BIP Konferenz in Nürnberg 24.5.24-26.5.24
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Israelis und Palästinenser – Leben unter Diskriminierung und Rechtlosigkeit?

In dieser Woche veröffentlichen wir die Beiträge der Referenten der BIP-Konferenz in Nürnberg, die vom 27. bis 27. Mai stattfand. Der Text unten ist der Vortrag von BIP-Mitglied und Mitbegründer Prof. Dr. Norman Paech mit dem Titel: Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern.
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Mehr als 100 zivilgesellschaftliche Organisationen starten eine Kampagne zur Sammlung von einer Million Unterschriften von EU-Bürger*innen, um den europäischen Handel mit illegalen Siedlungen in besetzten Gebieten zu beenden.
Die Europäische Bürgerinitiative ist ein offizielles Instrument, um die Stimmen der EU-Bürger zu verstärken und ihre demokratische Beteiligung zu verbessern. Wenn die Initiative innerhalb eines Jahres nach ihrem Start eine Million Unterschriften von Bürgerinnen und Bürgern in allen EU-Mitgliedstaaten sammelt, ist die Europäische Kommission gesetzlich verpflichtet, den Vorschlag zu prüfen, mit den Unterzeichnern zu diskutieren und gesetzgeberische Maßnahmen einzuleiten.
Die Europäische Bürgerinitiative (EBI) unterliegt EU-Regularien:  https://www.cidse.org/de/2022/04/07/take-action-to-end-european-trade-with-illegal-settlements/
Hier kann man teilnehmen.
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Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Gäste,

ich begrüße Sie sehr herzlich im Namen des „Bündnisses für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern“. Als wir diese Konferenz planten, war es selbstverständlich, dass Rolf Verleger Sie begrüßen und diesen Vortrag halten sollte. Nun ist er nicht mehr unter uns, er starb am 8. November des vergangenen Jahres. So unbegreiflich früh und traurig für alle, die ihn kannten. Er war der spiritus rector unserer Vereinigung, die authentische Stimme eines Judentums der Versöhnung und der großen humanistischen jüdischen Tradition. Er war ein so freundlicher, zugleich ironischer Gesprächspartner, es war immer eine besonders anregende und angenehme Begegnung mit ihm zusammen zu sein. Wir sollten hier vor unseren Vorträgen und Diskussionen, die durch seine Beiträge mitgeprägt sind, für eine kurze Minute seiner gedenken……… Danke.

Protest in London. Source: Alisdare Hickson, 2021, Flickr.

Unsere Vereinigung hatte bei ihrer Gründung einen anderen Namen: „Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung“. Wir haben ihn aber nach zwei Jahren 2018 geändert in „Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern“. Das ist kein Rückzug von der Forderung nach Beendigung der Besatzung, sondern sagt nur etwas aus über das, was wir als Gerechtigkeit ansehen, und worüber ich hier spreche. Für uns erschließt sich Gerechtigkeit nicht wie bei der griechischen Stoa und später dem Christentum aus der Schöpfungsordnung, in der das jeweils höherwertige Gesetz der Gerechtigkeitsmaßstab für das nachgeordnete Gesetz ist. D.h. dass die Gerechtigkeit des menschlichen Gesetzes sich aus dem Naturrecht und letztlich aus dem göttlichen Recht ableitet – und dementsprechend einen Absolutheits- und Ewigkeitsanspruch verkörpert. Wir – was besonders mir als Jurist entspricht – orientieren uns eher an dem Materialismus der Epikuräer, der bei Marx und Engels die Gerechtigkeit aus jeder Transzendenz und Vorbestimmung löste. Für ihn gibt es keine Gerechtigkeit an sich, sondern nur als Vertrag zwischen den miteinander lebenden Menschen. Grundprinzip eines solchen Vertrages, den der Epikuräer/Materialist als von Natur aus gerecht definiert, ist die Forderung, „einander nicht zu schädigen und sich nicht schädigen zu lassen“. Damit wird der Gerechtigkeitsbegriff materialisiert, relativiert und historisiert, denn er ist zeitlich und geographisch veränderbar. Das befreit uns von mancher dogmatischen Hypothek, die gerade die Gerechtigkeits-Diskussion zwischen Israelis und Palästinensern belastet.

Ich habe in meinen frühen Arbeiten geblättert und bin auf ein Thema gestoßen, welches seit seiner Formulierung weitgehend tabuisiert und skandalisiert wird. Unter dem Titel „Zionismus – Staatsideologie und Rassismus“ schrieb ich 1975 einen Kommentar zu der damals gerade verabschiedeten berüchtigten Resolution 3379, mit der die Generalversammlung mit Stimmenmehrheit (72:35:32) „den Zionismus (als) eine Form des Rassismus und der Rassendiskriminierung“ verurteilte. Ich schrieb damals: „Das nationalsozialistisch-antisemitische Erbe mag noch zu frisch sein, als dass man von der Bundesregierung eine gleiche Erkenntnis der zionistischen Ideologie erwarten könnte, wie von der Mehrheit der UN-Mitglieder. Aber die Bundesregierung stimmte gleichzeitig gegen zwei andere Resolutionen, in denen u.a. das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung und Staatsgründung und die Gleichberechtigung der Palästinensischen Befreiungsfront (PLO) bei der Teilnahme an allen Nahost-Verhandlungen der UNO anerkannt wird. Einen Monat später verurteilten 101 Staaten der UNO die Kollaboration insbesondere Großbritanniens, der USA, Frankreichs, der BRD, Japans und Italiens mit der Republik Südafrika und forderten sie auf, die Zusammenarbeit mit dem „rassistischen Regime“ einzustellen. Auch hiergegen stimmte die Bundesregierung: Man wird weiter die Apartheid verurteilen und sie gleichzeitig durch Handel und wissenschaftliche und technische Kooperation kräftig unterstützen. Dass zwischen Zionismus, Apartheid und Kolonialismus eine enge Beziehung besteht, hat die UNO bereits in ihrer Resolution 3151 vom 14. Dezember 1974 ausgedrückt. Die Resolution 3379 wurde im Dezember 1991 nach der Auflösung der Sowjetunion aufgehoben, der Rassismus der israelischen Politik aber nicht. Und wir müssen feststellen, dass alle Bundesregierungen seitdem in ihrer Nahost-Politik immer tiefer auf diesem abschüssigen Weg des moralischen Verfalls auf die falsche Seite der Geschichte gerutscht sind, wie es jüngst Ilan Pappe der deutschen Politik vorgeworfen hat. Denn es geht nicht um Gerechtigkeit, sondern – so Ilan Pappe – wohl immer noch darum, sich vom Holocaust freizusprechen.

Ich könnte Ihnen nun zur Beantwortung meiner Frage nach Gerechtigkeit über die Vertreibungen und Zerstörungen in Silwan/Ost-Jerusalem oder die aktuelle Vertreibung von 2400 Palästinenserinnen und Palästinenser aus Masafer Yatta und das Urteil des israelischen High Court berichten. Ich muss auf die kaltblütige Ermordung von Shirin Abu Akleh hinweisen, als sie eine Militärrazzia in dem Flüchtlingslager Jenin beobachten wollte. Diese feige Tat hat zu Recht weltweit Entsetzen und Trauer erzeugt. Wird es jemals einen Prozess geben, in dem der Schütze und seine Vorgesetzten zur Verantwortung gezogen werden? Die Antwort ist Nein. Außenministerin Baerbock zeigt sich zwar bestürzt, das Auswärtige Amt bringt jedoch lediglich eine Presseerklärung heraus, mit der es einen tödlichen palästinensischen Anschlag in Eilat fünf Tage zuvor als verabscheuungswürdige Tat verurteilt. Diese Täter werden ohne Zweifel vor Gericht gestellt. Wer aber nennt die Namen der 79 Toten seit dem Amtsantritt Naftali Bennetts im Juni 2021? Im März dieses Jahre 12 Tote, im April 22, so viele Tote wie seit 2008 nicht mehr – und 18 Tote, die Israel zu beklagen hat.

Aber darum geht es jetzt nicht. Alle Illusionen, die sich mit den Namen von Oslo, Camp David und Taba verbunden haben, sind verflogen. Der Streit über eine Ein-Staat- oder Zwei-Staaten-Lösung ist rein spekulativ und akademisch. Und seien wir ehrlich, auch der Streit darüber, ob Apartheid und Siedlerkolonialismus nur hasserfüllte Diffamierungen oder zutreffende sozialökonomische Begriffe der israelischen Realität sind, verändert diese Realität nicht. Wir werden im Laufe unserer Vorträge und Diskussionen eine Fülle deprimierender Beispiele erhalten. Mir geht es hier um die Frage, warum stellen sich Politik und Medien so bedingungslos hinter die Verbrechen – denn Siedlungspolitik, Vertreibung und die regelmäßigen Todesopfer sind Verbrechen -, und wie ist dieser Konsens zu durchbrechen, um die elende Besatzung zu beenden, um Gerechtigkeit zu erlangen?

Als unser Beiratsmitglied Alfred Grosser 2010 zum 72. Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November in der Frankfurter Paulskirche sprach, wurde er vom Zentralrat der Juden schon im Vorfeld heftig kritisiert. Und Rafael Seligman warf ihm aus Tel Aviv vor, dass es ungehörig sei, an einem solchen Tag die israelische Regierung wegen ihres Umgangs mit den Palästinensern zu kritisieren. Grosser antwortete: „Ja, man muss es tun. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass junge Deutsche Auschwitz nur gedenken dürfen, wenn sie gleichzeitig für die Gleichheit der Menschen überall auf der Welt eintreten, also auch für die Palästinenser. Das ist die zwingende Konsequenz aus Auschwitz und ein Gedenken daran verlangt geradezu, das offen auszusprechen.“ Das ist die Interpretation von Auschwitz, wie sie Felicia Langer, Lea Tsemel, Amira Hass, Gideon Levy, Avraham Burg, Moshe Zuckermann und viele andere Jüdinnen und Juden vertreten – sie ist dennoch eine Mindermeinung, vor allem in Deutschland. Aber dieser Streit über die richtige Interpretation von Auschwitz ist offensichtlich der Kern nicht nur der heftigen Antisemitismusvorwürfe, sondern auch der Lähmung der deutschen Politik in der Frage der Gerechtigkeit und ihrer Parteinahme für die israelische Seite.

Achille Mbembe, Farid Esack, Kamila Shamsie, Quelle: Wikipedia, 2015, Wikipedia 2015, Wikipedia 2017

Wer sich die vergangenen Kampagnen gegen Achille Mbembe aus Kamerun wegen einer geplanten Rede auf der Bochumer Ruhr-Triennale, gegen Farid Esack aus Südafrika wegen einer Rede im Hamburger Rathaus oder Kamila Shamsie aus Großbritannien wegen der Verleihung des Nelly-Sachs-Preises der Stadt Dortmund in Erinnerung ruft und den Kampf um Veranstaltungsorte bis vor die höchsten Gerichte verfolgt hat, muss feststellen, dass mit der Verschärfung von Landraub und Vertreibung, sprich der Apartheid in Israel und den besetzten Gebieten, die Abwehr jeglicher Kritik an diesen Zuständen sich in gleichem Maße verschärft hat. Die Feststellung, dass die BDS-Bewegung antisemitisch ist und damit kein Mittel des Widerstands sein kann, hat sogar parlamentarische Weihe bekommen. Das ist zwar seltsam für einen Staat, der mit immer schärferen Sanktionen gegen Iran, Syrien und Russland sogar an die eigene Schmerzgrenze geht, wird aber dann verständlich, wenn wir die Übermacht der Holocaust-Erinnerung in Rechnung stellen. Dieser Beschluss des Bundestages ist der vorläufige Höhepunkt „politischer Rechtgläubigkeit“, wie es der Historiker Wolfgang Reinhard genannt hat, und ein Tiefpunkt parlamentarischer Urteilskraft.

Die Einzigartigkeit des Holocaust und die andauernde Verantwortung der Deutschen für die NS-Verbrechen werden zwar schon lange als Fundament der deutschen Staatsräson verstanden. Mit dem Beschluss greift der Bundestag jedoch über seinen Machtbereich hinaus, indem er eine Widerstandsbewegung in Palästina mit diesem Tabu gleichsam illegalisiert.

Erinnerung bleibt damit nicht mehr im offenen Feld der Kultur, sondern wird zum Machtfaktor mit exekutiven Befugnissen. Dieses Erinnerungsdiktat überlagert nicht nur alle Entscheidungen über die Zukunft des Neben- oder Miteinander von Israelis und Palästinensern, sondern stellt auch alle Diskussionen über den Konflikt unter das Gebot der Trauerarbeit.

Damit hängt zum Beispiel die Ablehnung zusammen, den Holocaust in die Reihe der Verbrechen des Kolonialismus einzuordnen. Die Kanonisierung der Holocaust-Erinnerung verbietet den Vergleich mit anderen Genoziden. Wie eine unablösbare Hypothek belastet sie alle Versuche, die Vergangenheit zu überwinden und die Zukunft neu zu gestalten. Mit dem scharfen Schwert des Antisemitismusvorwurfs kann sie nicht nur Kritik blockieren und die Meinungsfreiheit zensieren, sondern Diskussionen unterbinden und jene, die selbst im Kampf gegen den Antisemitismus stehen, ob Palästinenser, Palästinenserinnen oder nicht-zionistische Juden, selbst zu Antisemiten zu erklären. Es genügt schon das weit hergeholte Gerücht einer obskuren antifaschistischen Ein-Mann-Gruppe aus dem antideutschen Milieu, um die Skandalmaschine der Medien gegen die Ausstellungsmacher der Documenta in Gang zu setzen. Der Versuch der ruangrupa, die Vorwürfe mit den plötzlich nun zahlreichen Kritikern auf einem offenen Forum zu klären, wird blockiert. Es ist eindeutig, dass diese Verleumdungskampagne rassistische Züge trägt und den Antisemitismus instrumentalisiert, um die Perspektive des Globalen Südens im Konzept der Ausstellungsmacher zu entwerten. Ihr Anlass ist die Einladung des palästinensischen Künstlerkollektivs „The Question of Funding“. Sie zeigt zudem, dass es um mehr geht als nur die Ausstellungskonzeption in Frage zu stellen. Es geht um die Stigmatisierung der Palästinenser als antisemitisch und damit um ihren Ausschluss auch aus dem kulturellen Kreis. Der Mythos der Einzigartigkeit verlangt nicht nur die totale Zuwendung zum israelischen Staat, sondern gleichzeitig den Ausschluss der Palästinenser mit ihren legitimen Ansprüchen gegen die koloniale Unterdrückung. Denn Antizionismus ist danach Antisemitismus. Und so wie der Holocaust keine anderen Genozide neben sich duldet, verträgt die Erinnerungskultur als das moralische Fundament der deutschen Politik keine Gleichbehandlung der Palästinenser. Sie ist auf die bedingungslose Unterstützung der israelischen Politik als Staatsräson fixiert, was die Unterstützung der palästinensischen Seite ausschließt.

Das verhindert nicht materielle Hilfslieferungen und Entwicklungsprojekte zur Erleichterung der miserablen Situation. Sie macht sie leichter ertragbar, aber ohne sie zu verändern. Ein Gerechtigkeitsvertrag zwischen Israelis und Palästinensern ist auf dieser Basis unmöglich und steht auch nicht auf der Agenda der deutschen Politik. Der Holocaust ist mit diesem Singularitätsanspruch vollkommen unhistorisch. Er wiegelt seine Einordnung in eine Geschichte der Genozide ab und zementiert seine Ausschließlichkeit gegen alle Lockerungen der Gewalt und Apartheid.
Wir wissen zwar, dass die Holocaust-Erinnerungskultur mit all ihren Ritualen, Denkmälern, Verpflichtungen und Wiedergutmachungsleistungen der Bundesrepublik erst zu ihrer geopolitischen Legitimität verhalf. Weder die Vereinigung der beiden deutschen Staaten noch der Untergang der Sowjetunion und des sozialistischen Lagers haben an diesem ideologischen Fundament Deutschlands bis heute etwas geändert. Wir müssen aber auch erkennen, dass sie sich wie eine Zwangsjacke um alles legt und einschnürt, was für einen Gerechtigkeitsvertrag mit den Palästinenserinnen und Palästinensern notwendig wäre: Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Gewaltfreiheit und Menschenwürde. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich bestreite nicht die Einzigartigkeit des Völkermords der Nazis, des Holocaust, wende mich aber gegen seine Instrumentalisierung zur Unterbindung von Kritik und zur Rechtfertigung der Besatzung. Wir können nicht akzeptieren, dass sich sein Totalitätsanspruch bis auf die Forderung nach Straffreiheit für offensichtliche Verbrechen der Siedler und der israelischen Armee erstreckt, die die Bundesregierung entgegen all ihren beschworenen Werten unterstützt. Sie wehrte sich gemeinsam mit Israel gegen die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs zur Untersuchung möglicher Verbrechen durch die Siedlungspolitik sowie möglicher Kriegsverbrechen im Krieg gegen Gaza 2014 und während des Gaza-Gedenkmarsches 2018. Als sich der Gerichtshof durch diese Allianz, zu der natürlich die USA hinzukommt, nicht beeindrucken ließ, stellte sich die Bundesregierung für die Verteidigung Israels vor dem Gericht zur Verfügung. Seit einem Jahr laufen die Voruntersuchungen. Ob je ein Ermittler des Internationalen Strafgerichtshofs in Israel oder Gaza aufgetaucht ist oder gar eine Anklage vorbereitet wird, ist unbekannt. Dazu wird es auch in absehbarer Zeit nicht kommen, denn der neue Chefankläger Karim Khan hat unmittelbar nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine Ermittlungen gegen Russland wegen möglicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgenommen. Inzwischen hat er 42 Experten zur Sicherung von Beweismaterial in die Ukraine entsandt. Die begrenzten Ressourcen des Strafgerichtshofs lassen weitere Untersuchungen auf anderen Kriegsschauplätzen offensichtlich nicht zu. Khan hatte auch schon die Ermittlungen gegen US-amerikanische Soldaten wegen angeblicher Gräueltaten in Bagram/Afghanistan aus Mangel an Personal eingestellt.

Doch kommen wir zurück auf die Erinnerungs-Kultur, die wie ein Zivilisationsanspruch keine Entlastung duldet. Solange dieser Anspruch besteht, dient er der Legitimierung einer Politik, die im Gleichschritt mit den jeweiligen israelischen Regierungen alle Verbrechen – zwar mit dem Ausdruck des Bedauerns, manchmal sogar der Bestürzung – mitträgt. Die Folgerung ist klar. Erst wenn dieser Totalitätsanspruch sich nicht mehr über alle Gerechtigkeitsansprüche der Palästinenser legt und sie schon im Ansatz erstickt, wird es einen Ausgleich zwischen den beiden Völkern geben, der den Begriff der Gerechtigkeit verdient. Das wird die Trennung von einem expansiven und militanten Zionismus in der Tradition von Wlasimir Zeev Jabotinsky und die Akzeptanz eines liberalen Zionismus etwa in der Tradition von Uri Avneri erfordern. Es würde von der israelischen Gesellschaft die Zustimmung zu einem Frieden ohne Stiefel auf dem Nacken eines kolonisierten Volks verlangen. Auch die deutsche Politik müsste sich aus den Fesseln ihres Erinnerungsdogmas befreien und den Gerechtigkeitsanspruch der Palästinenser frei von der Holocaustlast anerkennen. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich die Legitimität ja Notwendigkeit der Erinnerung an die Verbrechen der Nazizeit bestreite. Die Erinnerung sollte allerdings soweit von einer Palästinapolitik getrennt werden, dass sie einen unabhängigen Umgang mit den legitimen Interessen der palästinensischen Gesellschaft ermöglicht. Palästinensische Forderungen müssen nicht erst durch den Holocaustfilter gezogen werden, ehe sie als legitim angesehen und erfüllt werden können.

Zeev Jabotinsky, Quelle: 1930er, Wikipedia.

Derzeit sind allerdings sowohl die israelische wie die deutsche Politik weit davon entfernt. Es ist schon erstaunlich, dass die deutsche Politik die eigenen, ohne Unterlass mit höchster Emphase beschworenen Werte Lügen straft, wenn es um Israel geht. Nichts, weder die zahllosen Resolutionen der UNO noch die horrenden Opfer der Palästinenserinnen und Palästinenser, haben zu einer Korrektur der Politik geführt. Es ist deshalb auch höchst unwahrscheinlich, dass die palästinensische BDS-Bewegung zu einer raschen Veränderung der Politik führen wird. Sie ist jedoch das einzig verbliebene Mittel des Widerstandes, welches den Palästinensern geblieben ist, um an die internationale Öffentlichkeit um Gerechtigkeit zu appellieren. Die überwältigende Stimmenmehrheit, die regelmäßig in der UNO-Generalversammlung bei Resolutionen zur Verurteilung der israelischen Besatzungspolitik zusammenkommt, hat die israelische Politik bisher nicht bewegen können. Kein Staat ist derzeit zu Sanktionen bereit, die sonst ohne Zögern gegen den Iran, Syrien, Nordkorea, Venezuela oder Kuba verhängt werden. In Südafrika haben sie nach Jahrzehnten zum Sturz des weißen Rassistenregimes geführt. Gegen Sanktionen lassen sich viele Gründe anführen, aber niemand ist berechtigt, die BDS-Bewegung, das letzte Mittel friedlichen Widerstandes gegen jahrzehntelange Gewalt und Unterdrückung als antisemitisch zu diskreditieren. Dies ist in unserem Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e. V. (BIP) unstrittig.

Jede Diskussion, jede Rede muss sich am Ende fragen, was wir dazu beitragen können, dass diese seit nun über 50 Jahre offene Wunde der Besatzung geschlossen und Gerechtigkeit geschaffen werden kann. Niemand ist verpflichtet, sich der palästinensischen BDS-Bewegung anzuschließen oder sie zu unterstützen. Selbst wer sich dazu entschließt, muss sich fragen, ob das genügt und welche Alternativen es gibt. Das ist keine Frage der Resignation. Es gibt viele Möglichkeiten der Solidarität mit dem Widerstand und diese Konferenz soll ein Zeichen dafür sein. Die Vorträge an diesen drei Tagen werden das erweisen.

1934 schrieb Bertolt Brecht in Berlin sein „Lob der Dialektik“. Stellen Sie sich vor, er hätte es gestern in Jerusalem geschrieben:

Das Unrecht geht heute einher mit sicherem Schritt.
Die Unterdrücker richten sich ein auf zehntausend Jahre.
Die Gewalt versichert: So wie es ist, bleibt es.
Keine Stimme ertönt außer der Stimme der Herrschenden.
Und auf den Märkten sagt die Ausbeutung laut:
Jetzt beginne ich erst.
Aber von den Unterdrückten sagen viele jetzt:
Was wir wollen, geht niemals.
Wer noch lebt, sage nicht niemals!
Das Sichere ist nicht sicher.
So, wie es ist, bleibt es nicht.
Wenn die Herrschenden gesprochen haben
Werden die Beherrschten sprechen
Wer wagt zu sagen: niemals?
An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt?
An uns.
An wem liegt es, wenn sie zerbrochen wird?
Ebenfalls an uns.
Wer niedergeschlagen wird, der erhebe sich!
Wer verloren ist, kämpfe!
Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?
Denn die Besiegten von heute sind die Sieger von morgen
Und aus niemals wird: heute noch.

Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.

Norman Paech, Nürnberg, 27. Mai 2022

Weitere Vorträge von der Konferenz:

Der Vortrag kann man auch per Video sehen und hören:
https://www.youtube.com/watch?v=1FBo7CkOvbk&feature=youtu.be&ab_channel=Segror2

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Eine neue Folge des BIP-Gesprächs ist erschienen. Diese Woche sprechen wir mit BIP-Mitglied Dieter Kaltenhäuser.
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Am 13. Juli lädt BIP ein zur Veranstaltung mit Dr. Tamar Amar-Dahl zum Thema „Israel im neuen Millennium: Okkupation, Zivilmilitarismus, Neo-Zionismus“. Hier ist die Einladung.

BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden.

Eine weitere palästinensische Journalistin vom israelischen Militär getötet

„NUR 21 TAGE nach der Ermordung der palästinensisch-amerikanischen Al Jazeera-Journalistin Shireen Abu Akleh durch die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) wurde erneut eine Journalistin getötet. Das jüngste Opfer ist die 31-jährige Ghufran Harun Warasneh, die am 1. Juni von IDF-Soldaten erschossen wurde, als sie an einem israelischen Kontrollpunkt am Eingang des Flüchtlingslagers al-‚Arroub in der Nähe von Hebron verhört wurde.
Das Lager, das 1949 nach der Nakba vom Hilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA) errichtet wurde, steht seit 1967 unter israelischer Besatzung und beherbergt heute mehr als 10 000 vertriebene Palästinenser.
Warasneh wurde ermordet, als sie mit einem Freund auf dem Weg zu ihrem neuen Job als Radiomoderatorin bei Dream, einer lokalen Nachrichtenagentur in Hebron, war. Middle East Eye berichtet, dass ihr erster Auftrag ein Bericht über Shireen Abu Akleh war.
Israelischen Medienberichten zufolge ereignete sich die Schießerei, als Warasneh versuchte, einen Soldaten zu erstechen, woraufhin die Soldaten das Feuer eröffneten, um eine „terroristische Bedrohung“ abzuwehren. Augenzeugen bestreiten diese Aussage jedoch und sagten, die Journalistin habe nichts Falsches getan. Ihr Bruder Mohammad berichtete, sie sei „zweimal in die linke Seite, in die Achselhöhle und in die Brust“ geschossen worden und habe 20 Minuten lang in ihrem Blut liegen müssen, weil ein Krankenwagen des Palästinensischen Roten Halbmonds an dem Kontrollpunkt aufgehalten wurde.
Middle East Eye berichtete: „Nachdem ihr Leichnam für die Beerdigung vorbereitet worden war, trugen ihre Familie und Nachbarn Warasneh zu ihrer letzten Ruhestätte, wobei sie an der Stelle vorbeikommen mussten, an der sie getötet worden war. Dort wartete eine Gruppe israelischer Soldaten auf sie. Die Beerdigungszeremonie wurde angegriffen, als die Soldaten versuchten, diese zu verhindern, indem sie Blendgranaten und Tränengas abfeuerten und die Sargträger schlugen. Ihr Bruder Mohammad wurde in demselben Artikel mit den Worten zitiert: „Abu Akleh war Journalist. Meine Schwester war eine Journalistin. Abu Akleh wurde bei ihrer Arbeit getötet. Meine Schwester wurde bei ihrer Arbeit getötet.“
Im Januar dieses Jahres wurde Warasneh, nachdem sie über einen pro-palästinensischen Marsch berichtet hatte, für drei Monate inhaftiert und ihre Kameraausrüstung beschlagnahmt und zerstört. Dies ist ein Indiz dafür, dass sie lange vor ihrer Ermordung von den israelischen Behörden ins Visier genommen wurde.
Ohne internationalen Druck, eine unvoreingenommene, unparteiische, umfassende und transparente Untersuchung ihres Todes durchzuführen, ist es höchst unwahrscheinlich, dass die israelischen Behörden einen Fehler bei den IDF finden werden. Nach dem üblichen israelischen Schema wird ein Narrativ geschaffen werden, das Warasneh beschuldigt, an ihrem eigenen Tod mitschuldig zu sein.
Die gezielte Tötung von Shireen Abu Akleh und nun die mutwillige Tötung von Ghufran Harun Warasneh kommt einer open season zur Tötung von Journalisten durch IDF-Kräfte gleich. Mit diesem jüngsten Mord erhöht sich die Zahl der von den IDF seit dem Jahr 2000 getöteten (meist palästinensischen) Journalisten auf 45.“
Phil Pasquini, Veröffentlicht am 15. Juni 2022 in https://www.wrmea.org/web-exclusives/another-palestinian-journalist-killed-by-the-idf.html
Ebenso unter anderen: https://www.womeninjournalism.org/threats-all/israel-ghufran-harun-warasneh-second-palestinian-woman-journalist-killed-in-west-bank-in-a-month


Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.

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