Was wir wissen und was wir sehen
BIP-Aktuell #311:
- Verhungernlassen als Waffe
- Israel verschärft Kontrolle über Zone B – Annexion des Westjordanlandes beginnt
Es ist mittlerweile erwiesen, dass Israel den Hunger als Kriegswaffe einsetzt und verhindert, dass ausreichend Lebensmittel in den Gazastreifen gelangen. Die israelische Regierung hat diese Absicht sogar angekündigt und das Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) ignoriert, die Blockade von Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten einzustellen. Die deutsche Regierung und die israelischen Medien bestreiten den Einsatz des Hungers als Waffe und erkennen nicht an, dass es sich um einen Akt des Völkermords handelt. Wird er auch in den deutschen Medien thematisiert werden?
Im März veröffentlichte das Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern (BIP) einen Bericht über den Hunger in Gaza (BIP-Aktuell #295). Human Rights Watch veröffentlichte bereits im Dezember eine Warnung, dass der Hunger in Gaza keine Naturkatastrophe ist, sondern ein vorsätzlicher Einsatz als Kriegswaffe und damit ein Kriegsverbrechen. In der Tat haben die israelische Politik und das israelische Militär keinen Hehl daraus gemacht, dass sie die palästinensische Bevölkerung aushungern wollen, wie Verteidigungsminister Yoav Gallant in seiner Rede vom 9. Oktober sagte: Die Palästinenser in Gaza werden vom Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten abgeschnitten. Dies deutet auf die Absicht hin, einer Bevölkerung die notwendigen Lebensbedingungen zu entziehen, ein Verbrechen gemäß Artikel 2 c der Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord. Am 26. Januar entschied der IGH, dass Israel die Maßnahmen nach Artikel 2 der Konvention einstellen muss, eine Anordnung, die Israel ignorierte.
Screenshot aus einem Al-Jazeera-Video über die hungernden Kinder in Gaza vom März. Normalerweise veröffentlichen wir keine Fotos wie dieses, die auf unsere Leser eine verstörende Wirkung haben können. Da es in dieser Ausgabe aber darum geht, die Realität des Hungers zu dokumentieren, meinen wir, dass es notwendig ist, ein Bild (von Tausenden) zu zeigen. Quelle: 2024, Al-Jazeera.
Die israelischen Zeitungen berichteten nicht über die Hungersnot in Gaza, was die Frage aufwirft, ob die israelische Öffentlichkeit sich der begangenen Gräueltaten bewusst ist. Als die Türkei Sanktionen gegen Israel ankündigte und die Ausfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck („dual-use“) aus türkischen Häfen so lange blockiert (siehe BIP-Aktuell #302), bis Hilfsgüter in den Gazastreifen gelangen dürfen, antworteten die israelischen Zeitungen mit Unverständnis, denn Hilfsgüter dürfen, so behaupteten sie, nach Gaza gelangen.
Es hat sich eine Gruppe von Israelis als Bewegung gebildet, die sich „Tsav 9“ oder „Befehl Nummer Neun“ nennt (der Name bezieht sich auf den Befehl Nr. 8, den Notruf zur Einberufung von Reservisten), um Lastwagen mit Hilfsgütern, insbesondere mit Lebensmitteln, zu blockieren, in einen Hinterhalt zu locken und anzugreifen, bevor sie in den Gazastreifen gelangen können. Dies zeigt, dass das Wissen um die Verweigerung von Hilfsgütern unter Israelis durchaus vorhanden ist. Die radikalen Aktivisten brachten ihre Kinder mit, um sich an der Erstürmung der Lastwagen für Hilfsgüter zu beteiligen und die Lebensmittel auf dem Boden zu zerstreuen, damit die hungernden Menschen in Gaza nichts bekommen. Die israelische Polizei unternahm nichts, um die Lastwagen zu schützen. So konnten die Hilfsgüter nicht mehr über israelisches Gebiet nach Gaza geliefert werden.
Anstatt die Waffenlieferungen an Israel zu stoppen, um Druck auf Israel auszuüben, damit das Töten aufhört, versprachen die USA, eine schwimmende Anlegestelle einzurichten und Schiffen die Lieferung von Lebensmitteln nach Gaza vom Meer aus zu ermöglichen, aber die Anlegestelle wurde von der Strömung weggerissen. Es kann den Israelis somit nicht unbekannt sein, dass nicht genug Lebensmittel den Gazastreifen erreichen.
In ihrem Artikel in Haaretz vom 6. April (Quelle auf Hebräisch) verwies Prof. Dr. Yuli Tamir auf das absichtliche Aushungern der Menschen in Gaza. Tamir repräsentiert die Mitte der israelischen Gesellschaft. Sie war einst Mitbegründerin der Peace-Now-Bewegung und von 1999 bis 2001 Bildungsministerin in der Regierung von Ehud Barak, später Vorstandsmitglied des größten israelischen Rüstungsunternehmens Elbit Systems und ist derzeit Präsidentin des Beit Berl College für Bildung. In ihrem Artikel verwendete Tamir nicht den Begriff „Völkermord“ (sonst hätte Haaretz ihn kaum veröffentlicht), sondern schrieb einfach, dass das absichtliche Aushungern ein Verbrechen ist, das das Existenzrecht des Staates Israel in Frage stellt. Eine solche Aussage von einer der Führerinnen der israelischen Arbeitspartei, die ihr Leben dem Dienst am Staat gewidmet hat und 2019 ein Buch mit dem Titel „Why Nationalism?“ veröffentlicht hat, um den israelischen Patriotismus zu rechtfertigen, ist ein Weckruf für deutsche Politiker, die über Israels „Existenzrecht“ wie ein Mantra sprechen. Das vorsätzliche Verhungernlassen hat alle Grenzen des Humanitären Völkerrechts überschritten.
Prof. Dr. Yuli Tamir. Quelle: 2018, Sasha Fleet, Wikipedia.
Bei seinem Besuch in Israel sagte Bundeskanzler Olaf Scholz: „Wir können nicht danebenstehen und riskieren, dass Palästinenserinnen und Palästinenser Hunger leiden“ – eine unklare Aussage. Sie weist zwar auf die Verantwortung Deutschlands hin, das nicht tatenlos zusehen darf, wie Menschen verhungern. Sie bedeutet aber auch nicht, dass Deutschland seine Waffenexporte nach Israel einstellen wird. Scholz‘ Erklärung war lediglich eine freundliche Warnung an Israel, aber die israelische Regierung, die das Urteil des IGH bereits ignoriert hat, ignoriert natürlich auch die Warnung von Scholz und demaskiert sie als leere Worte.
Der Hunger ist nicht auf den Gazastreifen selbst beschränkt. Es gibt zahlreiche Berichte darüber, dass Palästinenser in israelischen Gefängnissen und Gefangenenlagern, insbesondere im Gefangenenlager Sde Teiman („Jemen-Feld“) in der Wüste, ausgehungert wurden, unabhängig davon, ob die Gefangenen aus dem Gazastreifen oder aus dem Westjordanland stammten. Mindestens 27 Gefangene starben in israelischen Gefängnissen an einer Kombination aus Hunger und körperlicher Folter. Nur wenige Gefangene wurden freigelassen, darunter der Direktor des Al-Shifa-Krankenhauses, Dr. Muhammed Abu Salmiya, der die Haftbedingungen und die unzureichende Versorgung mit Nahrungsmitteln beklagte. Der für die Gefängnisse zuständige israelische Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, wies die Anschuldigungen nicht zurück, sondern erinnerte daran, dass er versprochen hatte, die Bedingungen für palästinensische Gefangene zu verschlechtern, und dass „eine Todesstrafe für Terroristen das Problem der überfüllten Gefängnisse lösen wird“ (Quelle auf Hebräisch). Wenn Gefangene ohne Gerichtsverfahren und unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten werden und keine Nahrung zum Überleben erhalten, kann dann ihr Haftort noch als „Gefängnis“ bezeichnet werden?
Am 3. Juli veröffentlichte Haaretz endlich einen Bericht von Reuters über die Hungersnot in Gaza (Quelle auf Hebräisch). Diese Zeitung hatte es bisher vermieden, Fotos von verhungernden Kindern zu zeigen, weil sie sofort Assoziationen zum Holocaust hervorrufen und die Zeitung somit zwingen würde, von einem Völkermord zu sprechen. Dieser Reuters-Bericht, der sich auf Recherchen von UNICEF stützt, enthielt jedoch Fotos. Die Daten der IPC (Integrierte Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphase – Integrated nourishment Phase Classification) zeigen, dass mehr als eine Million Menschen in Gaza an akuter Unterernährung leiden. Kinder werden für den Rest ihres Lebens gesundheitliche Probleme haben. Wie der Nobelpreisträger und Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen schrieb, verursacht eine Hungersnot dauerhafte und verheerende Schäden in einer Gesellschaft, die jeden Aspekt des Lebens beeinträchtigen, und selbst nach lediglich einigen Monaten der Hungersnot dauert es Jahrzehnte, bis sich die Menschen davon erholen.
Oxfam veröffentlichte einen dringenden Appell an die Welt, einzugreifen und die Hungersnot zu beenden. Oxfam warnt, dass die Hungersnot eine Folge des israelischen Angriffs und der Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft ist. „Nennt es Hungersnot oder nennt es nicht Hungersnot – so oder so stehen Menschenleben auf dem Spiel.“
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BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden. dfsf
Israel verschärft Kontrolle über Zone B – Annexion des Westjordanlandes beginnt
2. Juli 2024
Von Fayha Shalash – Ramallah
„Die israelischen Behörden treiben ihre Annexionspläne im besetzten Westjordanland voran, was einen eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt. In ihrer jüngsten Annexionsaktion hat die israelische Regierung beschlossen, die Bautätigkeit von Palästinensern in der sogenannten Zone B einzuschränken oder zu verhindern, einer Region, die [gemäß den Oslo-Abkommen] der gemeinsamen Souveränität der Palästinensischen Autonomiebehörde und Israel unterliegt.
Trotz der Behauptungen, dass die Entscheidung aus ´Sicherheitsgründen` motiviert sei, glauben die Palästinenser, dass Israel lediglich darauf abzielt, mehr Land zu annektieren und seinen Handlungsspielraum sogar über die als Zone C klassifizierten Gebiete hinaus auszudehnen – die der israelischen Souveränität unterliegen und fast 60 Prozent der Gesamtgröße des Westjordanlandes ausmachen.
In der Praxis bedeutet dies, dass Palästinenser sowohl in den B– und C-Gebieten nicht mehr ohne israelische Beschränkungen bauen dürfen. Dies lässt ihnen nur die Möglichkeit, im A-Gebiet zu bauen, das unter die Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) fällt. Die Fläche ist jedoch sehr klein – 18 Prozent des Westjordanlandes – und reicht kaum für ein Zehntel der Gesamtbevölkerung aus.
Zusätzlich zu den [völkerrechtlich] illegalen Siedlungen und Außenposten entzog Israel die Sicherheits-, Verwaltungs- und Zivilbefugnisse der PA in den A- , B- und C-Gebieten. Mit den jüngsten Entscheidungen kontrolliert es nun praktisch mehr als 80 Prozent des Westjordanlandes.
Tamer Abu Aisha lebt in Hebron – arabisch: Al-Khalil. Vor einigen Tagen stürmten über 20 maskierte Mitglieder der israelischen Armee sein Haus und befahlen ihm, das Haus sofort zu verlassen, ohne ihm auch nur zu erlauben, seine Sachen zu packen. Innerhalb weniger Minuten wurde das Haus, das sich in Zone B befand, abgerissen, obwohl es von der Stadtverwaltung von Hebron und der sogenannten israelischen Zivilverwaltung lizenziert war.
Tamers Bruder Nader sagte dem Palestine Chronicle, dass das israelische Militär die Maßnahme damit begründete, dass das Haus eine ´Bedrohung für die Sicherheit des Staates Israel` darstelle, ohne weitere Erläuterungen. Das Gebäude wurde zusammen mit allen Möbeln und Einrichtungsgegenständen abgerissen.
Das 2013 erbaute Haus wurde von Tamers Familie bewohnt, die aus acht Personen besteht, darunter sechs Kinder. Sie wurden bis vor wenigen Wochen nie über den Abriss informiert. ´Mein Bruder und seine Familie leben jetzt in einem gemieteten Zimmer, nachdem sie früher in einem zweistöckigen Haus gelebt haben, das sie ihre gesamten Ersparnisse gekostet hat`, sagte Nader.
Während er mit dem israelischen Offizier diskutierte, wurde Nader gesagt, dass Israel auch bestimmte Gebiete innerhalb der Zone A kontrolliert, die bisher von der PA kontrolliert wird, wo es den Bau unter dem gleichen Vorwand, dem der Sicherheit, verhindert.
´Israels Ziel ist es, uns alle von unserem Land zu entwurzeln. Nachdem sie das Land konfisziert und uns gestohlen haben, werden sie seine Bewohner vertreiben`, behauptete er.
In Gebieten, die als Zone B eingestuft sind, dringen illegale jüdische Siedler, eskortiert von der israelischen Armee, regelmäßig in sog. archäologische Gebiete ein, unter dem Vorwand, dass es sich um religiöse Stätten handele. Aufgrund ihrer strategischen Lage glauben die Palästinenser jedoch, dass das eigentliche Ziel darin besteht, lebenswichtige Gebiete zu kontrollieren und sie in illegale Siedlungsaußenposten zu verwandeln.
Experten für Siedlungsangelegenheiten haben bestätigt, dass es Siedlergruppen gibt, die sich auf die Überwachung palästinensischer Bauten in der Zone C und in der Nähe von Siedlungen in der Zone B spezialisiert haben. Sie sagen, dass diese Gruppen von der israelischen Regierung bezahlt werden.
Seit der Bildung der derzeitigen rechtsextremen Regierung von Benjamin Netanjahu im Dezember 2022 sind die illegalen und oft gewaltsamen Beschlagnahmungen palästinensischen Landes und der Siedlungsausbau eskaliert.
Suhail Khaliliyah, Direktor der Siedlungsüberwachungseinheit am ARIJ Center for Applied Research, sagte uns, dass Israels Entscheidung gefährliche Konsequenzen haben kann. ´Es stimmt, dass die Entscheidung nicht bedeutet, dass alle Bauvorhaben in der Zone B eingeschränkt werden, aber es ist ein gefährlicher Schritt, weil sie den Palästinensern weiter die Möglichkeit nimmt, ihr Land zu nutzen und in der Nähe der (illegalen) Siedlungen zu bauen`, erklärte er. Laut Khaliliyah werden große Teile des Territoriums rund um die illegalen Siedlungen konfisziert. ´Der extremistische israelische Finanzminister Bezalel Smotrich ist jetzt für die Zivilverwaltung verantwortlich, also hat er nicht gezögert, eine solche Entscheidung zu treffen, erklärte Khaliliyah.
Tatsächlich treibt die Regierung ihre Annexionspläne voran, um den Forderungen jüdischer Siedlergruppen nachzukommen, deren Hauptziel es ist, alle Gebiete rund um die Siedlungen, die israelischen Militärlager und die Apartheidmauer zu kontrollieren.“ https://www.palestinechronicle.com/israel-tightens-control-over-area-b-annexation-of-west-bank-begins/
Anmerkung der Redaktion: Laut Oslo-Abkommen ist in der Zone B die Palästinensische Autonomiebehörde für die Zivilverwaltung zuständig. Aber, wie Evelyn Hecht-Galinski zutreffend titelte: „Das elfte Gebot: Israel darf alles“.
Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.