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„Deutschland hat ein Problem mit seiner Erinnerungskultur“

Dieses Interview zwischen Matthias Lohr und BIP-Mitglied Ahmed  Tubail wurde ursprünglich von der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen (HNA) am 2. Juli 2022 veröffentlicht, mit dem Untertitel: Der Palästinenser Ahmed Tubail kritisiert die Angriffe auf die documenta. Man wolle den globalen Süden dämonisieren. Die deutsche Erinnerungskultur lasse keinen Blick von außen zu.
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Mehr als 100 zivilgesellschaftliche Organisationen starten eine Kampagne zur Sammlung von einer Million Unterschriften von EU-Bürger*innen, um den europäischen Handel mit illegalen Siedlungen in besetzten Gebieten zu beenden.
Die Europäische Bürgerinitiative ist ein offizielles Instrument, um die Stimmen der EU-Bürger zu verstärken und ihre demokratische Beteiligung zu verbessern. Wenn die Initiative innerhalb eines Jahres nach ihrem Start eine Million Unterschriften von Bürgerinnen und Bürgern in allen EU-Mitgliedstaaten sammelt, ist die Europäische Kommission gesetzlich verpflichtet, den Vorschlag zu prüfen, mit den Unterzeichnern zu diskutieren und gesetzgeberische Maßnahmen einzuleiten.
Die Europäische Bürgerinitiative (EBI) unterliegt EU-Regularien:  https://www.cidse.org/de/2022/04/07/take-action-to-end-european-trade-with-illegal-settlements/
Hier kann man teilnehmen.
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Kassel – Die documenta wird nicht nur wegen antisemitischer Motive kritisiert, sondern auch weil palästinensische Künstler einseitig auf den Nahostkonflikt schauen würden. Darüber sprachen wir mit dem Deutsch-Palästinenser Ahmed Tubail, der seit 36 Jahren in Kassel lebt.

In manchen Medien ist davon die Rede, die documenta sei eine Kunstschau der Schande. Für Sie auch?
Um Gottes willen, nein. Das ist ein schlimmer Begriff. Mich erinnert das an den AfD-Politiker Björn Höcke und sein „Denkmal der Schande“, wie er das Holocaust-Mahnmal nannte. Diese documenta ist anders, weil sie aus dem globalen Süden auf die Welt blickt. Diese Stimmen aus den ehemaligen Kolonien werden von Kritikern dämonisiert und diffamiert.

Ruangrupa aus Jakarta wurde ausgewählt, die Documenta 15 in Kassel zu kuratieren, das erste Mal, dass ein Kunstkollektiv die Ausstellung organisiert, aber es ist fraglich, ob die deutsche Gesellschaft dafür bereit ist. Quelle: Gudskol/Jin Panji, 2019, Facebook.


Können Sie die Aufregung um das antisemitische Banner der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi nachvollziehen?
Ich kann die Aufregung verstehen. Bei dem antisemitischen Motiv auf dem riesigen Banner handelt es sich nur um ein kleines Bild. Aber so etwas sollte man nicht nur in Deutschland nicht zeigen. Es erinnert an die Stereotype des Judenhasses in Europa. Das rechtfertigt jedoch nicht die medialen Angriffe auf die documenta als solche. Sie wurde schon lange vor Beginn angegriffen – unter anderem weil ein palästinensisches Kollektiv eingeladen wurde. Islamophobe Gruppen dämonisieren diese Künstler. Taring Padi haben sich übrigens dafür entschuldigt, dass sie Gefühle verletzt haben. Das nehme ich ihnen ab. Man hätte über ihr Kunstwerk diskutieren sollen, statt es einfach abzuhängen. Aber die deutsche Erinnerungskultur steht dem im Weg.

Als das Werk abgebaut wurde, riefen Künstler „Free Palestine“ und „From the River to the Sea“. Wird damit das Existenzrecht Israels infrage gestellt?
Nein, wir Palästinenser fordern lediglich gleiche Rechte für alle und nicht die Vertreibung von Menschen jüdischen Glaubens. Zwischen Fluss und Mittelmeer liegt nicht nur Israel. Nach dem UN-Teilungsplan 1947 sollte es einen jüdischen und einen palästinensischen Staat geben. Die Israelis haben die Westbank und den Gazastreifen besetzt. Die Palästinenser leiden unter der Besatzung und Vertreibung. „From the River to the Sea“ ist daher nur eine gerechte Forderung nach Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit.

Diese Rufe waren auch bei einer Kundgebung am Eröffnungswochenende auf dem Opernplatz zu hören. Können Sie verstehen, dass viele das als Bedrohung für Israel werten?
Diese Reaktionen stellen die Bedrohung künstlich dar. Man will den Status quo beibehalten. Bislang sind Palästinenser Menschen zweiter, dritter, vierter und fünfter Klasse. Sie leben in einem Apartheid-Regime. Wenn so viele Menschen unter unwürdigen Bedingungen leben, kann man das nicht akzeptieren. Allein in den letzten sechs Monaten sind 64 Palästinenser durch israelische Soldaten und Siedler gestorben, davon 14 Kinder, also durchschnittlich mehr als 10 Menschen im Monat.

Das ist schrecklich, aber Sie vergessen die Raketen, die die Hamas auf Israel abfeuert. Auch dort sterben Zivilisten.
Es gibt Besatzer und Besetzte. Es gibt zwar eine palästinensische Autonomiebehörde, aber man bekommt im Gazastreifen keine Geburtsurkunde ohne eine israelische Genehmigung. Lebensqualität, Bewegungsfreiheit und Wasserversorgung – über all das im Gazastreifen entscheiden die Israelis. Mehr als zwei Millionen Menschen leben dort. Nicht umsonst wird es Guantanamo am Mittelmeer genannt. Ich selbst darf weder in den Geburtsort meiner Eltern nördlich von Gaza noch in die Westbank fahren, obwohl ich auch einen deutschen Pass habe. Für die Israelis bin ich immer Palästinenser. Meine deutsche Frau darf das alles natürlich. Was ist das sonst, wenn nicht Apartheid?

Das Bündnis gegen Antisemitismus (BGA), das die Debatte um die documenta im Januar entfacht hat, sagt: Wer Unterstützer der Israel-Boykott-Bewegung BDS einlädt, bekommt antisemitische Kunst zu sehen.
Das war ein paranoider Angriff des BGA. Es hat kritisiert, dass das palästinensische Kollektiv seinen Sitz in einem Kulturzentrum hat, das nach dem palästinensischen Pädagogen und Nationalisten Khalil al-Sakakini benannt wurde. Es wurde gesagt, er habe Hitler verehrt. Verschwiegen wurde, dass er sich in Briefen an seinen Sohn und in seinen Tagebüchern mehrmals von den Nazis distanziert hat. Er schrieb, sie bringen Unheil über die Welt. Sein Gegner war die britische Besatzungsmacht. Man muss solche Dinge im Kontext sehen. Das macht das BGA nicht. Es verbreitet antipalästinensischen Rassismus.

Ein anderer Vorwurf lautet: Der postkoloniale Ansatz, den auf der documenta viele vertreten, sieht Israel als böse Kolonialmacht. Dabei ist das Land die einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten.
Dann kann man keine Künstler aus dem globalen Süden mehr einladen. Viele wollen nicht wahrhaben, wie die Menschen dort die Welt sehen. Indonesien etwa war unter Suharto ein Terror-Regime, das auch von Israel unterstützt wurde. Wenn wir solchen Stimmen keinen Raum geben, versagen wir.

Ist das ein deutsches Problem?
Ja, Deutschland hat ein Problem mit seiner Erinnerungskultur. Sie ist eindimensional auf die monströsen Verbrechen des Nationalsozialismus ausgerichtet. Es fehlt hier eine multiperspektivische Erinnerungskultur. Es gibt nur den Holocaust und sonst nichts. Den Blick von außen lässt man nicht zu.

Das sogenannte Bündnis gegen Antisemitismus Kassel, das die Kampagne zur Zensur der Documenta 15 gestartet hat, verwendet einen israelischen Kampfjet für sein Bild in seiner Facebook-Gruppe, um klarzustellen, dass es an tödliche Gewalt gegen diejenigen glaubt, die es als antisemitisch wahrnimmt. Quelle: Facebook.


Kann man in Deutschland Kritik an der israelischen Besatzungspolitik äußern, ohne als Antisemit zu gelten?
Nein. Wir erleben das tagtäglich. Ich kenne viele, die sich nicht mehr äußern, weil sie Angst um ihren Job haben. Vor allem Palästinensern und Migranten aus arabischen Ländern wird die Freiheit genommen, ihre Meinung zu sagen. Wenn man etwa darauf hinweist, dass der Mord an der palästinensisch-amerikanischen Journalistin Schirin Abu Akle durch israelische Soldaten unabhängig untersucht werden muss, kommt der Vorwurf des Antisemitismus. Das Gleiche ist es bei der BDS-Bewegung.

BDS will mittels eines Israel-Boykotts ein Rückkehrrecht der Palästinenser erreichen. In Deutschland klingt das wie der Nazi-Slogan: „Kauft nicht bei Juden“. Laut einem Bundestagsbeschluss ist BDS antisemitisch.
Es ist ein friedlicher Protest im Sinne von Mahatma Gandhi. Die Kritik an BDS verkennt, dass mehr als 20 Prozent der Israelis keine Juden sind. Der Nazi-Slogan ist historisch und faktisch falsch. Und selbstverständlich kann man israelische Produkte aus den Siedlungen in den besetzten Gebieten boykottieren. Auch deshalb wird BDS in Israel von nicht wenigen unterstützt. Wenn ein israelischer Künstler als Sprachrohr des israelischen Militärs auftritt, gehen wir nicht mehr hin. Israel besetzt Palästina seit mehr als 50 Jahren. Jedes andere Land wäre längst von der internationalen Staatengemeinschaft boykottiert worden. Aber in Deutschland verteidigen selbst die Antisemitismusbeauftragten die Politik Israels.

Im WH 22 vergleicht Künstler Mohammad Al Hawajri mit „Guernica Gaza“ die deutsche Wehrmacht mit israelischen Soldaten. Ist das noch Kritik an der Besatzungspolitik oder schon judenfeindlich?
Das hat mit Judenfeindlichkeit nichts zu tun. Es geht um die Luftwaffenangriffe auf Gaza gegen die Palästinenser, etwa in den Kriegen 2008, 2012, 2014 und 2021.

Aber es ist krass einseitig. Palästinenser sind hier nur Opfer und Israelis nur Täter.
Gebt den Palästinensern ihre Freiheit, dann wird der Konflikt enden. Würden die Palästinenser endlich gleiche Rechte erhalten, wäre das nicht das Ende von Israel. Im Gegenteil.

Haben Sie noch Hoffnung auf eine friedliche Lösung?
Natürlich. Ohne Hoffnung könnten wir nicht weitermachen. (Matthias Lohr)
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BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden.

Eine 64-jährige palästinensische Gefangene stirbt in einem israelischen Gefängnis – niemand will wissen warum

Gideon Levy berichtet am 9. Juli in Haaretz: „Im Hof eines Hauses in der Stadt Idna im Westjordanland, unweit von Hebron, wartete eine Familie seit dem 2. Juli vergeblich auf die Leiche ihrer Mutter, Großmutter und Schwester. Ihr Ex-Mann Hassan Matar, mit dem sie 27 Jahre lang verheiratet war, bis sie sich vor 13 Jahren trennten, befand sich unter den Trauernden, die auf sie warteten.

Bei Redaktionsschluss in dieser Woche wussten sie noch nicht, wann sie endlich den Leichnam in Empfang nehmen und ihr ein angemessenes Begräbnis geben können. Sa’dieh Matar, die 64 Jahre alt war, als sie starb, war Mutter von vier Töchtern und vier Söhnen im Alter von 19 bis 40 Jahren. Sie hatte auch 28 Enkelkinder, von denen die meisten sie nicht mehr gesehen hatten, seit sie vor über einem halben Jahr das Haus verlassen hatte, um ihre Tochter Tamra, 35, und sieben ihrer Enkelkinder zu besuchen, was sie regelmäßig zweimal pro Woche tat. Tamras Familie lebt in der Altstadt von Hebron, die von den Siedlern, der Armee und der Polizei kontrolliert wird.

Matar brach am Morgen des 18. Dezember auf, nahm ein Sammeltaxi nach Hebron, durchquerte die Kontrollpunkte des besetzten Viertels zu Fuß und erreichte das Haus ihrer Tochter. Nach dem Besuch machte sie sich auf den Heimweg – was dann geschah, ist nicht ganz klar.

Sie erreichte den Kontrollpunkt Gutnick House, unterhalb des Grabes der Patriarchen. Palästinensische Augenzeugen berichteten Manal al-Ja’bri, einer Feldforscherin der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem, dass sie gesehen hätten, wie ein Siedler sie geschlagen und zu Boden gestoßen habe. Was dem vorausgegangen war, konnten sie nicht sagen. Unbestätigten israelischen Medienberichten zufolge hatte die ältere Frau versucht, einen 38-jährigen Bewohner der städtischen Siedlung Kiryat Arba, die an Hebron angrenzt, zu erstechen und ihn dabei leicht verletzt.

Die israelische Polizei veröffentlichte ein Foto, auf dem ein Messer zu sehen war, das Matar angeblich in der Hand hielt. Ein anderes Foto zeigte sie auf dem Rücken liegend, die Arme zur Seite ausgestreckt, mit nichts neben ihrem Körper – keine Handtasche, kein Messer – und vier Grenzpolizisten, die über ihr standen. Der Sprecher der Grenzpolizei erklärte damals, dass „Kämpfer der Grenzpolizei, die am Grab der Patriarchen stationiert waren, am Ort des Geschehens eintrafen und die Terroristin innerhalb kurzer Zeit überwältigten, ohne auf Schüsse zurückzugreifen“, und fügte hinzu, dass die „Terroristin“ zum Verhör durch „Sicherheitspersonal“ gebracht wurde. (…)

Nachdem sie etwa eine Viertelstunde auf der Straße gelegen hatte, wurde Matar von einem israelischen Krankenwagen auf einer Bahre abtransportiert, zum Verhör durch den Sicherheitsdienst Shin Bet gebracht und inhaftiert. (…)

So wie nicht ganz klar ist, was an jenem schicksalhaften Samstagmorgen am Kontrollpunkt in Hebron tatsächlich geschah, ist noch weniger darüber bekannt, was am vergangenen Samstag im Trakt für weibliche palästinensische Häftlinge im Damon-Gefängnis im Norden Israels geschah.

Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen ihr erstgeborener Sohn Ala, 40, und ihre 24-jährige Tochter Hayat Matar im Gefängnis besuchen durften, stellten sie fest, dass sich ihr Gesundheitszustand – sie hatte hohen Blutdruck und Diabetes – verschlechterte. Sie erzählten anderen Familienmitgliedern, dass sie sogar zu schwach war, um das Telefon zu halten, das die Gefangenen benutzen, um mit Besuchern zu sprechen, die hinter Panzerglas oder Metallgittern sitzen. Als sie sie das letzte Mal vor etwa drei Wochen besuchten, saß sie in einem Rollstuhl. Sie ließ den Hörer fallen, zitterte am ganzen Körper und konnte kaum ein Wort sprechen. Nach Angaben der Familie wurde sie im ersten Monat ihrer Inhaftierung in einer separaten Zelle untergebracht, und vor kurzem wieder – aber es ist nicht klar, warum.

Die Familie glaubt, dass sie keine Medikamente für ihre chronischen Krankheiten erhalten hat. Sie vermuten auch, dass die Schläge, die ihr bei dem Vorfall in Hebron zugefügt wurden, Schaden angerichtet haben. Sie beschreiben eine Frau, die vor ihrer Inhaftierung körperlich einigermaßen fit und es gewohnt war, zu Fuß zu gehen, um ihre Kinder zu besuchen. Die beiden letzten Fotos, die vor ihrer Verhaftung aufgenommen wurden, zeigen eine Großmutter in traditioneller Kleidung und mit kräftiger Statur.

Am Morgen des 2. Juli erhielt die Familie einen Anruf von der palästinensischen Verbindungs- und Koordinierungsstelle, die sie darüber informierte, dass Matar in ihrer Zelle im Damon-Gefängnis zusammengebrochen war und dass ein herbeigerufener Arzt sie für tot erklärt hatte. Das ist alles, was sie über den Vorfall wissen. Mitte der Woche kämpften sie darum, dass die Leiche so schnell wie möglich überführt wird. (…)

Der Sprecher der israelischen Strafvollzugsbehörde, Yoni Hefetz, erklärte diese Woche gegenüber Haaretz: „In Fällen, in denen ein Häftling stirbt, übergibt der Gefängnisdienst die Leiche an die zuständigen Behörden. Sie hat keine Informationen über den Verbleib der Leiche. Im Gegensatz zu den Behauptungen, die hier aufgestellt werden, ist anzumerken, dass der Gefangenen eine angemessene medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt wurde. Wie in allen Fällen, in denen es um den Tod eines Gefangenen geht, wird eine Untersuchung der Umstände durchgeführt werden.
https://www.haaretz.com/israel-news/twilight-zone/2022-07-09/ty-article-magazine/.highlight/a-64-year-old-palestinian-detainee-dies-in-israeli-jail-and-no-one-knows-why/00000181-e006-d9a3-a3e1-e5be2e300000


Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.

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