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Sechs palästinensische Gefangene entkommen aus dem Gilboa Gefängnis

Trotz extremer Sicherheitsmaßnahmen gelang es sechs palästinensischen politischen Gefangenen aus Jenin, einen Tunnel zu graben und aus dem Gilboa-Gefängnis im Norden Israels zu entkommen. Die Fahndung nach ihnen dauert an. Die Bedeutung dieses Ausbruchs ist weder den Palästinensern noch den Israelis entgangen: Er ist ein Symbol für den Freiheitswillen des palästinensischen Volkes.

Sechs palästinensische Gefangene sind aus dem israelischen Hochsicherheitsgefängnis Gilboa im Norden Israels geflohen, indem sie einen selbst gebauten Tunnel benutzten und ihre Flucht offenbar mit Hilfe geschmuggelter Handys koordinierten. Die Fahndung in der gesamten Region, die Schlagzeilen in israelischen Zeitungen und die Reaktionen in den sozialen Medien ließen das Ereignis am jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana wie einen Actionfilm erscheinen. Gerüchte, dass die Gefangenen nach Jordanien geflohen seien, wurden ebenso verbreitet wie Gerüchte, dass die sechs einen Terroranschlag in Israel während der Feiertage planen.

Palästinensische Karikatur. Quelle: Twitter.

Nach Angaben von Addameer befinden sich derzeit 4.650 palästinensische politische Gefangene in israelischen Gefängnissen. Ausbrüche sind äußerst selten. Die Namen der sechs entkommenen Gefangenen sind: Mahmoud Aarada (46), der eine lebenslange Haftstrafe verbüßt, sein Bruder Mohamed Aarada (39), der drei lebenslange Haftstrafen und 20 zusätzliche Jahre verbüßt, Iham Camamgi (35), der eine lebenslange Haftstrafe wegen Mordes an einem Israeli verbüßt, Munadel Infi’at (26), der ohne Anklage in Administrativhaft einsitzt, Yaakoub Qadari (49), der zwei lebenslange Haftstrafen und zusätzliche 35 Jahre verbüßt, und Zakaria Zubeidi (45), der seit zwei Jahren im Gefängnis sitzt, da sein Prozess wegen angeblicher Beteiligung an einem Anschlag aus dem Jahr 2002 noch andauert. Am Freitagabend, dem 10. September, wurden vier der entkommenen Gefangenen wieder gefangen genommen. Nur Iham Cmamagi und Munadel Infi‘at sind weiterhin auf der Flucht.

Die Flucht war für den Feiertag Rosch Haschana geplant, obwohl das gesamte Westjordanland während des Feiertags gesperrt ist. Die israelische Regierung und der israelische Strafvollzugsdienst (IPS) reagierten überrascht und gedemütigt. Der Gefängnisausbruch wurde zu einem symbolischen Ereignis, das den Palästinensern Hoffnung macht: Auch Palästinenser, die unter der israelischen Besatzung leben, werden einen Weg zur Befreiung finden. In den sozialen Medien erschienen zahllose Witze und Filmverweise, von denen sich viele auf den Film „Shawshank Redemption“ (1994) mit Morgan Freeman bezogen, in dem sich Gefangene einen Weg aus einem Hochsicherheitsgefängnis bahnen.

Der bekannte israelische Kriegsdienstverweigerer Yonatan Shapira postete das Bild des Tunnelausgangs auf Facebook und schrieb „Shana Tova“ (Frohes neues Jahr) in die Mitte. Quelle: Facebook.

Palästinensische Gefangene erhalten in israelischen Gefängnissen nur minimale Leistungen und müssen die meisten Lebensmittel und Hygieneartikel aus eigener Tasche bezahlen. Obwohl die Palästinensische Autonomiebehörde Zahlungen auf die Kantinenkonten der Gefangenen überweist, um sie am Leben zu erhalten, haben rechtsgerichtete israelische Politiker diese Praxis kritisiert. Sie schlagen jedoch nicht vor, dass die israelischen Behörden für das Essen der Gefangenen aufkommen, wie sie es bei israelischen Gefangenen tun. Die Knesset verabschiedete 2018 ein Gesetz, mit dem die Zahlungen an die Kantinenkonten der Gefangenen von den Steuergeldern abgezogen werden, die Israel im Namen der Palästinensischen Autonomiebehörde einnimmt und zu deren Überweisung es gesetzlich verpflichtet ist (siehe BIP-Aktuell #166).

Trotz der mangelnden Bereitschaft der israelischen Behörden, palästinensische Gefangene menschenwürdig zu versorgen, ist kein Aspekt der Besatzung so teuer wie das Gefängnissystem. Dies geht aus den Haushaltsplänen der israelischen Regierung hervor: Der Haushalt des israelischen Polizei- und Gefängnisministeriums ist seit der Besetzung von 1967 bis 2008 jedes Jahr um 18,8 % gestiegen – mehr als der jedes anderen Ministeriums. Allein das Budget des Israelischen Strafvollzugsdienstes (IPS) hat im Jahr 2020 mit 3,8 Milliarden Schekel (1 Milliarde Euro) einen Höchststand erreicht. In Israel ist das Verhältnis zwischen Gefangenen und Wärtern 2:1, mehr Wärter als in jedem anderen Land der Welt (Quelle auf Hebräisch).

Das Geld, das nicht für den Unterhalt der Gefangenen verwendet wird, wird in die Sicherheit und die strenge Kontrolle der Gefängnisse investiert. Der Ausbruch hat diese Milliarden Schekel jetzt ins Lächerliche gezogen.

Während die israelischen Zeitungen von einer Sicherheitslücke sprechen, verschweigen sie die größte Lücke von allen – die Blindheit und Arroganz der israelischen Kolonialgesellschaft, die von den Gefangenen leicht überlistet werden konnte. In der halbdokumentarischen Sendung Megiddo über das Megiddo-Gefängnis für palästinensische politische Gefangene im Norden Israels ging es um eine Geheimdienstoperation, nachdem ein Gefangener ein Bild gemalt hatte, das der Geheimdienst des Gefängnisses als Plan für eine Entführung interpretierte. Der Nachrichtendienst des Gefängnisses wollte keine arabischen Texte lesen oder arabischen Gesprächen zuhören und konzentrierte sich auf eine Zeichnung. Das Studium der arabischen Sprache durch die israelischen Nachrichtendienste hat in den letzten Jahrzehnten stetig abgenommen, da diese Praxis als erniedrigend angesehen wird, so als würden die Beamten „will go native“ (eine Befürchtung, die im britischen Empire oft geäußert wurde, nach der britische Beamte mit der einheimischen Bevölkerung sympathisieren würden).

In einer kürzlich ausgestrahlten satirischen Fernsehsendung namens Shabas (der hebräische Name für IPS) wurde ein Fantasiegefängnis gezeigt, in dem israelische und palästinensische Gefangene Seite an Seite untergebracht sind. In der Sendung werden die palästinensischen Gefangenen als unpolitisch dargestellt, besessen von veganem Essen, Geschlechtsidentität, Fernsehen und Süßigkeiten. Wenn sich ihnen die Möglichkeit bietet, ihre Entlassung aus dem Gefängnis zu fordern, entscheiden sich die fiktiven Gefangenen dafür, hinter Gittern zu bleiben – eine klare Widerspiegelung der israelischen Vorstellung von Palästinensern als minderwertig, dumm und faul, die für den „Luxus“ des Lebens im Gefängnis dankbar sein sollten.

Ein hochrangiger IPS-Beamter erklärte gegenüber der Zeitung Haaretz (Quelle auf Hebräisch), es sei ein Fehler gewesen, Gefangene aus Jenin im Gefängnis von Gilboa unterzubringen, das nicht weit vom nördlichen Westjordanland entfernt ist, wo Jenin liegt. Gemäß der IPS-Politik werden diese Gefangenen in das Ketziot (arabisch: Ansar 3)- Gefängnis im Süden gebracht. Diese Aussage zeigt die Gleichgültigkeit der israelischen Behörden gegenüber dem Völkerrecht. Gemäß Artikel 76 der Vierten Genfer Konvention dürfen die Gefangenen nicht außerhalb des besetzten Gebiets verlegt werden. Die systematische Verlegung von palästinensischen Gefangenen in Gefängnisse innerhalb Israels stellt außerdem eine Verletzung ihres Rechts auf Besuch von Familienangehörigen dar (siehe BIP-Aktuell #166).

Aus weiteren IPS-Erklärungen (Quelle auf Hebräisch) geht hervor, dass die Flucht sowohl innerhalb als auch außerhalb des Gefängnisses in Gilboa mit Hilfe geschmuggelter Telefone sorgfältig geplant wurde. Die israelischen Gefängniswärter zögern, nach Handys zu suchen und sie zu konfiszieren und entschieden sich für eine technische Lösung. Es wurden Geräte installiert, die eine Strahlung aussenden, um den Mobilfunkverkehr zu unterbrechen. Anhaltende Proteste der Hamas-Gefangenen zwangen das IPS, die Leistung dieser Geräte zu reduzieren. Der typische Ansatz der israelischen Sicherheitsbehörden besteht darin, sich stark auf technische Lösungen zu verlassen, anstatt zu versuchen, sich in die Situation der Gefangenen hineinzudenken. Daher beruhigte das Vorhandensein der Anti-Mobilfunk-Geräte die Gefängnisbehörden, selbst wenn sie auf eine niedrige Stufe eingestellt waren. Dies hinderte die Gefangenen jedoch nicht, zu telefonieren und ihre Flucht zu planen.

Einer der sechs Gefangenen, Zakaria Zubeidi, ist in Israel durch seine Auftritte in Filmen und Fernsehinterviews sehr bekannt. Besonders bekannt ist er für seine Beziehung zu Tali Fahima, einer jüdischen Aktivistin, die sich als Freiwillige im Freedom Theatre Jenin engagierte und anbot, als menschlicher Schutzschild zu dienen, um das israelische Militär daran zu hindern, Zubeidi zu ermorden. Fahima wurde über ein Jahr lang inhaftiert. Die israelischen Medien weigerten sich, Fahimas politische und moralische Gründe für ihren Aktivismus anzuerkennen und behaupteten, sie habe eine romantische Affäre mit Zubeidi gehabt – ein unbegründetes Gerücht, das den Israelis die Geschichte schmackhafter machen sollte.

Zakaria Zubeidi. Quelle: Freedom Theatre Jenin.

Die sechs Gefangenen, die entkommen sind, sind Mitglieder verschiedener politischer Parteien (Fatah und Islamischer Dschihad), stammen jedoch alle aus Jenin und haben als Team zusammengearbeitet. Auch wenn nicht alle sechs verurteilt wurden und die Anschuldigungen gegen sie sehr unterschiedlich sind, wussten alle sechs, dass das von den israelischen Behörden betriebene Apartheidsystem die Chance auf einen fairen Prozess verhindert. Palästinenser aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen sind staatenlos und dürfen keine offiziellen Funktionen im Justizsystem wahrnehmen. Mohamed Al-Halabi, ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation, der während seines laufenden Prozesses seit fünf Jahren im Gefängnis sitzt, hat sich geweigert, ein Geständnis zu unterschreiben, das seine Freilassung für die verbüßte Zeit sichern würde. Die Vereinten Nationen und insbesondere der Sonderberichterstatter für Palästina Michael Lynk (siehe BIP-Aktuell #178) forderten, ihm ein faires Verfahren zu gewähren, aber die Weigerung der israelischen Behörden, Palästinensern faire Verfahren zu gewähren, lässt keine andere Wahl, als alle palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen als politische Gefangene zu betrachten, die ein Recht auf Flucht haben.

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Ein Update zu BIP-Aktuell #181: Es wurde bekannt, dass das deutsche Bundeskriminalamt (BKA), das dem Innenministerium unterstellt ist, 2019 die Spionagesoftware Pegasus von der israelischen Firma NSO gekauft hat. Die Spionagesoftware, die zur Überwachung von Menschenrechtsaktivisten, Anwälten, Politikern und Journalisten auf der ganzen Welt eingesetzt wird, könnte auch gegen deutsche Bürgerinnen und Bürger eingesetzt werden, aber das BKA behauptet, dass es das Programm nur unter Einschränkungen verwendet hat.

BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden.

Wochenbilanz: Fünf tote Palästinenser – ein totes palästinensisches Kind – ein toter israelischer Soldat
Am 31. August 2021 eröffnete die israelische Armee am westlichen Eingang des besetzten Dorfes Beit Ur Al Tahta das Feuer auf Ra’ed Yousif Rashed Jadallah (39), der auf dem Heimweg von seiner Arbeit in Israel war und ließ ihn anschließend blutend liegen, bis er starb. Wenige Tage zuvor, am 28. August, erklärte das Al Shifa Medizinzentrum in Gaza den erst 13-jährigen Omar H. M. Abu Al Neil für tot. Der Junge wurde am 21. August 2021 bei einer Demonstration im Osten des Gazastreifens durch israelische Scharfschützen verletzt, die eingesetzt wurden, um den friedlichen Protest zu unterdrücken. Sie schossen ihm in den Kopf. Er ist das zweite palästinensische Todesopfer dieser Demo.
Der israelische Scharfschütze, der eine Woche zuvor an der Grüne Linie zu Gaza auf Demonstranten schoss und letztlich selbst verletzt worden war, erlag seinen Wunden. Ein weiterer Palästinenser, Ahmad Saleh (26), verstarb diese Woche durch eine Schussverletzung, die er bei einer Demonstration in Gaza durch israelische Soldaten erlitt.

Besatzungsalltag im Westjordanland
Mindestens 128 Mal fiel die israelische Armee in Ortschaften des besetzten Westjordanlandes, einschließlich Jerusalem, ein. Dabei wurden 66 Zivilisten willkürlich verhaftet, darunter 13 Kinder und 4 Frauen.

Systematische Vertreibung
Die systematische Vertreibung von Palästinensern zu Gunsten israelischer Siedler durch Verhinderung und Zerstörung von Wohneigentum sowie deren wirtschaftlicher Grundlage ging auch diese Woche ungehindert weiter. In Vororten Jerusalems wurden gleich vier palästinensische Wohnhäuser zerstört, wobei den Abriss die Besitzer selbst durchführen mussten: Obwohl Israel als illegitime Besatzungsmacht kein Recht hat, palästinensisches Wohneigentum zu zerstören, stellt Israel nicht nur Abrissbescheide aus, sondern stellt die entstehenden Kosten den betroffenen Familien auch noch in Rechnung, was oftmals den finanziellen Ruin dieser Familien bedeutet. Daher sehen sich viele gezwungen, ihr mühsam aufgebautes Haus eigenhändig wieder abzureißen. https://occupied-news.medium.com/wochenbilanz-5-tote-palästinenser-1-totes-palästinensisches-kind-1-toter-israelischer-eb298f83e258?source=user_profile

Am 24. März 2021 wurde ein 17jähriger Junge aus Jenin von israelischen Soldaten festgenommen, als er versuchte, durch den Sperrzaun nach Israel zur Arbeit zu gelangen. Er verbrachte 17 Tage in Einzelhaft, ohne vorher über seine Rechte informiert zu werden, berichtet Military Court Watch:
(http://www.militarycourtwatch.org/page.php?id=g8dNBvN8Sxa1566297ApRfzgPhG2M)

Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand un dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. 
V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.

Ein Kommentar

  1. Der Mut dieser sechs Palästinenser ist bewundernswert. Es hätte schließlich alles anders ausgehen können. Und ganz super finde eure Berichterstattung darüber. Anhand des Ausbruchs wurde uns Lesern die Gefängnisrealität in Israel verdeutlicht.

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