Außer Kontrolle geratene Siedler oder staatliche Gewalt?
Die Gewalt der Siedler im Westjordanland hat stark zugenommen, insbesondere nachdem ein erfolgloser Einmarsch israelischer Soldaten in Jenin außer Kontrolle geraten ist. Die Siedler haben eine Reihe von Pogromen gegen palästinensische Städte und Dörfer verübt, wobei sie vom Militär geschützt wurden. Diese Angriffe machen deutlich, dass die Gewalt der Siedler nicht darauf zurückzuführen ist, dass die Regierung die Kontrolle über einige brutale Siedler verloren hat, sondern dass die Siedler die Kontrolle über die Regierung übernommen haben.
In diesem Sommer haben die Gewalt von Siedlern im Westjordanland und brutale militärische Angriffe auf Zivilisten erheblich zugenommen. In der dritten Juniwoche wurden 85 Angriffe durch bewaffnete Siedler registriert. Israelische Soldaten wurden dabei beobachtet, wie sie entweder an der Seite der Siedler an den Angriffen teilnahmen oder die Angreifer begleiteten und sie schützten, während diese Zivilisten angriffen, Eigentum zerstörten und die Bevölkerung terrorisierten.
Brennende Felder in dem Dorf Lubban Al-Sharqiyah. Quelle: 2023, Twitter.
Die aktuelle Runde der Gewalt begann in Jenin, einer Stadt mit einem Flüchtlingslager, das zu einem Symbol des palästinensischen Widerstands gegen die Besatzung geworden ist und in dem die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) die Kontrolle verloren hat. Ein gepanzerter israelischer Konvoi drang am 18. Juni in das Flüchtlingslager in Jenin ein, wurde jedoch durch einen improvisierten Sprengsatz gestoppt. Acht israelische Soldaten wurden verletzt. Die israelische Armee hatte nicht damit gerechnet, dass die palästinensischen Verteidiger von Jenin in der Lage sein würden, einen so starken Sprengsatz zu platzieren, ohne vom israelischen Geheimdienst oder von Überwachungsdrohnen entdeckt zu werden. Um die eingeschlossenen Soldaten aus Jenin zu befreien, setzte Israel einen Apache-Kampfhubschrauber ein und beschoss das gesamte Gebiet wahllos, unter anderem mit Raketen, wobei mehr als 100 Menschen verletzt und sechs getötet wurden. Die israelische Armee hatte Apache-Hubschrauber seit etwa zwanzig Jahren nicht mehr in Kampfeinsätzen eingesetzt. Journalisten vor Ort berichteten Al Jazeera, dass auch mehrere Kollegen während der Razzia von israelischen Soldaten beschossen wurden, die in der Nähe des Ortes stattfand, an dem die Journalistin Shireen Abu Akleh im Mai 2022 von einem israelischen Scharfschützen ermordet wurde (siehe BIP-Aktuell #230).
Als Reaktion auf den Angriff in Jenin gab es am 19. Juni einen palästinensischen Angriff auf die illegale Siedlung Eli, tief im besetzten Westjordanland. Eli liegt zwischen Ramallah und Nablus. Nach internationalem Recht ist die Errichtung von zivilen Siedlungen in einem besetzten Gebiet ein Kriegsverbrechen. Zwei Palästinenser griffen eine Tankstelle an, töteten vier Siedler und verletzten vier weitere, bevor sie selbst getötet wurden. Die Siedler an der Tankstelle kann man kaum als Zivilisten bezeichnen, da sie bewaffnet waren und das Feuer erwiderten, aber sie waren auch keine Soldaten in Uniform.
Obwohl die Angreifer getötet wurden, begannen die Siedler eine Reihe von Racheangriffen. Zunächst stürmten Siedler am 20. Juni das Dorf Al-Lubban Al-Sharqiya, auf dessen Land die Siedlung Eli errichtet wurde. Sie brannten Häuser und Autos nieder und verletzten fünf Palästinenser durch Schüsse. Am nächsten Tag griffen Siedler das Dorf Turmus Ayya an, das einige Kilometer südlich von Eli liegt. Sie stürmten den Ort und brannten Häuser und Autos nieder. Ein Mann wurde von den Siedlern erschossen. Weniger als eine Woche später kehrten die Siedler zurück und setzten die Ernten von Turmus Ayya in Brand. Kurz darauf kam es zu zwei weiteren Pogromen in Urif und Umm Safa, die den Radius der Gewalt und Zerstörung um Eli immer weiter ausdehnten, da Urif weiter nördlich und näher an Nablus liegt und Umm Safa südwestlich von Eli in der Nähe der palästinensischen Stadt Rawabi.
Die extreme Rechte in Israel geht noch weiter und ruft zu einer Militäroperation im Westjordanland auf, um den palästinensischen Widerstand zu brechen, aber es gibt auch starke Stimmen von Soldaten, die den Befehl verweigern wollen (Quelle auf Hebräisch).
Der Aufstand der Wagner-Gruppe in Russland hat in Israel eine heftige Diskussion über den Unterschied zwischen bewaffneten staatlichen Organisationen wie dem Militär und paramilitärischen Organisationen wie der Wagner-Gruppe ausgelöst.
So schrieb der Haaretz-Journalist Odeh Bisharat einen kritischen Artikel gegen die Gewalt der Siedler, in dem er die bewaffneten Siedlergruppen als „israelische Wagner-Truppen“ bezeichnete und davor warnte, dass sich die Siedler gegen die israelische Regierung auflehnen könnten – so wie sich die Wagner-Gruppe gegen die russischen Machthaber auflehnte.
Der israelische Oberbefehlshaber des Militärs, der Oberbefehlshaber der Polizei und der Chef der Geheimpolizei (Shin Bet) gaben eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie die Siedler und ihre Angriffe verurteilten. Daraufhin gab die Ministerin für Siedlungen und nationale Aufgaben Orit Stroock von der Partei des religiösen Zionismus (siehe BIP-Aktuell #236) ein Interview und verglich die drei Männer mit der Wagner-Gruppe. Stroocks Aussage kommt der Wahrheit näher als der Artikel von Bisharat. Denn Finanzminister Bezalel Smotrich sagte in Bezug auf das Huwara-Pogrom (siehe BIP-Aktuell #249): „Wir (die Siedler, d.Verf.) sind jetzt der Staat“ (Quelle auf Hebräisch). Es sind nicht die Siedler, die sich gegen die Regierung auflehnen, sondern die Siedler bestimmen die Regierungspolitik, während das Militär in seiner Loyalität gegenüber einem gewalttätigen und rechtsextremen Regime gespalten ist. Eine Erklärung der Organisation Breaking the Silence „Settler Violence Isn’t an Anomaly. It’s Policy“ lieferte umfangreiche Beweise dafür, dass die Siedler in der Tat den Anweisungen der israelischen Regierung folgen. In der illegalen Siedlung Itamar sagte der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, der selber als Siedler in der Siedlung Kiryat Arba bei Hebron lebt und den Terroristen Baruch Goldstein verehrt, der 1994 beim Massaker in der Ibrahim-Moschee in Hebron 29 palästinensische muslimische Gläubige massakrierte und 125 weitere verletzte: „Wir müssen das Land Israel besiedeln und eine Militäroperation einleiten – Gebäude abreißen und Terroristen töten, nicht einen oder zwei, sondern Dutzende und Hunderte, wenn nötig sogar Tausende.“ Da Ministerpräsident Netanjahu sich davon nicht distanziert hat, ist davon auszugehen, dass Ben-Gvir die Auffassung der israelischen Regierung vertritt.
Soldaten und bewaffnete Siedler koordinieren ihre Aktionen. Quelle: 2021, B’tselem.
Die Angriffe der Siedler wurden in den USA scharf verurteilt. Die EU dagegen veröffentlichte nur eine schwache Verurteilung, in der sie die Schuld gleichermaßen den Okkupanten und den Besetzten zuschrieb. Auch deutsche Zeitungen (FAZ, SZ, TAZ) berichteten über die Pogrome. Mit Ausname des Berichtes von Peter Münch in der SZ haben auch die deutschen Zeitungen keinen Unterschied zwischen Täter und Opfer gemacht. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu prangerte die Angriffe an und forderte die Siedler auf, „sich nicht illegal Land anzueignen“, aber seine Erklärung ist nicht mehr als ein Lippenbekenntnis, wenn man bedenkt, dass vier Monate nach dem Pogrom in Huwara noch keine einzige Person wegen eines Verbrechens angeklagt wurde. Die Siedler hören Netanjahus schwache Worte, wissen aber, dass sie unter militärischem Schutz angreifen können und keine rechtlichen Konsequenzen zu befürchten haben (Quelle auf Hebräisch).
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Da sich die Nakba im Jahr 2023 zum 75. Mal jährt, nutzen wir diese Gelegenheit, um eine Liste der von den israelischen Streitkräften ethnisch gesäuberten Dörfer zu veröffentlichen:
https://www.lib-hilfe.de/mat/infos_75jahre/Vertreibungs-Tabelle_30-09-48.pdf
Sowie die Geschichten von Ramle und Lydda, die im Juli 1948 angegriffen wurden:
https://www.lib-hilfe.de/mat/infos_75jahre/Ramle%20und%20Lydda.pdf
BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden.
Gideon Levy schrieb am 25. Juni 2023 in Haaretz unter der Überschrift
Und von wem wird erwartet, die Palästinenser zu schützen?
Es gibt nicht viele Bevölkerungen in der Welt, die so hilflos sind wie die Palästinenser, die in ihrem eigenen Land leben. Niemand schützt ihr Leben und ihr Eigentum, schon gar nicht ihre Würde – und niemand hat die Absicht, dies zu tun. Sie sind ihrem Schicksal als Personen völlig überlassen, ebenso wie ihr Eigentum. Ihre Häuser und Autos können angezündet werden, ebenso ihre Felder. Es ist in Ordnung, sie erbarmungslos zu erschießen, alte Leute und Babies umzubringen – und keine Kräfte zu ihrer Verteidigung an ihrer Seite: Keine Polizei, kein Militär – NIEMAND.
Wenn eine verzweifelte Verteidigungsmacht organisiert wird, wird diese sofort von Israel kriminalisiert. Ihre Kämpfer werden von Israel als „Terroristen“ diffamiert, ihre Aktionen als „Terrorangriffe“, und ihr Schicksal wird besiegelt mit Tod oder Gefängnis als einzige Option.
Mitten in dem ärgsten Chaos, das von der Besatzung geschaffen wurde, ist der Bann der Palästinenser, die sich selbst verteidigen, eine der verrücktesten Regeln; es ist eine akzeptierte Norm, über die nicht einmal geredet wird. Warum ist den Palästinensern nicht erlaubt, sich zu verteidigen? Wer genau sollte das für sie tun? Wenn man von ‚Sicherheit‘ spricht, warum gilt das nur für die Sicherheit Israels? Die Palästinenser haben mehr Opfer durch Angriffe, Blutvergießen, Pogrome und Gewalt – und keine Mittel zur Verteidigung zu ihrer Verfügung.
Innerhalb von drei Tagen der vergangenen Woche wurden 35 Pogrome durch Siedler durchgeführt. Seit dem Anfang dieses Jahres wurden 160 Palästinenser von Soldaten getötet, die überwiegende Mehrheit davon ohne Grund und die meisten als „Kriminaldelikte“: Vom Baby Mohammed Tamini bis zum älteren Herrn Omar As’ad.
Da war niemand, der die Soldaten am wahllosen Schießen gehindert hätte, niemand, der sich mit den Scharfschützen angelegt hätte. Keine israelische Behörde hat nur daran gedacht, hunderte tobende Siedler zurückzuhalten. Durch seine Aktionen und Unterlassungen war die IDF (=Israel Defence Force) Komplize der Pogrome – ebenso wie die Polizei. Die Palästinenser waren ihrem Schicksal überlassen.
Im Stich gelassen mussten die palästinensischen Bewohner hilflos zuschauen, wie die verhassten Siedler ihre Wohnungen, Felder und Autos anzündeten – und haben nicht einmal gewagt zu atmen. Versucht, euch hunderte ekelhafte Gangster vor eurer Haustüre vorzustellen, die alles verbrennen und zerstören, und euch selbst in der Hoffnung, dass sie nicht in euer Haus kommen und eure Kinder verletzen … und nichts dagegen tun zu können, bis sie zuletzt abziehen.
Da ist niemand, den man rufen oder an den man sich um Hilfe wenden kann. Da ist keine Polizei, keine Behörde, und niemand, der Hilferufe hört. Jeder Schritt, der zur Selbstverteidigung unternommen wird, würde als Terrorakt betrachtet werden. Versucht, euch so etwas vorzustellen!
Als die mutigen Kämpfer im Flüchtlingslager Jenin – die viel mutiger sind als die gut geschützten IDF-Soldaten und viel gerechter – versuchten, die Militärinvasion auf das Lager mit ihren weniger wirksamen Waffen aufzuhalten, wurden sie natürlich als Terroristen bezeichnet – und nur ein Schicksal wird sie erwarten.
Die Invasoren handeln also legitim, und derjenige, der sein Leben und sein Eigentum verteidigt, ist ein Terrorist. Die moralischen Kriterien und Regeln sind in ihrer Absurdität unverständlich. Jede Tötung durch einen Soldaten wird als gerecht betrachtet, darunter auch die von Sadil, einem 15jährigen Flüchtlingsmädchen, das in der vergangenen Woche auf dem Dach ihres Wohnhauses getötet wurde. Jedes Schießen auf einen eindringenden Soldaten zur Selbstverteidigung wird als brutaler Akt von Terrorismus betrachtet.
In einer anderen Realität könnte man wenigstens von einer israelisch-jüdischen Streitkraft träumen, die sich mobilisiert, um hilflose Palästinenser zu verteidigen. Man könnte träumen von einer israelischen Linken, die zur Verteidigung ihrer Opfer mobil macht, wie das, was einige bemerkenswerte Personen, darunter einige ganz besondere Juden, getan haben, um mitzuhelfen bei der Verteidigung schwarzer Südafrikaner unter der Apartheid, indem sie mit ihnen kämpften und verwundet wurden und neben ihnen jahrelang eingesperrt waren.
Auch diese Woche werden weitere Palästinenser ohne Grund getötet werden, und ihr Eigentum wird zerstört werden. Kinder werden Betten nässen, wenn sie Angst haben bei jedem Geräusch im Hof, weil sie wissen, dass ihre Eltern nichts tun können, um sie zu schützen. Wieder werden die Palästinenser hilflos im Regen stehen.
Der Eindringling ist legitimiert, und der, welcher sein Leben und sein Eigentum verteidigt, ist ein Terrorist. Die moralischen Kriterien sind unverständlich in ihrer Absurdität.
https://www.haaretz.com/opinion/2023-06-25/ty-article-opinion/.premium/and-who-is-supposed-to-protect-the-palestinians/00000188-f01f-df52-a79d-fc3fab2b0000?utm_source=App_Share&utm_medium=IOS_Native
Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.