Alle Augen sind auf Gaza gerichtet, während die Gewalt im Westjordanland zunimmt
BIP-Aktuell #286:
- Kaum beachtete Pogrome im Westjordanland
- Palästinenser im Westjordanland sind der israelischen Gewalt schutzlos ausgeliefert
Israels rechtsgerichtete Regierung lässt zu, dass Siedler mit Unterstützung des Militärs im gesamten Westjordanland zahlreiche Anschläge verüben und illegale Außenposten und Straßen bauen. Während sich die internationale Aufmerksamkeit auf den Gazastreifen konzentriert, wo die meisten Todesopfer zu beklagen sind, bleiben die im Westjordanland begangenen Gräueltaten unbemerkt. Doch der physische, wirtschaftliche und politische Tribut, den diese Verbrechen für die Bevölkerung fordern, ist enorm und kann zu einer Intifada führen.
Die rechtsextreme israelische Regierung (siehe BIP-Aktuell #236) lässt zu, dass Siedler im Westjordanland immer rabiater vorgehen. Die Folge: Angriffe auf Palästinenser nehmen zu. Schon vor dem Angriff auf Israel am 7. Oktober und der unverhältnismäßigen israelischen Aggression im Gazastreifen ist das Leben für Palästinenser im Westjordanland sehr gefährlich geworden. Israels Finanzminister rief zur „Auslöschung von Huwara“ auf, um den Pogrom in Huwara zu rechtfertigen (siehe BIP-Aktuell #249). Im Nachhinein betrachtet war die Absicht klar, einen Völkermord zu begehen; sie wurde aber von der Öffentlichkeit ignoriert.
Ärzte beim Besuch des Flüchtlingslagers Jenin. Quelle: Medecens sans Frontiers, 2023.
Nach dem Beginn der israelischen wahllosen Bombardierungen und der Invasion des Gazastreifens, die den Tatbestand des Völkermordes erfüllen (siehe BIP-Aktuell #285), konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der internationalen Medien auf den Gazastreifen, während Berichte über die Gewalt gegen Palästinenser im Westjordanland auf die hinteren Seiten verwiesen oder gar nicht veröffentlicht wurden. Der Hauptgrund dafür ist die Tendenz der Medien, sich auf größere Ereignisse zu konzentrieren: Zigtausende von Toten, die Zerstörung von Hunderttausenden von Häusern und die Entwurzelung von fast zwei Millionen Menschen sind schockierend und erfordern mehr Aufmerksamkeit.
Ein zweiter Grund ist jedoch, dass die Palästinenser selbst die an ihnen im Westjordanland begangenen Verbrechen nicht melden, weil sie sich schämen und die Schuld der Überlebenden auf sich laden. Mehrere Palästinenser haben BIP im Vertrauen gesagt, dass sie sich schuldig fühlen, weil sie sich trotz der Siedlergewalt, der Verhaftungen und der Tötungen im Westjordanland noch relativ sicher fühlen, Trinkwasser und zu essen haben. Jemand sagte sogar: „Ich wünsche mir, dass Israel das Westjordanland einen Tag lang bombardiert, damit Gaza eine Pause hat.“
Unmittelbar nach dem 7. Oktober führten die israelischen Streitkräfte Razzien in den Städten und Dörfern des Westjordanlandes durch und nahmen Tausende von Personen fest, wodurch die israelischen Gefängnisse überfüllt wurden. Die Verhaftungen erfolgten ohne Anklagen oder Verdachtsmomente und dienten lediglich dazu, mehr Gefangene zu bekommen, um sie mit der Hamas gegen die israelischen Geiseln austauschen zu können.
In den zweieinhalb Monaten seit dem 7. Oktober haben israelische Soldaten und Siedler eine ununterbrochene Serie von Angriffen, Pogromen und Drohnenangriffen auf Palästinenser im Westjordanland durchgeführt. Über 300 Palästinenser wurden seit dem 7. Oktober von Israelis im Westjordanland getötet, darunter 72 Kinder. Nach Angaben von Peace Now haben die Siedler seit dieser Zeit in einem noch nie dagewesenen Ausmaß Land gestohlen, illegale Außenposten errichtet und illegale Apartheidstraßen im Westjordanland gebaut, ohne dass die Regierung etwas dagegen unternommen hätte. Nach Informationen der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem wurden seit dem 7. Oktober fast tausend Palästinenser aus ihren Häusern im Westjordanland von Siedlern vertrieben.
Sowohl die USA als auch die EU haben gedroht, „gewalttätigen Siedlern“, wie sie sie definieren, die Einreise zu verweigern, um sie von diesen Angriffen abzuhalten, aber die Informationen darüber, wer ein „gewalttätiger Siedler“ ist, stammen von der israelischen Regierung selbst. Der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, ist selbst ein gewalttätiger Siedler aus der Stadt Hebron, der sogar in seiner Eigenschaft als Minister seine Waffe benutzt hat, um Palästinenser zu bedrohen, und der mit der Verteilung von Waffen an seine Anhänger eine bewaffnete Miliz aufbaut (siehe BIP-Aktuell #255).
Die Drohungen der USA und der EU scheinen die israelische Regierung überhaupt nicht zu beeindrucken. Anstatt die Gewalt der Siedler einzuschränken, ist die Regierung bereit, weiterhin ein Auge zuzudrücken und den Siedlern sogar mehr Freiheiten einzuräumen, während sie weniger israelische Militäreinheiten einsetzt, denen bisher keine Sanktionen von den USA und der EU angedroht wurden. Eine Einheit namens „Buch der Wüste“, die gegründet wurde, um extremistische Siedler aus der „Hilltop“-Jugend für die Armee zu rekrutieren, wurde aufgelöst, damit diese Gruppe ohne militärische Befehle oder militärische Disziplin operieren kann (Quelle auf Hebräisch).
Das Westjordanland befindet sich außerdem in einer extremen Wirtschaftskrise, denn zusätzlich zu den täglichen Angriffen und dem Verlust von Land und Eigentum durch die Gewalt der Siedler erhalten seit dem 7. Oktober palästinensische Arbeiter keine Erlaubnis mehr, die Checkpoints zu passieren und in Israel zu arbeiten. Mehr als hunderttausend Palästinenser, die ihren Lebensunterhalt in Israel verdienen, vor allem im Baugewerbe und in der Landwirtschaft, sind arbeitslos geworden. Die israelische Regierung begründet diese kollektive Bestrafung mit „Sicherheitsgründen“, aber Siedlungen, die palästinensische Arbeiter für sich arbeiten lassen wollen, dürfen weiterhin Palästinenser einstellen (Quelle auf Hebräisch). Palästinenser, die in der Nähe der Trennmauer leben, verlieren den Zugang zu ihrem eigenen Land in der sogenannten Seam-Zone, da israelische Gemeinden wie der Kibutz Meirav in Gilboa den Palästinensern willkürlich den Zugang zu ihrem eigenen Land verweigern (siehe BIP-Aktuell #257). Siedler haben die Olivenernte im Westjordanland, die normalerweise im Oktober und November stattfindet, systematisch und mit Gewalt gestört und damit die Lebensgrundlage von Hunderttausenden von Palästinensern untergraben (Quelle auf Hebräisch).
Amr Ahmad Jamil Abu Wahdan, 14, und Malek Majed Abdelfattah Daghra, 17, wurden beide am 28. November von israelischen Streitkräften in den Dörfern Tayasir im nördlichen Westjordanland und im Dorf Kafr Ein nordwestlich von Ramallah getötet. Quelle: DCI-Palestine, 2023.
Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) setzt ihre ganze Macht ein, um den Protest der Bevölkerung im Westjordanland zu unterdrücken und dadurch eine weitere Intifada zu verhindern. Die israelische Regierung begegnet der PA jedoch mit Verachtung. Ministerpräsident Netanjahu hat den Wahlkampf für die nächsten Wahlen in Israel begonnen und wirft den Linksparteien vor, den Gazastreifen der PA zur Verwaltung überlassen zu wollen. Da die PA derzeit von der Fatah-Partei geführt wird, lautet Netanjahus Wahlkampfslogan „Nein zu Fatahstan“ (Quelle auf Hebräisch).
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BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden.
Palästinenser im Westjordanland sind der israelischen Gewalt schutzlos ausgeliefert
Haaretz Leitartikel, 18. Dez. 2023
„Zu einer Zeit, in der alle Augen auf den Gazastreifen gerichtet sind, finden im Westjordanland schwerwiegende Entwicklungen statt, die vor Ort neue Fakten schaffen, von denen viele unumkehrbar sind.
Viele Siedler sehen den Krieg im Gazastreifen als Gelegenheit, grundlegende Veränderungen im Westjordanland herbeizuführen und Dinge zu tun, die sie in normalen Zeiten nie wagen würden. Sie misshandeln ihre palästinensischen Nachbarn, greifen sie an und zerstören ihr Eigentum mit größerer Gewalt als je zuvor.
Die israelischen Streitkräfte haben es nicht nur versäumt, sie zu stoppen, sondern haben sie in vielen Fällen unterstützt, indem sie aggressiv und mit übermäßiger tödlicher Gewalt gegen die Palästinenser vorgegangen sind.
Die beiden Entwicklungen hängen zusammen und haben zu den gleichen Ergebnissen geführt, nämlich die Palästinenser zu zwingen, ihre Dörfer und ihr Land zu verlassen, insbesondere an zwei Orten – in den südlichen Hügeln von Hebron und im nördlichen Jordantal.
Dort ist eine völlig wehrlose Bevölkerung – Hirtengemeinschaften, die keine Möglichkeit haben, sich zu schützen – Opfer eines Transfers geworden, von dem in Israel niemand spricht.
Seit Beginn des Krieges waren die Bewohner von 16 Hirtengemeinschaften in den südlichen Hebron-Hügeln gezwungen, ihre Dörfer unter der Bedrohung durch Siedler zu verlassen. Im nördlichen Jordantal haben 20 Familien ihre Dörfer aus demselben Grund verlassen.
In der Zwischenzeit werden fast täglich immer mehr Palästinenser im gesamten Westjordanland getötet, viele von ihnen unschuldig und ohne jedes Vergehen. Allein in der Gegend von Tulkarem wurden seit dem 7. Oktober 50 Menschen getötet, in der Gegend von Ramallah mehr als 30. Viele der Opfer wurden von Siedlern erschossen, deren Finger leichter denn je am Abzug sind, weil sie wissen, dass der Gaza-Krieg und die rechtsextreme Regierung, die an der Macht ist, für sie keine Konsequenzen haben werden.
Auch Soldaten erschießen Palästinenser mit inakzeptabler Leichtigkeit, während es in den Flüchtlingslagern bei Jenin und Tulkarem häufig zu tödlichen Luftangriffen auf dichte Ansammlungen von Menschen kommt.
Mit dem Töten kommt die Zerstörung: Gideon Levy und Alex Levac berichteten letzte Woche, dass die Zerstörung des Flüchtlingslagers Jenin es in ein kleines Gaza verwandelt hat. Die Washington Post beschrieb dies in einem Sonderbericht aus Jenin mit ähnlichen Worten.
Im nördlichen Jordantal hat die Armee bei all dem eine Rolle gespielt, indem sie zum Beispiel die Wasserversorgung für die Bewohner der Dörfer in diesem Gebiet für mehrere Tage unterbunden hat. Zu der ohnehin schon schwierigen wirtschaftlichen Lage, die sich aus dem Verbot für Palästinenser aus dem Westjordanland ergibt, in Israel zu arbeiten, wurden seit dem Krieg Dutzende weiterer interner Barrieren errichtet, die das Leben der Palästinenser weiter erschweren.
Premierminister Benjamin Netanjahu hat am 7. Oktober kläglich versagt. Mit der Unterstützung, die er den Siedlern und der Armee gewährt, und seiner giftigen Rhetorik gegen die Palästinensische Autonomiebehörde bereitet er Israel auf das Entstehen einer zweiten Front im Westjordanland vor.“
Der obige Artikel ist der Leitartikel von Haaretz, wie er in den hebräischen und englischen Zeitungen in Israel veröffentlicht wurde.“
https://www.haaretz.com/opinion/editorial/2023-12-18/ty-article/death-and-transfer-in-the-west-bank/0000018c-7958-de5d-a9ce-7f5e5e5f0000?utm_source=mailchimp&utm_medium=Content&utm_campaign=daily-brief&utm_content=a8e284a86f
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