegen den jüdischen Ethno-Nationalismus Stellung nehmen, ohne ein Eiferer zu sein. In der Tat wird es immer absurder, den israelischen Staat als Stellvertreter für die Juden schlechthin zu betrachten, angesichts der Art und Weise, in der die gegenwärtige israelische Regierung sich mit weit rechtsgerichteten europäischen Bewegungen mit antisemitischen Wurzeln verbrüdert.
Die Interessen des Staates Israel und der Juden in der Diaspora können manchmal übereinstimmen, sie waren jedoch nie identisch. Rechtsgerichtete Antisemiten haben bisweilen den Zionismus unterstützt, weil sie Juden in ihren Ländern nicht haben wollten – ein deutliches Beispiel ist die polnische Regierung in den 1930er Jahren.
Umgekehrt gibt es eine lange Geschichte des jüdischen, sowohl säkularen als auch religiösen, Antizionismus oder Nichtzionismus. Im Jahr 1950 traf Jacob Blaustein, Präsident des American Jewish Committee, mit dem israelischen Ministerpräsidenten David Ben-Gurion eine Vereinbarung, in der Ben-Gurion zusagte, nicht den Anspruch zu erheben, für die amerikanischen Juden zu sprechen. “Die Juden der Vereinigten Staaten, als eine Gemeinschaft und als Individuen, haben keine politische Bindung an Israel“, sagte Blaustein damals.
Jahrzehnte später wäre eine solche Stellungnahme des American Jewish Committee – oder einer anderen wichtigen jüdischen mainstream-Organisation – undenkbar. Ein Konsens, dass „die jüdische Identität auf Israelismus reduziert werden kann“, ist – so sagte mir Eliyahu Stern, Dozent für moderne jüdische Geschichte an der Universität Yale – „etwas, das sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Amerika entwickelt hat.“
Die zentrale Bedeutung Israels für die jüdische Identität der amerikanischen Juden hat die liberalen amerikanischen Juden zeitweise in eine unangenehme Lage gebracht, da sie hier, wo sie eine Minderheit sind, den multiethnischen Pluralismus verteidigen, während sie ihn in Israel, wo die Juden die Mehrheit bilden, unaussprechlich finden. (Amerikanische weiße Nationalisten, von denen manche ihr Projekt mit dem Zionismus vergleichen, weisen gern auf diesen Widerspruch hin.)
Bis vor kurzem fiel es vielen Liberalen ziemlich leicht, eine stringente Anwendung dieser liberalen Haltung auf Israel als Verschrobenheit von Kleingeistern abzutun. Ein binationaler Staat mag sich in der Theorie gut anhören, aber in der Praxis führt er vermutlich zum Bürgerkrieg. (Sogar die Belgier haben Probleme damit.) Mit der Zweistaatenlösung schien sich eine Lösung anzubieten, mit der sowohl ein palästinensischer Staat als auch der Fortbestand Israels als jüdischer und demokratischer Staat ermöglicht würde.
Jetzt hat Israel jedoch eine Zweistaatenlösung unmöglich gemacht, durch den Siedlungsbau in der Westbank und die Weigerung, den Palästinensern Ost-Jerusalem als Hauptstadt zuzugestehen. Solange die israelische Politik de facto die Politik verfolgt, dass es im historischen Palästina nur einen Staat geben darf, ist es unangemessen, die palästinensischen Forderungen nach Gleichberechtigung in diesem Staat als antisemitisch zu bezeichnen. Wenn die israelische Regierung einen palästinensischen Staat als einen lächerlichen Wunschtraum betrachtet, können wir anderen nicht so tun, als sei ein solcher Staat das einzig legitime Ziel palästinensischer Politik.
Zeitweise habe ich denen zugestimmt, die die Fixierung der Kritik der Linken auf Israel als unverhältnismäßig ansehen. Aber das häufig vorgebrachte Argument, dass andere Völker mehr leiden als die Palästinenser, kann auch nur ein aggressives Ablenkungsmanöver sein, mit dem Ziel, die Sonderrolle der USA als Schutzmacht Israels zu kaschieren.
In einem Gastkommentar im Wall Street Journal hat der US-Außenminister in der vergangenen Woche die enger werdenden Kontakte Saudi-Arabiens mit Israel als Begründung dafür angeführt, dass die USA das Verhältnis zu Saudi-Arabien nicht verschlechtern wollen, trotz der Ermordung des Journalisten Jamal Kashoggi. Wenn die Trump-Administration unsere Allianz mit Israel als Vorwand benutzt, grundlegende Werte aufzugeben, haben die Amerikaner ganz bestimmt das Recht, diese Allianz einer eingehenden Überprüfung zu unterziehen.
Unterdessen ist Israel immer mehr willens, sich mit ausländischen Politikern zu verbünden, die mit seinem illiberalen Nationalismus übereinstimmen – trotz deren feindlicher Gesinnung gegenüber Juden. „In der Vergangenheit hat Israel immer die klare Position vertreten, dass es sich nicht mit politischen Parteien verbündet, mit denen die Juden des Landes einen Kontakt ablehnen.“ schrieb Anshel Pfeffer im letzten Jahr in Haaretz; aber Ministerpräsident Netanyahu habe „diesen Grundsatz aufgegeben“.
Netanyahu pflegt eine besonders enge Beziehung zu dem ungarischen Rechtspopulisten Viktor Orban, dessen Regierung eine Verteufelungskampagne gegen den in Ungarn geborenen jüdischen Milliardär George Soros führt. Anfang Dezember teilte die (von George Soros gegründete) Central European University mit, dass sie nun gezwungen sei, Ungarn zu verlassen. Zudem versucht Netanyahus Büro, mit Ungarn einen Kompromiss über das Konzept eines Museums auszuhandeln, das – wie viele befürchten – die Rolle Ungarns beim nationalsozialistischen Völkermord an den Juden schönreden könnte und Israel seinen Stempel unter eine modifizierte Form eines Holocaust-Revisionismus setzen lassen würde.
Netanyahu scheint also zu verstehen, dass pro Israel und pro jüdisch zu sein nicht dasselbe ist. Liberale amerikanische Juden, insbesondere jüngere, ziehen gerade dieselbe Lehre. Einige stramme Zionisten sind schlecht für die Juden – zum Beispiel Steve King, republikanischer Kongressabgeordneter aus Iowa, der seine Unterstützung für Israel geltend macht, wenn er wegen seines unverhohlenen weißen Nationalismus zur Rede gestellt wird. Parallel dazu werden Menschen mit einem kompromisslosen Engagement zur pluralistischen Demokratie zwangsläufig Kritiker des heutigen Israel sein. Dieses Engagement macht sie jedoch zu den natürlichen Verbündeten der Juden überall sonst.