Israel bedroht 1,4 Millionen Palästinenser in Rafah
BIP-Aktuell #293:
- In Rafah bahnt sich eine Katastrophe an
- Palästinensische Jugendliche schreiben Testamente, und das aus gutem Grund
Rafah ist eine Stadt mit einer reichen Geschichte, die durch den britischen Kolonialismus in zwei Hälften geteilt wurde und weiterhin geteilt ist. Die palästinensische Seite von Rafah wird von den israelischen Streitkräften belagert und bombardiert. 1,4 Millionen Palästinenser, die meisten von ihnen Binnenflüchtlinge, sind von einer israelischen Invasion bedroht.
Rafah ist eine Stadt am südlichen Rand des Gazastreifens, die derzeit vom israelischen Militär belagert und unerbittlich bombardiert wird. Die israelischen Streitkräfte stehen kurz davor, eine Bodenoffensive gegen Rafah zu starten, die nach Angaben der UNO Tausende von Opfern unter der Zivilbevölkerung fordern würde.
So sah der Grenzübergang Rafah zwischen Palästina und Ägypten im Jahr 2012 aus. Quelle: 2012, Gigi Ibrahim, Wikipedia.
Vermutlich ist Rafah eine antike Stadt, die seit über 3.000 Jahren existiert und ursprünglich von den alten Ägyptern Robihwa genannt wurde, da sie als Oasenrastplatz zwischen der Sinai-Halbinsel und der Stadt Gaza diente. Die arabischen Einwohner haben den Namen der Stadt in Rafah (arabisch für Wohlstand) geändert. Im Jahr 1906 wurde die Stadt in zwei Hälften geteilt – eine Hälfte in Ägypten unter britischer Herrschaft und die andere unter dem Osmanischen Reich. Auch nach der Eroberung Palästinas durch das britische Empire blieb Rafah geteilt – bis heute zwischen dem Teil, der zu Ägypten gehört, und dem Teil, der unter israelischer Besatzung innerhalb des Gazastreifens liegt.
In den 140 Tagen des israelischen Angriffs auf den Gazastreifen wurde die Zivilbevölkerung immer weiter in den Süden, an die ägyptische Grenze, nach Rafah getrieben. In der Stadt mit etwa 200.000 Einwohnern (laut palästinensischer Volkszählung für das Jahr 2023) halten sich inzwischen 1,4 Millionen Menschen auf, die meisten sind vertriebene Palästinenser aus dem nördlichen Gazastreifen. Die Bedingungen in Rafah sind eine humanitäre Katastrophe: Es gibt nicht genügend Unterkünfte, Trinkwasser, Lebensmittel und Medikamente.
Die israelischen Streitkräfte haben inzwischen ihren Angriff auf Rafah aus der Luft und mit Artillerie begonnen. Am 13. Februar stürmten israelische Streitkräfte unter intensivem Bombardement Gebäude in Rafah und konnten zwei israelische Geiseln aus der Gefangenschaft der Hamas befreien, töteten dabei aber über 100 Menschen.
Israel droht mit einer massiven Bodeninvasion in Rafah. Angesichts des wachsenden internationalen Drucks auf Israel, das Massaker zu beenden und einen Waffenstillstand zu unterzeichnen sowie des internen Drucks innerhalb Israels durch Aktivisten, die einen Waffenstillstand fordern, um einen Gefangenenaustausch und die Freilassung der israelischen Geiseln zu ermöglichen, drängt die israelische Regierung auf eine Eskalation. Dadurch soll die Hamas unter Druck gesetzt werden, ein Abkommen unter besseren Bedingungen zu akzeptieren.
Präsident Biden, der auch unter dem Druck von Friedensgruppen steht, keine Munition mehr an das israelische Militär zu liefern, forderte Israel auf, Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung von Rafah während einer Invasion zu ergreifen. Netanjahu plant, die 1,4 Millionen Menschen in Rafah zum Verlassen der Stadt zu zwingen, um Bidens Forderungen zu erfüllen, aber das israelische Militär ist sich bewusst, dass der Versuch, 1,4 Millionen Menschen mit Waffengewalt umzusiedeln, den Tod Tausender unschuldiger Zivilisten zur Folge haben wird (Quelle auf Hebräisch).
Satellitenbild von Rafah und die Verteilung der Schäden durch den israelischen Angriff im Gazastreifen am 15. Februar. Quelle: 2024, Aljazeera.
Ägypten hat vor einer israelischen Operation in Rafah gewarnt und drohte, den Friedensvertrag mit Israel von 1979 außer Kraft zu setzen. Es gibt zwar Berichte, wonach Ägypten auf seiner Seite von Rafah ein riesiges Haftzentrum einrichtet, angeblich um palästinensische Flüchtlinge aufzunehmen, ohne ihnen Bewegungsfreiheit innerhalb Ägyptens zu gewähren. die ägyptische Regierung behauptet jedoch weiterhin, dass sie keine Flüchtlinge auf die Sinai-Halbinsel lassen wird.
*****************************************************
Am Donnerstag, 14. März 2024, 19 Uhr wird der Geschäftsführer von BIP e.V Dr. Shir Hever einen Vortrag halten zum Thema: Deutschland rüstet Israel für Völkermord auf.
Weitere Information hier:
https://bip-jetzt.de/deutschland-ruestet-israel-fuer-voelkermord-in-gaza/
Werde Mitglied im Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e.V. (BIP) und unterstütze unsere Arbeit. Jahresbeitrag für stimmberechtigte ordentliche Mitglieder
150 €, für Fördermitglieder 100 €.
Ein Aufnahmeantrag ist an den Vorstand zu stellen: info@bip-jetzt.de.
Weitere Informationen: www.bip-jetzt.de
BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden. dfsf
Palästinensische Jugendliche schreiben Testamente, und das aus gutem Grund
Gideon Levy schreibt am 17.2. in Haaretz:
„Als Abdel Rahman Hamad, ein Oberstufenschüler, von der Schule nach Hause ging, schoss ihm ein israelischer Soldat in den Bauch und tötete ihn. Nach seinem Tod tauchte ein Brief auf, den er ein halbes Jahr zuvor an seine Familie geschrieben hatte. Er ist einer von vielen Teenagern im Westjordanland, die ihr Testament schreiben.
Abdel Rahman Hamad hat einen letzten Willen geschrieben. Ein langer Text mit detaillierten Anweisungen, in seiner akribischen Handschrift. Immer mehr palästinensische Jugendliche im besetzten Westjordanland schreiben in diesen Tagen ihr Testament, und nach den Ereignissen im Gazastreifen sogar mit noch größerer Intensität. Hamad bat darum, so schnell wie möglich beerdigt zu werden, und bat seine Familie, ein gutes Foto von ihm als Profilfoto in den sozialen Netzwerken zu verwenden, einen Gebetsvers daneben zu stellen, vor allem aber, seinen Tod nicht zu betrauern.
´Legt mich nicht in eine Gefriertruhe`, schrieb er, ´begrabt mich sofort. Legt mich auf mein Bett, deckt mich mit Decken zu und bringt mich zur Beerdigung. Wenn ihr mich ins Grab hinablasst, bleibt hinter mir. Aber seid nicht traurig. Ich will nicht, dass jemand traurig ist.` Hamad schrieb das Testament am 18. Juli letzten Jahres und gab es einem Freund zur Aufbewahrung. Ein Foto des Textes ist auf dem Mobiltelefon des Vaters gespeichert.
Iyad Hadad, ein Feldforscher der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem, übersetzt und liest ihn uns vor. Plötzlich verschluckt er sich, bevor er in herzzerreißende Tränen ausbricht, die nicht mehr aufhören wollen. Wir haben Hadad noch nie weinen sehen. Er befasst sich seit 1986 mit den Menschenrechten in den Besetzten Gebieten, zunächst für die palästinensische Organisation Al Haq und seit 24 Jahren für B’Tselem. Er hat alles gesehen, untersucht jeden Fall von Tötung und anderen Verbrechen der Besatzung im gesamten Gebiet von Ramallah, und jetzt weint er hemmunngslos. Der letzte Wille eines Jungen, der noch keine 18 Jahre alt war, hat ihn erschüttert. Das Gesicht des Vaters des toten Jungen, Abdel Rahim, ist von Trauer gezeichnet, aber seine Augen bleiben trocken. Eine bedrückende Stille liegt über dem Raum.
Am 29. Januar reisten wir in das Dorf Al-Mazra’a a-Sharqiya, um die Umstände der Ermordung von Tawfic Abdeljabbar, einem amerikanischen Teenager, zu untersuchen, der von israelischen Soldaten oder Siedlern – oder beiden – erschossen wurde. Auf dem Weg dorthin kamen wir durch die Stadt Silwad. Als wir in Al-Mazra’a a-Sharqiya ankamen, erfuhren wir, dass ein weiterer Jugendlicher getötet worden war, diesmal in Silwad, kurz nachdem wir die Stadt verlassen hatten. Diese Woche kehrten wir nach Silwad zurück.
Die Stadt liegt in der Nähe des Highway 60, der Hauptverkehrsader des Westjordanlandes, auf der Siedler fahren und auf die Steine geworfen werden. In den letzten fünf Jahren hat Silwad sieben seiner Söhne verloren; der Hamas-Führer Khaled Mashal wurde 1956 hier geboren und wuchs in der Stadt auf.
Es war ein Montag, und Abdel Rahman war auf dem Heimweg von der Schule. In den sozialen Medien wurde verkündet, dass die israelische Armee, die kurz nach 8 Uhr morgens in die Stadt eingedrungen war, mit dem Abzug begonnen hatte. Doch auf der Straße, die Abdel Rahman anscheinend allein entlangging, standen immer noch zwei gepanzerte israelische Fahrzeuge: ein Polizei-Jeep und ein Armeefahrzeug. Die Straße verläuft parallel zu der Allee mit den im Bau befindlichen Häusern am Hang des Hügels, und im Nachhinein stellte sich heraus, dass sich zwischen den Rohbauten der Villen, die alle der Großfamilie Qassam gehören, noch einige Jugendliche versteckt hielten. Sie verfolgten die abziehenden Sicherheitskräfte und warteten auf eine Gelegenheit, sie mit Steinen zu bewerfen.
Plötzlich öffnete sich die Tür eines der geparkten Fahrzeuge. Ein Soldat oder ein Grenzpolizist streckte seinen Körper heraus und feuerte einen einzigen, ebenso präzisen wie tödlichen Schuss direkt in Abdel Rahmans Magen. Die Entfernung zwischen dem Scharfschützen und seinem Opfer betrug etwa 150 Meter, und der Jugendliche stand weiter oben auf der Straße als der Schütze. Unmittelbar danach wurde die Tür des gepanzerten Fahrzeugs geschlossen und beide Fahrzeuge fuhren davon. Sie schossen, sie töteten, sie flohen.
Sie haben das Leben eines Jugendlichen beendet und das Leben einer Familie zerstört, obwohl es unwahrscheinlich ist, dass sie dies auch nur eine Sekunde lang in Betracht gezogen haben. Selbst wenn Abdel Rahman einen Stein oder (wie die Polizei behauptet) einen Molotowcocktail geworfen hätte, hätte er das Leben der Soldaten und Grenzpolizisten nicht im Geringsten gefährden können. Auf diese Entfernung hatte er keine Chance, die gepanzerten Fahrzeuge zu treffen. Aber warum sollte man das Leben eines Jugendlichen nicht beenden, wenn man es kann? Immerhin wird sich danach niemand dafür interessieren, abgesehen von der erschütterten Familie.
Während all dies geschah, saß ein Augenzeuge, dessen Identität Hadad, dem Feldforscher, bekannt ist, auf dem Balkon seines Hauses gegenüber den beiden Sicherheitsfahrzeugen und beobachtete das Geschehen.
Seine Videoaufnahmen, die er durch die Krone eines Olivenbaums im Garten machte, zeigen eine erstaunlich ruhige und beschauliche Straße, in der keine Steine und keine Molotowcocktails durch die Luft fliegen. Plötzlich wird die Stille durch einen Schuss aus der Richtung eines der gepanzerten Fahrzeuge unterbrochen. Unmittelbar danach sieht man Sanitäter, die aus einem in der Nähe geparkten Krankenwagen kommen, auf das Opfer zulaufen, während die beiden israelischen Fahrzeuge schnell in die entgegengesetzte Richtung davonfahren. Die Helden hatten ihr Tagewerk vollbracht – Zeit zu gehen.
Der Armee-Sprecher verwies Haaretz an die Grenzpolizei. Ein Sprecher der israelischen Polizei (der die Grenzpolizei unterstellt ist) erklärte diese Woche auf Anfrage von Haaretz: `Während des Einsatzes der Sicherheitskräfte warf der Verdächtige einen Molotowcocktail auf die Kämpfer und gefährdete ihr Leben. Daraufhin schoss ein Kämpfer auf ihn und neutralisierte die Gefahr.`
Abdel Rahman war der erstgeborene Sohn von Abdel Rahim, 44, und seiner Frau, Inam Ayad, 42. Er war Schüler der 12. Klasse, im naturwissenschaftlichen Zweig. Sein Ziel war es, Medizin zu studieren, und so arbeitete er vor den Reifeprüfungen hart, nicht nur um die Zulassung zur Medizinischen Fakultät zu erhalten, sondern auch in der Hoffnung, ein Stipendium zu bekommen. Er spielte in der Fußballmannschaft von Silwad, widmete aber in den letzten Monaten seine ganze Zeit dem Studium, so auch in der letzten Nacht seines Lebens.
Sein Vater verließ das Haus am Morgen des 29. Januar um 6:30 Uhr. Um 11:30 Uhr rief die Mutter ihren Mann an und teilte ihm mit, dass die Armee in Silwad einmarschiert sei. Sie bat ihn, ihren jüngeren Sohn, den 15-jährigen Sliman, der in der Stadt auf dem Bau arbeitet, anzurufen, um sich zu vergewissern, dass es ihm gut geht. Um Abdel Rahman machten sie sich keine Sorgen, da sie wussten, dass er in der Schule war.
Um 12 Uhr rief Abdel Rahim seine Frau an. ´Was ist los?`, fragte er und erfuhr, dass das Stadtzentrum von einer Tränengaswolke bedeckt war, die in die Häuser eindrang. Hauptsache, den Kindern geht es gut, dachte der Vater. Um 12:30 Uhr erhielt er einen anonymen Anruf, der ohne ein Wort zu sagen beendet wurde. Einige Minuten später rief sein Bruder an und forderte ihn auf, schnell nach Hause zu kommen. Und warum? ´Ubeida wurde verwundet` – so der Spitzname von Abdel Rahman.
´Ich wusste nicht, was ich tun sollte`, erinnert er sich. ´Ich war völlig verwirrt. Ich griff nach der Telefonnummer von Ubeida und rief ihn an. Ein palästinensischer Krankenwagenfahrer nahm ab. Er fragte, wie es seinem Sohn gehe, und der Fahrer antwortete: ´Es geht ihm gut. Ich werde Sie bald auf dem Laufenden halten.`
Verzweifelt wartete Abdel Rahim ein oder zwei Minuten und rief erneut an. Diesmal sagte der Fahrer: ´Wir hoffen, dass es ihm gut geht.` Abdel Rahman war bereits tot, aber das wusste sein Vater noch nicht, und er war sich sicher, dass sein Sohn nun von der Silwad-Klinik in das Regierungskrankenhaus in Ramallah gebracht werden würde. Er bat den Fahrer, ihn auf dem Weg dorthin abzuholen – seine Arbeitsstelle liegt an der Hauptstraße nach Ramallah. Einen Moment später rief sein Bruder an und sagte erneut: ´Komm zurück in die Stadt, und zwar schnell.’
Inzwischen hatte er begriffen, dass sein Sohn tot war. Noch immer benommen ging er zur ersten Klinik, wo man ihm sagte, dass sein Sohn im Krankenhaus sei. Als er dort ankam, stieg er aus dem Auto, fiel in Ohnmacht und sackte auf dem Boden zusammen. An die folgenden Minuten kann er sich nicht mehr erinnern.
An der Wand des eleganten Wohnzimmers hängen Fotos des toten Jugendlichen. Eines der Bilder besteht aus den Porträts der drei Familienmitglieder, die im Laufe der Jahre von israelischen Truppen getötet wurden: Abdel Rahman in der Mitte, flankiert von seinen beiden toten Onkeln. Sein Onkel Jihad Iyad, der Bruder seiner Mutter, wurde 1998, als er 17 Jahre alt war, von israelischen Soldaten getötet; der andere Onkel, der Bruder seines Vaters, Mohammed Hamad, wurde 2004, im Alter von 21 Jahren, von Soldaten getötet. Abdel Rahman kannte keinen von ihnen. Sein Vater fügt im Flüsterton hinzu, dass auch sein eigener Onkel 1989 getötet wurde, und wieder senkt sich eine bedrückende Stille über den Raum.“
https://www.haaretz.com/israel-news/twilight-zone/2024-02-17/ty-article-magazine/.highlight/palestinian-teens-are-writing-wills-and-for-a-good-reason/0000018d-ad78-d070-a7fd-ff7c855c0000
Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.