Kann die Geheimpolizei ein soziales Problem lösen, zu dem sie selbst beigetragen hat?
Angesichts der rapide ansteigenden Mordrate unter der palästinensischen Bevölkerung innerhalb Israels haben die Forderungen palästinensischer Bürger an die israelische Regierung, Maßnahmen zur Eindämmung der Gewalt zu ergreifen, erheblich zugenommen. Es bleibt jedoch die Frage, mit welchen Mitteln das Leben der palästinensischen Bürger*innen in Israel geschützt werden kann. Die israelische Regierung will mit Überwachung, Verhaftungen und Gewalt vorgehen, die Palästinenser*innen hingegen fordern ein umfassendes Programm, das die tiefen sozialen Wurzeln des Problems angeht.
In den letzten zehn Jahren hat eine große Bewegung in der israelischen Gesellschaft an Dynamik gewonnen: Palästinensische Bürger*innen Israels fordern eine Eindämmung der Gewalt in ihrer Gesellschaft. Die tödliche Gewalt wird von kriminellen Organisationen und innerhalb von Familien verübt, deren Opfer meist Frauen sind. Palästinensische Organisationen fordern daher dringend ein Eingreifen der Regierung.
Die arabische Partei Vereinte Liste steht in diesem Kampf an vorderster Front. Da sie Oppositionspartei ist, wurden ihre Forderungen jedoch ignoriert. Rechtsgerichtete israelische Politiker*innen und Journalist*innen haben der Vereinten Listevorgeworfen, sie kümmere sich nur um die Palästinenser*innen im Westjordanland und im Gazastreifen und nicht um ihre eigenen Wähler, doch Studien belegen eher das Gegenteil.
Iman Ahmad Awad wurde 2018 im Alter von 29 Jahren ermordet. Ihr Ehemann hat gestanden, sie getötet zu haben. Quelle: Facebook.
Im Jahr 2019 sagte der damalige israelische Polizeiminister Gilad Erdan, dass „die arabische Gesellschaft von Natur aus gewalttätig ist, das sind kulturelle Codes. Konflikte, die wir mit einem Rechtsstreit lösen – sie ziehen Messer und setzen Waffen ein“ (siehe BIP-Aktuell #161).
Diese Aussage spiegelt die Position der israelischen Regierung wider: Das Problem der Gewalt innerhalb der Gesellschaft der palästinensischen Bürger*innen Israels, von ihr als „israelische Araber“ bezeichnet, sei ihnen kulturell einfach inhärent und könne nicht gelöst werden. Die Fakten widerlegen jedoch diese rassistische Behauptung. Nach Angaben von Nadav Frankovitz (Haoketz, Quelle auf Hebräisch) gab es zwischen 1980 und 2000 80 Morde in der palästinensisch-israelischen Gesellschaft. In den Jahren 2000 bis 2021 waren es 1.500 Morde. Ein Anstieg von fast 2.000%, und diese Steigerungsrate hält an. Das Jahr 2020 war ein Spitzenjahr mit 113 Mordfällen. Im Jahr 2021 gab es bereits mehr als 100 Morde, und es wird erwartet, dass die Zahl den Spitzenwert von 2020 übersteigen wird.
Irgendetwas ist also passiert, das diese Gewalt explodieren ließ, denn Palästinenser sind nicht „von Natur aus“ gewalttätig. Wenn das der Fall wäre, hätte es in den Jahrzehnten zuvor auch zu vielen Morden kommen müssen. 2017 legte die palästinensische Knessetabgeordnete der Vereinten Liste, Hanin Zoabi, dem Rechnungshof einen Bericht über die Gründe für die steigende Gewalt vor. Der Bericht zeigt, dass sich 80 % aller illegalen und nicht registrierten Waffen in Israel in den Händen palästinensischer Bürger*innen befinden (Quelle auf Hebräisch). Zoabi beschuldigte in ihrem Bericht die israelischen Behörden, durch ihre Politik die palästinensische Gesellschaft aktiv zu schwächen, zu spalten und sie bei den Bildungsausgaben und im öffentlichen Dienst zu diskriminieren.
Die Ereignisse vom Oktober 2000, als Tausende von palästinensischen Bürgern zu Beginn der Zweiten Intifada zur Unterstützung des palästinensischen Aufstands demonstrierten, könnten auch erklären, warum sich die israelische Polizei als Feind der palästinensischen Bevölkerung positioniert hat, der sie eigentlich dienen soll. Im Oktober 2000 erschoss die israelische Polizei 13 palästinensische Bürger Israels. Die Demonstranten waren alle unbewaffnet. Die Or-Kommission untersuchte diese Tötungen und veröffentlichte 2003 ihre Ergebnisse. Obwohl die Kommission feststellte, dass die Polizei unrechtmäßig mit scharfen Waffen auf unbewaffnete Demonstranten schoss und eine Reihe von Verstößen beging, wurde niemand zur Rechenschaft gezogen – gegen keinen der Mörder wurde Anklage erhoben.
Zamzam Mahamid, 19 Jahre alt, wurde im März 2020 ermordet. Quelle: Facebook.
Über einen wesentlichen Grund berichteteHaaretz im August: Die israelische Polizei wendet den Großteil ihrer Ressourcen für die Bekämpfung von Verbrechen innerhalb der jüdischen Gesellschaft auf. Die Polizei schützt Menschen, die Verbrechen anzeigen, nicht vor Vergeltungsmaßnahmen, nicht einmal besucht sie die Tatorte mehr als einmal. Während 71 % der Mordfälle an jüdischen Israelis aufgeklärt und die Mörder gefasst werden konnten, dagegen nur 23 % der Mordfälle an palästinensischen Israelis.
Als die neue Mehrheitskoalition im Juni vereidigt wurde, betonte die arabische Partei Raam, die sich von der Vereinten Liste abgespalten hatte, dass die Koalition eine Lösung für das Problem der Gewalt innerhalb der palästinensischen Gesellschaft suchen werde. Die Regierung verpflichtete sich, Milliarden von Schekel auszugeben, um die sozioökonomische Ungleichheit zu verringern und die Polizei zu stärken. Im August initiierte die Vereinte Liste eine Abstimmung in der Knesset, mit der ein Untersuchungsausschuss gefordert wurde, der die Gründe für die Gewalt in der palästinensischen Gesellschaft in Israel untersucht. Der Antrag wurde von der oppositionellen Likud-Partei unterstützt, scheiterte jedoch, weil alle Koalitionsparteien, einschließlich Meretz (linkszionistisch) und Raam, dagegen stimmten. Im September kündigte Premierminister Bennett an, dass er persönlich einen ministeriellen Ausschuss zur Bekämpfung der Gewalt in der palästinensischen- Gesellschaft leiten wird.
Die Frage, die in der israelischen Gesellschaft sehr umstritten ist, lautet nicht, ob das Problem angegangen werden muss, sondern wie. Die Regierung befürwortet den Einsatz der israelischen Sicherheitskräfte, insbesondere der Geheimpolizei (Shabak oder Shin Bet, offiziell als ISA bekannt), um die illegalen Waffen zu finden, mehr Mordfälle aufzuklären und Anstifter zur Gewalt zu verhaften. Die Zeitung Haaretz, viele linke und liberale Gruppen in der israelischen Gesellschaft lehnen dies ab und argumentieren, dass soziale Probleme in der Zivilbevölkerung nicht durch den Einsatz von Instrumenten gelöst werden können, die für die militärische Besatzung entwickelt wurden, wie Überwachung, Folter, administrative Verhaftung und Rekrutierung von Kollaborateuren.
Fida Nara-Taboni ist Leiterin der nördlichen Niederlassung der NRO Shatil des New Israel Fund und befasst sich mit sozialen Problemen von Juden und Palästinensern. Sie schrieb in Haaretz (Quelle auf Hebräisch), dass die Gewalt in einer Gesellschaft, die von Diskriminierung und Armut, mangelnden Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten und ständiger politischer Unterdrückung geprägt ist, nicht von der israelischen Regierung, die sich weigert, die Identität der Palästinenser*innen anzuerkennen und sie als Palästinenser*innen zu bezeichnen, durch Gewaltmaßnahmen verringert werden kann. Nadav Frankovitz warnte, dass der Einsatz der Geheimpolizei einer Wiedereinführung des Militärrechts gleichkäme, die den palästinensischen Bürger*innen Israels in den Jahren 1948-1966 aufgezwungen wurde.
Frankovitz‘ Behauptung stützt sich auf die Erkenntnisse des Historikers Hillel Cohen in seinem Buch „Good Arabs“ [„Gute Araber“], der feststellte, dass die Geheimpolizei in den Jahren der Militärregierung Kollaborateure unter der palästinensischen Bevölkerung rekrutierte und diese für Informationen mit Waffen bezahlte. Die illegale Verbreitung von Waffen lässt sich also auf dieselbe israelische Institution zurückführen, die jetzt dazu aufgerufen ist, sie einzusammeln.
Ranin Rahal, wurde 2019 im Alter von 19 Jahren von ihrem Bruder ermordet. Quelle: Facebook.
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Eine neue Folgedes Podcasts BIP-Gespräch ist da. Diese Woche sprechen wir mit BIP-Vorstandmitglied Dr. Götz Schindler.
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Wir laden Sie ein zum online-Vortrag unseres Geschäftsführers Dr. Shir Hever am 21. Oktober um 19 Uhr. Das Thema heißt „Neue Ausrichtung der israelischen Außenpolitik“:
https://bibjetzt.wordpress.com/neue-aneue-ausrichtung-der-israelischen-aussenpolitikusrichtung-der-israelischen-aussenpolitik/
Anmeldungen an: martin.breidert@gmx.de
BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden.
Es ist an der Zeit, zuzugeben: Israel ist ein Apartheid-Regime
Yehudit Karp, eine ehemalige stellvertretende Generalstaatsanwältin und Mitglied des New Israel Fund ebenso wie von der Menschenrechtsgruppe Yesh Din und der Gruppe „Freunde von Breaking the Silence“, schreibt über ein rassistisches Urteil des Obersten Gerichtshofes in Haaretz am 11.10.:
„Im vorliegenden Fall geht es um eine Petition, die sechs Palästinenser, die in dem von Israel kontrollierten Gebiet leben, zusammen mit Yesh Din – Volunteers for Human Rights und Physicians for Human Rights – beim Obersten Gerichtshof eingereicht haben, um sich gegen eine Anordnung bezüglich der Sicherheitsrichtlinien zu wehren, die laut der Petition das Betreten und Durchsuchen palästinensischer Häuser ohne richterliche Anordnung oder externe Überwachung und ohne klare Beschränkungen zulässt und damit der willkürlichen Ausübung von Befugnissen Vorschub leistet.
Die Petenten beschwerten sich über die Rechtswidrigkeit der Anordnung im Hinblick auf das internationale und israelische Recht sowie über die rechtswidrige Diskriminierung, die die Grundrechte der palästinensischen Bevölkerung im Vergleich zu den jüdischen Bewohnern untergräbt. Der Oberste Gerichtshof lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass es sich nicht um eine Diskriminierung unter Gleichen handelt, sondern um eine zulässige Unterscheidung zwischen Bevölkerungsgruppen, die sich aus Sicherheitsgründen macht, und weil er der Ansicht ist, dass die Grundrechte der Palästinenser so weit wie möglich im Rahmen der Sicherheitserfordernisse gewahrt werden.“
Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever.
V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.