Der Geist der Nakba – eine persönliche Betrachtung von Shir Hever
Das vorliegende BIP Aktuell 262 ist in Form und Umfang ungewöhnlich. Nachdem wir in diesem Jahr monatlich über die historischen Ereignisse in den Jahren 1947/48 informiert haben, hat sich die Redaktion entschlossen, einen Vortrag von Dr. Shir Hever zu veröffentlichen, den der Autor am 24.5.2023 in Bonn gehalten hat. Er analysiert die Bedeutung der Nakba für Palästinenser, Israelis und Deutsche im Zusammenhang mit seinen persönlichen Erfahrungen.
Die Geschichte der Nakba ist nicht meine Geschichte. Ich bin kein Palästinenser, ich habe diese Schrecken nicht erlebt. Ich bin in Israel, in Jerusalem, aufgewachsen und habe die Nakba erst in einem langsamen Prozess kennengelernt, der mich viel mehr über die israelische Gesellschaft und ihre Fähigkeit, Geschichte zu verdrängen gelehrt hat als über die palästinensische Geschichte. Darüber werde ich hier schreiben.
Als ich in Jerusalem aufwuchs, habe ich das Wort Nakba nicht ein einziges Mal gehört. Ich bin in einer linken, kritischen Familie aufgewachsen, und meine Eltern haben die Frage diskutiert, ob die palästinensischen Flüchtlinge 1948 aus eigenem Antrieb geflohen sind oder ob sie gewaltsam deportiert wurden.
Die Osloer Abkommen erfüllten die liberalen Zionisten, auch meine Familie, mit großer Hoffnung. Quelle: Das Weiße Haus, 1993, Wikipedia.
Meine Großmutter väterlicherseits erzählte mir einmal, dass sie und ihre Familie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs aus Polen fliehen mussten, aber nach dem Krieg konnten sie nach Polen zurückkehren und ihre Pässe und ihren Besitz zurückerhalten. Sie sagte: „Ich verstehe nicht, warum wir zurückkehren durften, aber die palästinensischen Flüchtlinge nicht.“ Für die Israelis meiner Generation ist die Behauptung, dass die Palästinenser:innen geflohen sind und nicht vertrieben wurden, häufig eine Rechtfertigung dafür, ihnen die Rückkehr zu verweigern.
In den 1990er Jahren gab es den Osloer Friedensprozess, und viele Israelis dachten, dass der Frieden erreicht wird, wenn nur eine Grenze gezogen wird. Die Palästinenser:innen würden in ihrem eigenen kleinen Staat leben, und es wird keinen Grund mehr für einen Kampf geben. Wenigen Israelis war bewusst, dass zwei Drittel der Palästinenser:innen im Gazastreifen Flüchtlinge sind, deren Eltern oder Großeltern aus Städten und Dörfern stammen, die im Krieg von 1948 von den israelischen Streitkräften zerstört wurden. Für diese sind eine Grenze und ein Staat natürlich nicht das Ende des Unrechts.
Samstags ging meine Familie gerne in den Jerusalemer Wald, der rund um das Museum Yad Vashem wächst. Als Kind dachte ich, es sei ein natürliches Phänomen, dass der Wald auf Stufen wächst, denn es gibt keine Schilder, die erklären, dass es sich dabei um Terrassen der palästinensischen Landwirtschaft in dem zerstörten palästinensischen Dorf Deir Jassin handelt. Das Massaker von Deir Yassin, eines der schrecklichsten Ereignisse der Nakba, wird totgeschwiegen, das Massengrab der Opfer ist nicht gekennzeichnet.
Da ich keinen Militärdienst geleistet habe, war ich während der zweiten Intifada Student. An der Universität habe ich auch etwas über die sogenannten neuen israelischen Historiker gelernt. Die israelischen Archive waren 30 Jahre lang verschlossen, so dass die Dokumente über den Krieg von 1948 erst im Jahr 1978 für Forscher zugänglich wurden. Ich spreche nur von den israelischen Dokumenten, denn die Palästinenser:innen haben der Welt von Anfang an von ihren Erfahrungen berichtet, aber man hat ihnen nicht geglaubt. Als israelische Historiker in den 1980er und 1990er Jahren begannen, nach der Öffnung der Archive ihre Forschungsergebnisse zu veröffentlichen, kamen die ersten Informationen ans Licht.
Der Wegbereiter ist Prof. Dr. Benny Morris, der von der „Frage der palästinensischen Flüchtlinge“ spricht, wenn er über die Nakba schreibt. Morris hat das Ausmaß der von den israelischen Streitkräften im Jahr 1948 begangenen ethnischen Säuberungen aufgezeigt, aber seine politische Meinung zu diesen ethnischen Säuberungen ist positiv. Seiner Meinung nach hätten keine Palästinenser:innen zurückbleiben dürfen, denn die Schaffung eines rein jüdischen Staates wäre eine bessere Idee gewesen.
Andere unter den New Historians, Ilan Pappe, Avi Shlaim, Tom Segev, Simcha Flapan und einige andere, stimmten mit Morris zwar in den Fakten überein, nicht aber in der politischen und moralischen Schlussfolgerung. Hier in Deutschland wurden palästinensische Stimmen ignoriert und zum Schweigen gebracht, aber es war schwieriger, die Stimmen prominenter jüdischer Historiker zum Schweigen zu bringen, deren Bücher sich auf Dokumente aus den israelischen Archiven stützten. Die Nakba war nicht länger ein Wort, das nur intern von Palästinenser:innen verwendet wurde, sondern eine wissenschaftliche Tatsache. Jetzt glaubte ich, die Nakba verstanden zu haben.
Einer dieser neuen Historiker heißt Professor Dr. Eyal Naveh. Naveh ist Zionist, er schrieb ein Schulbuch über die Geschichte Israels und fügte ein sehr kleines Kapitel, eine Seite und ein Bild, über die Nakba und die palästinensischen Flüchtlinge hinzu. Bildungsministerin Limor Livnat vom Likud ordnete nicht nur an, dass sein Buch aus dem Lehrplan gestrichen wird, sondern auch, dass die Bücher physisch zerstört wurden. Eyal Naveh erhielt Todesdrohungen. Naveh fragte in einer Fernsehdebatte: „Sollen wir die Kinder anlügen?“ und die Antwort seines Diskussionspartners Aharon Meged war: „Ja.“
Nachdem ich diese Fernsehdebatte gesehen hatte, sprach ich mit meinem Vater darüber, der damals selbst Professor an der Universität Tel Aviv war. Er sagte mir, dass er den Büchern, die Palästinenser:innen über die Nakba geschrieben haben, am Anfang nicht glaubte, weil ihm, wie mir, in der Schule eine Version der Geschichte beigebracht wurde, die diese Geschichte auslöscht. Aber mein Vater war damit nicht zufrieden. Er wollte mit seinem Schwiegervater, meinem Großvater mütterlicherseits, sprechen, der 1948 bei der Palmach kämpfte, der paramilitärischen Elitemiliz der Arbeitspartei. Mit meiner Mutter, seiner Tochter, hat er nicht über den Krieg gesprochen. Sie erzählte mir, dass er manchmal mitten in der Nacht schreiend aufwachte, weil er vom Krieg traumatisiert war, aber in ihren Augen war er ein Held, der in schwierigen Schlachten kämpfte.
Mit meinem Vater, seinem Schwiegersohn, konnte er freier sprechen, denn mein Vater war Soldat gewesen und hatte im Krieg von 1973 gekämpft. Er sagte meinem Vater, dass alles, was die Palästinenser:innen über den Krieg von 1948 behaupten, wahr sei. Dass er selbst an dem Massaker in Lyd, dem heutigen Lod, teilgenommen hatte. Achttausend Palästinenser:innen wurden mit vorgehaltener Waffe zu Fuß aus Lyd ins Westjordanland getrieben, aber die Kranken, die Alten und die schwangeren Frauen konnten nicht so lange marschieren und flüchteten in die Moschee der Stadt. Die Palmach-Einheiten brannten die Moschee mit den darin befindlichen Menschen nieder.
Dann fanden sie eine Gruppe von Palästinensern, die sich zu verstecken versuchten, und zwangen sie, Gräber auszuheben. Zweimal. Gräber für die Leichen aus der Moschee und dann auch Gräber für sich selbst.
Mein Großvater glaubte wie Benny Morris, dass diese Dinge notwendig waren. Mein Vater wartete, bis mein Großvater gestorben war, bevor er mir diese Geschichte erzählte. Jetzt glaubte ich zu verstehen, worum es bei der Nakba ging und was das Schweigen darüber verdeckt: Es geht um die Verbrechen, die 1948 begangen wurden.
Ich engagierte mich in einer israelischen Organisation namens Zochrot für das Gedenken an die Nakba. Zochrot bedeutet auf Hebräisch „Frauen, die sich erinnern“. Ich erfuhr, wie Zochrot versuchte, Schilder aufzustellen, um die Menschen daran zu erinnern, wo sich bis 1948 palästinensische Dörfer befanden und wie die Straßennamen lauteten, bevor sie in Herzlstraße oder Zionismusstraße umbenannt wurden.
Zochrot hat eine Karte veröffentlicht, auf der die Namen aller zerstörten palästinensischen Städte und Dörfer verzeichnet sind. Als ich mir die Karte ansah, wurde mir klar, dass ich überhaupt nicht verstanden hatte, worum es bei der Nakba ging. Es ging nicht nur um den Jerusalemer Wald, sondern um jeden Schritt in meinem Leben. Meine Schule, mein Zivildienstjahr in Sderot, das Haus der Familie meiner Partnerin, meine Universität, mein Lieblingsrestaurant, mein Lieblingsstrand – jeder Ort war einmal ein palästinensisches Viertel oder ein Dorf.
Die bröckelnden Mauern der Parkhäuser in Jerusalem waren früher Moscheen. Das Haus des Premierministers gehörte früher einem wohlhabenden palästinensischen Geschäftsmann. Die Nakba ist nicht etwas, das 1948 geschah, sie ist etwas, das jetzt geschieht, jeden Tag. Auch wenn die israelischen Behörden alle Schilder, die Zochrot aufstellt, entfernen, können sie das Gespenst des geistigen Lebens der Palästinenser:innen, die auf ihre Rückkehr warten, nicht vertreiben, das immer noch überall in Israel präsent ist
Ich bin der Überzeugung, dass die Nakba die israelische Gesellschaft ebenso geprägt hat und sie weiter verfolgt, so wie die kolonialen Siedlergesellschaften in Nordamerika und Australien von der Erinnerung an die indigene Bevölkerung verfolgt werden, die dort durch Völkermord vernichtet wurde.
Während des Krieges von 1948 sendeten israelische, nicht palästinensische Radiosender Berichte über Massaker und Massenvergewaltigungen, die von den israelischen Streitkräften an Palästinenser:innen verübt wurden, um diese zur Flucht zu bewegen.
Das Manshiya-Viertel in Jaffa vor der Zerstörung. Quelle: Zochrot.
Über die Behauptung, dass die Araber die Juden ins Meer werfen wollen, gibt es mehrere historische Studien, die tatsächlich Beweise dafür liefern, dass die Forderung „Werft die Juden ins Meer“ zuerst von Führern der zionistischen Milizen und der israelischen Regierungen geäußert wurde. Es ist fraglich, ob Gamal Abdel Nasser dies auch gesagt hat, aber der früheste nachweisbare Beleg für diese Aussage stammt von Yitzhak Shamir, der ein Attentäter und Terrorist und später Ministerpräsident Israels für die Likud-Partei war.
Meiner Meinung nach glaubte Shamir wirklich, dass die Araber die Juden ins Meer werfen wollten. Er hat diese spezielle Bedrohung nicht einfach erfunden. Er hätte auch sagen können: „Die Araber wollen die Juden in Gaskammern töten“, aber das hat er nicht gesagt. Warum also dies „Werfen ins Meer“?
Die Antwort liegt in der Geschichte von Haifa und Jaffa. Aber zuvor möchte ich von Jerusalem berichten. In der Jaffa-Straße in Jerusalem gibt es einen berühmten Platz, den Davidka-Platz. Es ist die Statue eines Mörsers, einer Waffe, die von den zionistischen Milizen entwickelt und im Krieg von 1948 eingesetzt wurde, eine sehr laute, ungenaue Waffe, die Angst und Panik erzeugt, aber gegen militärische Ziele nicht wirksam ist. 1948 setzten Palmach-Soldaten in Haifa Davidka-Mörser ein, um die palästinensische Bevölkerung zu veranlassen, ihre Häuser schnell zu verlassen und sie in Richtung Meer zu treiben. Die britische Armee, die sich noch in Haifa befand, organisierte Boote, um die ins Meer getriebenen Palästinenser:innen zu retten.
Eine ähnliche Szene spielte sich in Jaffa ab. Dort setzte die Palmach schwere Maschinengewehre und keine Mörser ein. Die Menschen flüchteten in die einzige Richtung, die ihnen offenstand – in Richtung Meer, und auch hier organisierten die Briten Boote, die die Flüchtlinge nach Gaza brachten, und einige wenige fuhren weiter nach Ägypten.
Einer der Palästinenser, die nach Ägypten getrieben wurden, ist ein Freund von mir, ein palästinensischer Jude aus Jaffa. Er kam nach Deutschland, um als Arzt zu arbeiten. Es war für mich schwer zu verstehen, dass ein Jude ein Opfer der Nakba sein konnte. Ich fragte ihn: „Warum hast du den Palmach-Soldaten nicht gesagt, dass du Jude bist, damit sie dich nicht deportieren?“ Er war damals vier Jahre alt, aber sein Vater hätte mit den Palmach sprechen können. Mein Freund schaute mich an und sagte: „Kannst du dir diese Situation vorstellen, dass deine Freunde und Nachbarn zusammengetrieben und ins Meer getrieben werden, und dass du vortrittst und sagst: Ich gehöre nicht zu dieser Gruppe, zu den Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin, zu meinen Nachbarn, denn ich bin Jude und sie sind es nicht, also könnt ihr sie rausschmeißen, aber ich will bleiben?“ Ich gebe zu, dass ich mich für diese dumme Frage sehr geschämt habe.
Das Viertel an der Küste von Jaffa hieß Manshiya. Nachdem die Menschen vertrieben worden waren, kamen Bulldozer und stießen die Häuser ins Meer – ein weiterer symbolischer Akt, um die Araber ins Meer zu werfen. Man kann heute an die Küste von Jaffa gehen und die Steine im Wasser sehen. Die Einwohner von Jaffa nennen ihn „den Strand der Häuser“. In einigen Fällen übernahmen die israelischen Streitkräfte die Häuser und übergaben sie an jüdische Einwanderer. Manchmal wurden die Häuser aber auch zerstört. Sie fürchteten, dass die Spukhäuser von der Geschichte der Palästinenser heimgesucht würden.
Diese Geschichte ist ein Beispiel dafür, was es bedeutet, Angst davor zu haben, von Geistern heimgesucht zu werden. Yitzhak Shamir und viele andere Israelis wussten, was in Haifa und in Jaffa geschehen war. Sie wussten, dass sie sich schuldig gemacht hatten, Palästinenser:innen ins Meer zu werfen, und sie werden von einem Gespenst der Schuld heimgesucht – eines Tages könnten sie selbst auf die gleiche Weise ins Meer geworfen werden, eine angemessene Strafe für diesen Akt der Brutalität.
Die Nakba ist ein Verbrechen, das von der israelischen Gesellschaft nicht aufgearbeitet wurde, und deshalb vermischt sich die Schuld mit Angst. Und Angst führt zu mehr Gewalt, und Gewalt führt zu Schweigen.
Israels erster Premierminister David Ben-Gurion, der 1948 die israelischen Streitkräfte befehligte und den Befehl zur Zerstörung von Städten und Dörfern und zur Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung gab, sagte, dass „die Alten sterben und die Jungen vergessen werden“. Er glaubte, dass die ethnische Säuberung Fakten schaffen und unumkehrbar sein werde. Die Israelis haben versucht, die Nakba zu vergessen, aber sie können es nicht. Die Palästinenser:innen haben die Nakba natürlich nicht vergessen, und die Familien besitzen immer noch die Schlüssel zu den Häusern, die sie bei der Vertreibung verloren haben.
Die Palästinenser:innen verwenden die Schlüssel als Ausdruck und Mittel ihres Protestes und fordern nicht nur ein Ende der Besatzung, sondern auch ein Recht auf Rückkehr, wie es in der Resolution 194 der UN-Generalversammlung vorgesehen ist. Der israelische Premierminister Netanjahu warnte 2009, dass der Schlüssel, den die Palästinenser:innen im Dorf Bilin behalten haben – im besetzten Westjordanland, wo die Trennmauer den größten Teil des Landes des Dorfes einnimmt – nicht der Schlüssel zu einem Haus in Bilin sei, sondern zu den Häusern, die sie in Israel verloren haben.
Damit gab Netanjahu zu, dass er die Nakba verstanden hat und weiß, dass die Palästinenser:innen nicht vergessen haben. Netanjahus Erklärung untergrub die Strategie aller israelischen Regierungen, die Existenz der Nakba zu leugnen, aber als Populist wollte Netanjahu die Angst schüren und nutzen, um Unterstützung in der israelischen Öffentlichkeit zu gewinnen.
Aufgrund des Gefühls des Spuks haben viele Israelis Angst vor einem Klopfen an der Tür – dass plötzlich eine palästinensische Familie vor ihrer Tür steht und ihr Haus zurückfordert. Diese Angst ist nicht nur bei Israelis verbreitet. Polen, das bis 1939 die größte jüdische Gemeinde der Welt beherbergte, fürchtet bis heute eine massenhafte Rückkehr von Jüd:innen, die ihr Eigentum zurückfordern und hat im vergangenen Jahr ein Gesetz nach israelischem Vorbild erlassen, mit dem jüdisches Eigentum rückwirkend beschlagnahmt werden kann, so wie es das israelische Recht mit palästinensischem Eigentum macht.
Im Jahr 2011 unternahm das israelische Parlament, die Knesset, einen weiteren Versuch, die Nakba aus dem Gedächtnis zu streichen. Es erließ das berüchtigte „Nakba-Gesetz„, das es der Regierung erlaubt, Einzelpersonen oder Organisationen, die der Nakba gedenken, öffentliche Mittel zu verweigern. Palästinensische Städte, selbst innerhalb Israels, erhalten keine öffentlichen Mittel für Infrastruktur und Bildung, wenn sie Veranstaltungen zum Gedenken an die Zerstörung von 1948 durchführen. Kinos, die Filme über die Nakba zeigen, können keine staatlichen Mittel erhalten, und an Universitäten darf nicht über die Nakba gelehrt werden.
Das Gesetz hatte natürlich den gegenteiligen Effekt. Jeder Israeli, der bis 2011 nicht wusste, was die Nakba war, wusste es nach 2011 ganz genau. Universitäten, Kinos und palästinensische Gemeinden ignorierten das Gesetz, und die Nakba wurde Teil des israelischen Diskurses.
2011 veröffentlichte eine rechtsextreme israelische Organisation namens Im Tirzu eine Broschüre, in der die Nakba geleugnet und als „die größte arabische Lüge der Geschichte“ bezeichnet wird (Quelle auf Hebräisch). Die Broschüre wurde von der israelischen Öffentlichkeit nicht gut aufgenommen, da die offene Leugnung der Nakba sofort als ein Instrument angesehen wurde, das dieselbe Sprache und dieselben Argumente verwendet, die von rechtsextremen Organisationen zur Leugnung des Holocausts eingesetzt werden. Es wurde aufgedeckt, dass rechtsextreme evangelikale Pastoren die Organisation Im Tirzu finanzieren, darunter John Hagee, der US-Pastor, der sagte, dass Adolf Hitler „Gottes Werk“ vollbracht habe, indem er die Jüd:innen aus Europa in den Nahen Osten vertrieb und damit das Armageddon und das zweite Kommen Christi näher rücke (Quelle auf Hebräisch).
Der Versuch von Im Tirzu, die Nakba zu leugnen, ist gescheitert, und so hören wir in den letzten Jahren, insbesondere im letzten Jahr, immer mehr israelische Politiker, die die Nakba anerkennen und sie benutzen, um den Palästinenser:innen zu drohen.
So rief Bezalel Smotrich, der Vorsitzende der Partei des religiösen Zionismus und jetzt israelischer Finanzminister, im Oktober 2021 den wenigen palästinensischen Mitgliedern der Knesset zu: „Ihr seid nur deshalb hier, weil Ben-Gurion 1948 die Arbeit nicht abgeschlossen hat.“
Viele linke Aktivist:innen, insbesondere jüdische Aktivist:innen, haben die Frage aufgeworfen, wie es möglich sein kann, dass Jüd:innen, die so sehr unter den Nazis in Europa gelitten haben, nur drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Palästinenser:innen mit solcher Brutalität töten, vertreiben und enteignen konnten.
Diese Frage wird oft im Zorn gestellt, und viele Menschen wollen sie nicht beantworten, weil sie die Frage an sich als eine Form der Gleichsetzung des Holocaust mit der Nakba betrachten.
Ich versuche, diese Frage sachlich zu beantworten: Mein Vater hat als Professor für Literatur umfangreiche Recherchen über die Kriegs-Dichter angestellt, die 1948 in der Palmach und den anderen zionistischen Milizen gekämpft hatten. Er studierte Poesie und hat zwei Bücher über die Erwähnung der Nakba in Gedichten jüdischer Kämpfer geschrieben. Er fand gemischte Gefühle und häufige Vergleiche zwischen dem Holocaust und der Nakba.
Aba Kovner, der die Ermordung von sechs Millionen Deutschen als ultimativen Racheakt plante und sogar das dafür nötige Gift sammelte, im letzten Moment jedoch von Ben-Gurion und dem israelischen Geheimdienst gestoppt wurde, beschrieb in seinem Gedicht „Guernica auf jedem Hügel“ den Krieg von 1948 – er verglich seine eigene Seite mit den Faschisten und die von den Nazis im Spanischen Bürgerkrieg angerichtete Zerstörung mit der Zerstörung Palästinas. Wie er, so beschrieben viele der Milizionäre in ihren Gedichten ihre brutalen Taten gegen die Palästinenser:innen als Racheakte, aber das Ziel der Rache wurde falsch verortet. Da sie keine Nazis töten konnten, töteten sie Palästinenser:innen.
Und das hat zu einem sehr seltsamen und interessanten Phänomen geführt: Palästinenser:innen, die den Holocaust studieren. Der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas schrieb seine Doktorarbeit über den Holocaust und bedauerte später, dass er diesen Völkermord in seiner Forschung nicht ernst genug genommen hatte, und bezeichnete den Holocaust als das schlimmste Verbrechen in der modernen Geschichte der Menschheit.
Jedes Jahr am israelischen Holocaust-Tag werden in der Knesset Reden gehalten. Viele jüdische Israelis sind sich einig, dass die beste Rede, die je über den Holocaust gehalten wurde, überraschenderweise von einem Palästinenser gehalten wurde, nämlich von dem Mitglied der Knesset Ahmed Tibi im Jahr 2010. Tibi versuchte nicht, sein Mitgefühl für die Opfer des Holocaust zu nutzen, um Mitgefühl für die Palästinenser:innen oder um Verständnis für die Opfer der Nakba zu bitten. Seine Rede war einfach und direkt und konzentrierte sich auf den Holocaust als ein Verbrechen an den Jüd:innen.
Basam Aramin vom Parents Circle, der zusammen mit Rami Elhanan einige Male in Deutschland gesprochen hat – beide Männer haben ihre Töchter durch Gewalt verloren – hat seine Magisterarbeit über den Holocaust geschrieben.
Ali Abunimah, der Herausgeber der Website Electronic Intifada, ist eine der klarsten Stimmen gegen Antisemitismus. In einem Interview mit der Deutschen Welle sagte er letztes Jahr, dass Deutschland die Verantwortung für die an Jüd:innen begangenen Verbrechen übernehmen sollte, anstatt von den Palästinenser:innen zu erwarten, dass sie den Preis für die von den Nazis begangenen Verbrechen zahlen. Warum liefert Deutschland wegen seiner Schuldgefühle gegenüber dem Holocaust Waffen an Israel, die gegen Palästinenser:innen eingesetzt werden? Die Deutsche Welle hat das Interview zensiert – Gewalt verursacht Schweigen.
Ich bin erstaunt, dass in Deutschland, das behauptet, die Erinnerungskultur zu respektieren, die israelisch-palästinensische Geschichte so einfach geleugnet, vergessen und ausgelöscht werden kann. Die Entscheidung der Berliner Polizei, Nakba-Veranstaltungen in Berlin zu verbieten, ist skandalös. Es spielt keine Rolle, ob der Holocaust mit der Nakba vergleichbar ist oder nicht. Wichtig ist, dass es sich um die Geschichte von Menschen handelt, die Opfer einer großen Ungerechtigkeit wurden. Diese Menschen, ob Jüd:innen oder Palästinenser:innen, haben das Recht, sich bei öffentlichen Zeremonien an ihre Geschichte zu erinnern, dessen zu gedenken, was sie verloren haben, seien es Familienmitglieder oder ihr Land und ihre Häuser.
Die Berliner Polizei entschied im letzten Jahr, Nakba-Veranstaltungen zu verbieten, und griff sogar in einem Akt von racial profiling Menschen an, die palästinensische Symbole zeigten, gerade als ein hoher israelischer Polizeibeamter, Doron Turgeman, in Berlin war und ein Seminar für die Berliner Polizei gab. Turgeman befehligt die israelische Polizei im besetzten Ost-Jerusalem und gab den Befehl, die Beerdigung der berühmten palästinensischen Journalistin Shireen Abu-Akleh, die von israelischen Soldaten ermordet worden war, gewaltsam zu stören.
Wenn wir von einer Erinnerungskultur sprechen, hier in Deutschland oder irgendwo auf der Welt, dann müssen wir uns fragen – Erinnerung zu welchem Zweck? Ein Grund ist die Forderung nach Gerechtigkeit, nach Entschädigung. Die Palästinenser:innen wollen die Anerkennung des Unrechts der Nakba, weil sie das Recht haben wollen, in ihre Häuser und auf ihr Land zurückzukehren.
Die Berliner Polizei verhaftet einen Palästinenser. Quelle: Instagram.
Aber als Menschen haben wir alle, nicht nur die Palästinenser:innen, auch ein Interesse daran, uns an die Nakba zu erinnern und das Verbrechen anzuerkennen, denn die Anerkennung von Unrecht in der Vergangenheit ist ein wesentlicher Bestandteil für unsere Bemühungen, Unrecht in Zukunft zu verhindern. Wir haben angesichts der ethnischen Säuberung Palästinas geschwiegen, und die Verbrecher wurden nie bestraft. Als Millionen von Flüchtlingen aus Darfur, Eritrea, Syrien und jetzt aus der Ukraine vertrieben wurden, konnten die Verbrecher, die Krieg und ethnische Säuberung betreiben, davon ausgehen, dass sie ungestraft davonkommen würden.
Wenn die palästinensischen Flüchtlinge zurückkehren dürfen, werden auch die Israelis endlich von der Angst vor dem Klopfen an der Tür befreit sein, und die Gespenster werden schließlich Ruhe finden.
Anmerkung der Redaktion: Einige der vom Autor besprochenen Ereignisse, z.B. die Aktionen von Zochrot sowie die Rede von Netanjahu über Bilin können Sie eindrucksvoll im Dokumentarfilm „On the Side of the Road“ (mit deutschen Untertiteln) von Lia Tarachansky nachverfolgen. Sie hat den Film zur Präsentation in Solidaritätsgruppen unentgeltlich freigegeben.
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Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.
4 Kommentare
Ich bin als Palästinenser sehr dankbar für diesen Vortrag. Ich habe ihn mit grosser Genugtuung gelesen. Ein Detail bin ich nicht damit einverstanden: bei der ethnische Säuberung Haifa und Jaffa, waren die Engländer (die eigentlichen Verantwortlichen für die Nakba) nicht Retter der Palästinenserinnen. Als Fluchtboote Organisatoren waren sie die Handlanger der Zionisten. Die Zionisten könnten nicht 70 Tausand Menschen in Jaffa massakieren. Sie hätten dies auf keinem Fall vor der Welt und vor allem vor den Englischen Imperialen Kriegsherr in Palästina verantworten können. Die Engländer waren die Vertreibungshelfer wie sie in Tabaria Anfang April 48 gewesen. 2009 habe ich eine Nakbareise für eine interessierte Schweizer Gruppe organisiert. Ich konnte der damals 82 jährige Vertriebene Tabrawi (Tiberianer)Herr Ibrahim Qurdahji gewinnen, um die Geschichte seiner Vertreibung aus Tabaria zu erzhlen. Er erzählte mit grosser wut auf die englischen Besatzer, wie sie, alle mögliche Busse für die Vertreibung der 5.5 Tausend Bewohner Tabaria organisierten. Sie forderten die Zabrawis in aller Eile in die Busse einzusteigen während die zionisten ihre mit Davidka Mörser auf die alte Stadt Tabaria feuerten. Anstatt dass die Engländer als Besatzer Macht die Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung zu übernehmen, haben sie den Zionisten geholfen die Stadt schneller aus zu leeren. . England hat 31 Jahre die Zionisten vorbereitet auf diesen Moment der Vertreibung . Wie kann sie als Retter der Palästinenserinnen bezeichnet werden?