BIP-Aktuell #303:
- Kultur der Straflosigkeit
- Dies war kein unkontrollierter Mob von Siedlern. Es war ein gut organisierter Überfall
Die israelischen Streitkräfte begehen ihre Kriegsverbrechen ungestraft, die Wahrscheinlichkeit, dass Soldaten für Gewalttaten gegen Palästinenser angeklagt oder verurteilt werden, ist sehr gering. Diese Kultur der Straflosigkeit hat eine lange Geschichte innerhalb des israelischen Militärs, aber nach dem 7. Oktober haben sich die ungestraften Tötungen vervielfacht, und bislang wurden keine Soldaten für das Töten von Palästinensern bestraft.
Nach einer Diskussion in der BIP-Strategiegruppe wurde dieses Thema für den wöchentlichen Newsletter gewählt, weil wir der Meinung sind, dass das Argument der deutschen Regierung, es sei legal, Waffen an Israel zu verkaufen, da man darauf vertrauen könne, dass das israelische Militär im Rahmen des Völkerrechts agiere, nicht der Realität entspricht. Dem israelischen Militär mangelt es an Disziplin. Das führt oft dazu, dass die Soldaten nur selten für Befehlsverweigerung und übermäßige Gewaltanwendung bestraft werden. Mit diesem Bericht wollen wir die verschiedenen juristischen Teams in Deutschland und in Nicaragua (siehe BIP-Aktuell #300), die die deutsche Politik der Waffenlieferungen an Israel anfechten, mit Fakten unterstützen.
Elor Azaria (mit nach oben gerichteter Waffe vor dem Krankenwagen), nachdem er Abdel Fatah Al Shareef (links am Boden liegend) im März 2016 in Hebron getötet hat. Quelle: B’tselem Video.
Das israelische Militär ist aus paramilitärischen Milizen hervorgegangen, vor allem aus der Haganah. Die lockere Hierarchie der Haganah hat sich in den militärischen Traditionen der israelischen Streitkräfte niedergeschlagen. Die Einheit 101, die von Ariel Sharon, dem späteren Premierminister, befehligt wurde, wurde als Vergeltungseinheit gegründet, um sich an palästinensischen Gemeinden zu rächen. Die Einheit verübte am 14. Oktober 1953 das Massaker von Qybia, bei dem 69 palästinensische Zivilisten getötet und ihre Häuser in die Luft gesprengt wurden. Die israelische Regierung gab der jordanischen Regierung die Schuld an dem Massaker – die Soldaten und Offiziere wurden nicht bestraft. Im Jahr 1956 massakrierten israelische Soldaten 48 Palästinenser in Kafr Qasim (siehe BIP-Aktuell #195). Nach dem Massaker verurteilte das israelische Oberste Gericht den ranghohen Offizier Yissachar Shadmi zu einer Geldstrafe von 10 Prutot (ca. 10 Cent) als symbolische Strafe für die Erteilung eines illegalen Befehls. Diese beiden Beispiele aus dem ersten Jahrzehnt nach der Gründung Israels werden hier lediglich als historischer Hintergrund angeführt – als zwei von Dutzenden solcher Beispiele.
Der Bruch der militärischen Disziplin des israelischen Militärs hat mit den rechtspopulistischen Regierungen Netanjahus im letzten Jahrzehnt ein neues Niveau erreicht. Im Jahr 2016 ermordete der israelische Soldat Elor Azaria den Palästinenser Abdel Fatah Al Sharif in Hebron, der verwundet und hilflos am Boden lag. Der Mord wurde von der israelischen Menschenrechtsorganisation B’tselem auf Video aufgezeichnet. Der Prozess gegen Azaria wurde zu einem politischen Skandal. Israels Verteidigungsminister Mosche Yaalon warnte: „Wenn wir uns nicht ganz klar dagegen aussprechen, dieses Verhalten anzuprangern, dann werden uns die Palästinenser – wie schon seit langem – außergerichtliche Tötungen vorwerfen, und wenn wir das nicht sofort beenden, wird es eine palästinensische und internationale Reaktion geben.“ Netanjahu unterstützte Azaria. Dieser wurde zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt, wurde aber zu einer berühmten öffentlichen Figur. Viele Israelis erklärten sich mit ihm solidarisch und forderten sogar einen Orden für ihn. Seine Unterstützer sahen in ihm ein Vorbild, sie argumentierten, dass israelische Soldaten das Recht haben, Palästinenser zu töten, unabhängig von Befehlen.
So weigerte sich der damalige israelische Minister für öffentliche Sicherheit, Gilad Erdan, die Tötung des Lehrers Yakub Al-Qian in Umm el Khiran am 18. Januar 2017 durch die israelische Polizei zu untersuchen. Er rechtfertigte die Tötung rückwirkend, indem er Al-Qian ohne Beweise des Terrorismus beschuldigte. Während des Großen Marsches der Rückkehr (2018-2020) waren israelische Scharfschützen an den Verteidigungsanlagen rund um den Gazastreifen stationiert, mit dem Befehl, die unbewaffneten und friedlichen Proteste nur mit nicht-tödlichen Mitteln zu stoppen. Die Scharfschützen haben die Befehle eklatant missachtet, Erwachsenen und Kindern in den Kopf geschossen, die Sanitäterin Rouzan al-Najjar und über 200 weitere Menschen getötet und sich sogar im Internet damit gebrüstet, Palästinenser als Zielscheiben zu benutzen – sie lachten, wenn sie das Ziel trafen. Kein einziger Scharfschütze wurde für dieses Verhalten bestraft. Im Jahr 2020 tötete ein israelischer Soldat der Grenzpolizei Iyad Al-Hallaq in Ostjerusalem einen hilflosen Mann mit Autismus. Es wurde eine Untersuchung gegen den Soldaten eingeleitet, der Soldat wurde freigesprochen.
Der Zusammenbruch der Disziplin wurde in dem Buch des israelischen Professors und ehemaligen Generals Yagil Levy „Israels Death Hierarchy“ diskutiert. Levy argumentiert, dass sich junge Israelis nicht mehr aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung oder aus einem Gefühl des Patriotismus zum Militär melden, sondern aufgrund einer „geschäftlichen Vereinbarung“, die sie mit dem Militär treffen. Die Soldaten erwarten, dass sie für ihren Militärdienst mit Arbeitsmöglichkeiten und einer marktfähigen Ausbildung belohnt werden, wenn sie in Hightech- oder Geheimdiensteinheiten dienen. Für Soldaten, die als einfache Fußsoldaten, als Wachen an Kontrollpunkten, dienen, gibt es dagegen keine solche Belohnung. Unter diesen Soldaten macht sich eine Loyalitätskrise bemerkbar, die sie frustriert und undiszipliniert macht. Im Dezember 2022 veröffentlichte Gideon Levy in der Zeitschrift 972–Magazin einen Artikel mit dem Titel „Die Rebellion von Israels zweiter Armee“, in dem er diese Frustration und den Zusammenbruch der Disziplin als nicht weniger als eine Rebellion bezeichnete. Die Soldaten, die mit den geringen materiellen Belohnungen nach einem langen, anstrengenden und gefährlichen Militärdienst unzufrieden sind, verlangen, dass ihre Belohnung in Form von Blut von Palästinensern „abgegolten“ wird. Nach Levy sollte die Erklärung des damaligen israelischen Oberbefehlshabers Aviv Kochavi, der versprach, das israelische Militär „tödlicher“ zu machen, diese Soldaten beschwichtigen.
Die Ermordung der Al-Jazeera-Journalistin Shireen Abu Akleh am 11. Mai 2022 war ein klarer Fall von Straflosigkeit im israelischen Militär. Obwohl die Untersuchung zu dem eindeutigen Ergebnis kam, dass ein israelischer Scharfschütze Abu Akleh absichtlich mit einem Kopfschuss tötete, weigerte sich die israelische Regierung, die Identität des Soldaten preiszugeben und Anklage zu erheben (siehe BIP-Aktuell #230).
Im Jahr 2022 veröffentlichte die israelische Menschenrechtsorganisation Yesh Din ein Datenblatt mit dem Titel „Law Enforcement against Israeli soldiers suspected of harming Palestinians 2019-2020“. Yesh Din analysierte Hunderte von Beschwerden von Palästinensern über ungerechtfertigte Gewaltakte und Vandalismus durch israelische Soldaten gegen Palästinenser. Obwohl 37,6 % der Palästinenser, die sich zwischen 2016 und 2023 an Yesh Din wandten, keine Beschwerde bei der Polizei einreichten, hauptsächlich weil sie kein Vertrauen in das israelische Rechtssystem hatten, versuchten es Hunderte trotzdem. Die israelische Polizei stellte 93,7 % der Ermittlungen zu „ideologischen Straftaten“, d.h. rassistisch und nationalistisch motivierten Gewalttaten, gegen Palästinenser ein, die entweder von Soldaten oder von Siedlern begangen wurden, ohne überhaupt Anklage zu erheben. Nur 4,4 % der Ermittlungen gegen Soldaten wegen exzessiver Gewalt gegen Palästinenser führten zur Erhebung von Anklagen.
Die Ernennung von Itamar Ben-Gvir zum israelischen Minister für nationale Sicherheit im Januar 2023 war eine weitere Eskalationsstufe in der israelischen Kultur der Straflosigkeit. Ben-Gvir hat seine Autorität als Minister immer wieder dazu genutzt, sich in die Verfahren einzumischen, in denen Soldaten sowie die Grenzpolizei, die seiner Zuständigkeit unterstehen, für die Missachtung von Befehlen zur Rechenschaft gezogen werden (Quelle auf Hebräisch). Er besuchte Soldaten, die Palästinenser getötet oder misshandelt haben, unterstützte sie und nannte sie Helden, während er sich gegen eine Untersuchung oder Anklage aussprach. Ben-Gvir hat auch eine sogenannte Nationalgarde gebildet, eine bewaffnete Miliz aus rechtsextremen Schlägern, um seine Politik durchzusetzen (siehe BIP-Aktuell #255).
Nach dem 7. Oktober und dem israelischen Einmarsch in den Gazastreifen häufen sich die Fälle, in denen Soldaten Befehle missachten und aus eigenem Antrieb handeln. Soldaten dokumentieren selbst ihre Verbrechen wie sexuellen Missbrauch, Plünderung und sogar Mord in den sozialen Medien, ohne Angst vor disziplinarischen Maßnahmen haben zu müssen. Palästinenser berichteten, dass Soldaten Zivilisten folterten und in die Beine schossen. Die Zeugenaussagen führten nicht zu einer Untersuchung gegen die Soldaten. In einem Fall haben Soldaten einen Palästinenser gezwungen, einen Sprengstoffgürtel und eine tragbare Kamera zu tragen und in einen Hamas-Tunnel zu gehen, den die Soldaten selbst nicht betreten wollten, wobei sie den Palästinenser als menschlichen Schutzschild benutzten. Auch in diesem Fall wurde keine Untersuchung eingeleitet. Am 29. Februar töteten die israelischen Streitkräfte bei dem „Mehlmassaker“ 118 palästinensische Zivilisten und verletzten 760, die auf eine Lebensmittellieferung nach Gaza-Stadt warteten. Weder Soldaten noch Offiziere wurden zur Rechenschaft gezogen.
Am 27. März berichtete Haaretz, dass israelische Gefängniswärter 27 Gefangene getötet haben, einige durch Entzug von Nahrung und medizinischer Behandlung, andere durch Folter. Keiner der Gefängniswärter wurde angeklagt. Am 2. Mai wurde berichtet, dass der 50-jährige palästinensische Arzt Adnan al-Bursh, Leiter der orthopädischen Abteilung des Al-Shifa-Krankenhauses, in israelischer Haft zu Tode gefoltert wurde. Obwohl es noch zu früh ist, um zu wissen, ob eine Untersuchung zu seiner Ermordung eingeleitet wird, ist die Wahrscheinlichkeit dafür sehr gering. Als israelische Drohnen am 1. April sieben Entwicklungshelfer der World Central Kitchen töteten, musste Israel härter durchgreifen, da sechs von ihnen westliche Pässe hatten. Das israelische Militär ließ die Information durchsickern, dass der Angriff unter Missachtung von Befehlen durchgeführt wurde, was bedeuten würde, dass die Offiziere, die den Angriff genehmigt hatten, wegen Mordes vor Gericht gestellt werden müssten, stattdessen wurden sie lediglich von ihren Aufgaben suspendiert.
Israelische Soldaten dokumentieren sich selbst bei Plünderungen und Demütigungen in Gaza. Quelle: 2024, soziale Medien.
Die deutschen Behörden müssen sich darüber im Klaren sein, dass jede Waffe, die an Israel verkauft wird, in die Hände von Soldaten gelangen kann, die sie nach eigenem Gutdünken einsetzen und keinen Grund haben, eine Strafverfolgung zu befürchten, wenn sie Palästinenser töten wollen. Die fehlende Rechenschaftspflicht und das nicht funktionierende israelische Justizsystem müssten Deutschland und andere Länder verpflichten, keine Waffen mehr an Israel zu verkaufen.
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Einladung zur 3. Internationalen BIP-Konferenz vom 24. – 26.5. 2024 in Nürnberg:
https://bip-jetzt.de/bip-konferenz-2/
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Ein Aufnahmeantrag ist an den Vorstand zu stellen: info@bip-jetzt.de.
Weitere Informationen: www.bip-jetzt.de
BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden.
Liebe Leserin, lieber Leser, die Redaktion hat sich entschlossen, diesen Bericht der Haaretz-Journalistin Amira Hass trotz seiner Länge nahezu ungekürzt wiederzugeben. Er schildert authentisch die Auswirkungen der oben beschriebenen Kultur der Straflosigkeit auf das Leben der Palästinenser im Westjordanland.
Amira Hass wird bei der 3. Internationalen BIP-Konferenz vom 24. Bis 26.5. einen Zoom-Vortrag halten.
Dies war kein unkontrollierter Mob von Siedlern. Es war ein gut organisierter Überfall
30 Mitglieder einer einzigen Familie gehörten zu den Palästinensern, die im April von Siedlern in dem Dorf Al-Mughayyir im Westjordanland angegriffen wurden. Ihre Beschreibungen dieser schrecklichen Momente zeigen, dass es sich keineswegs um einen spontanen Angriff handelte.
Amira Hass schreibt am 2. Mai 2024 in Haaretz
„Die eindringenden Siedler teilten sich in mehrere Einheiten auf, die gleichzeitig in mehreren Vierteln operierten, so die Anwohner. Jede Einheit teilte sich dann in mehrere kleinere Zellen auf. Eine Zelle war für das Werfen von Steinen auf Auto- und Hausfenster zuständig, eine andere für Brandstiftung, eine dritte, die hauptsächlich aus jüngeren Jungen bestand, sammelte Steine ein und reichte sie an die Steinewerfer weiter, und eine vierte, relativ große Zelle bestand aus bewaffneten Männern, die sich über das Gebiet verteilten.
Am Wochenende vom 12. und 13. April wurden dreizehn Häuser und Dutzende von Autos in Brand gesteckt. Den Anwohnern fiel auf, dass die Angreifer keine Feuerzeuge oder Streichhölzer benutzten, denn es dauert lange, ein Feuer zu entfachen, und das Ergebnis ist nicht garantiert. Sie benutzten auch keine Molotowcocktails, die sich nicht immer entzünden.
Stattdessen, so die Zeugen, verwendeten sie einen runden Gegenstand, der einer kleinen Gasgranate ähnelt. Ein Mitglied der ´Brandstiftungszelle` warf ihn auf den Sitz eines Autos, dessen Scheibe zuvor von einer anderen Zelle zertrümmert worden war, oder in ein Haus oder auf einen Balkon. Das Objekt würde dann in Flammen aufgehen, so dass es nicht mehr identifizierbar wäre. Nach höchstens 30 Sekunden – genug Zeit für die ´Brandstifterzelle`, um zu fliehen – brach ein großes Feuer aus.
Die Zeugen gehen davon aus, dass der runde Gegenstand mit einer Art Sicherheitsclip versehen war, den der Angreifer vor dem Wurf löste, wobei er darauf achtete, auf brennbares Material wie Stoff zu zielen. Aus jedem abgefackelten Haus und Auto stieg eine schwarze Rauchwolke auf. Die Bewohner von Al-Mughayyir berichteten, dass die Flammen nur noch größer wurden, als sie versuchten, das Feuer mit Wasser zu löschen. Eine Quelle der Sicherheitsbehörden sagte, die Armee sei mit einem solchen Gerät nicht vertraut.
An jenem Wochenende, an dem der Teenager Binyamin Ahimeir in der Nähe des Außenpostens Malakhei Shalom („Friedensengel“) östlich von Al-Mughayyir ermordet wurde, wurden mehr als 60 Siedlerangriffe im gesamten Westjordanland dokumentiert, von denen einige schwerer waren als andere. In den darauf folgenden zwei Wochen wurden 50 weitere Angriffe dokumentiert. Vier Palästinenser wurden bei diesen Angriffen getötet, mindestens drei von ihnen durch israelische Zivilisten und nicht durch Soldaten.
Der im Folgenden beschriebene Angriff auf die Familien von drei Brüdern der Familie Bishara, die in drei verschiedenen Häusern leben, dauerte nach deren Einschätzung nicht länger als 10 Minuten. Damals kam es ihnen jedoch so vor, als würde er mindestens zwei Stunden andauern. Zwei Wochen später erinnern sich 30 Familienmitglieder noch immer an diesen Angriff.
Alle drei Familien leben im nördlichsten Stadtteil von Al-Mughayyir – sechs Erwachsene und 13 Kinder. Das jüngste Kind, das als Frühgeburt zur Welt kam, befand sich zum Glück noch in einem Inkubator im Krankenhaus. Östlich der Häuser befindet sich ein Olivenhain, den der Vater der Brüder vor Jahrzehnten gepflanzt hat.
Am Freitag, dem 12. April, dem zweiten Tag des Eid al-Fitr-Festes, kamen die älteren Schwestern mit ihren Kindern zu Besuch, zusammen mit ihrem 80-jährigen Vater Ribhi, der im nahe gelegenen Ramallah lebt – weitere 12 Personen. Die Kinder spielten in den Höfen und auf den Bäumen, die Erwachsenen unterhielten sich und tranken Kaffee. Sie hatten noch nicht zu Mittag gegessen. Irgendwann gingen die drei Brüder in eines der Häuser, um eine Familienangelegenheit zu besprechen.
Gegen 14 Uhr verkündeten die Lautsprecher der Moscheen, dass sich eine große Anzahl von Siedlern auf der Allon Road im Osten des Dorfes versammelt hatte. Die Bewohner begaben sich sofort in das östliche Viertel, um ihre Verwandten und Freunde zu schützen.
´Das palästinensische zivile Verbindungskomitee teilte uns mit, dass ein Siedlerjunge vermisst werde und wir Reibereien vermeiden sollten`, erinnerte sich ein Bruder, der 37-jährige Haroun, ein Bauunternehmer, der Elektroarbeiten durchführt und bis zum Beginn des Krieges in Israel arbeitete. ´Wir kamen zu dem Schluss, dass die Armee die Kontrolle hatte. Es waren viele Soldaten da.` Die Menschen begannen daher, in ihre Häuser zurückzukehren.
Die IDF erklärte daraufhin, dass ´die in dem Gebiet operierenden Kräfte im Voraus vorbereitet waren und ununterbrochen gearbeitet haben, um das Leben der Zivilisten und ihr Eigentum zu schützen.`
Der 47-jährige Bishara hat bis Oktober in Israel gearbeitet. Er befand sich auf dem Balkon seines Hauses, der mit Terrassenmöbeln ausgestattet ist und von einer Pergola überdacht wird. Seine Frau Nadia war mit ihren drei Töchtern im Alter von 15, 9 und 4 Jahren und zwei Söhnen im Haus. Einer der Söhne, der 17-jährige Abdullah, hat eine angeborene Behinderung und ist nicht in der Lage, selbständig zu gehen.
Die drei Häuser sind nur durch wenige Meter voneinander getrennt. Vor jedem befindet sich ein Parkplatz. Bisharas Auto ist für Behinderte zollfrei und wird hauptsächlich benutzt, um Abdullah zur Physiotherapie und zur Schule zu fahren.
Selbst wenn die Familie Bishara es für besser gehalten hätte, in ihr Auto zu steigen und ihr Haus zu verlassen, hätten sie das nicht tun können. Ein Militärjeep fuhr von Norden her in ihr Viertel ein, hielt am Ende der Straße, die dem Dorfinneren am nächsten liegt, und versperrte die Ausfahrt, so die Familie. In gewisser Weise bestärkte die Anwesenheit des Jeeps ihre Überzeugung, dass die Armee die Kontrolle hatte oder zumindest haben wollte. Später fuhr der Jeep auf dieser Straße bis zum Rand des Viertels zurück, wo die Häuser an einen Hang gebaut sind.
Die Angreifer trugen Zivilkleidung und hatten ihre Gesichter bedeckt – einige mit Hemden, andere mit schwarzen Strumpfmützen. Aus den Lautsprechern der Moschee wurde verkündet, dass das Haus von Abu Ata, das der Allon Road am nächsten liegt, angegriffen worden war. Die Soldaten in den Jeeps feuerten Tränengas auf die Palästinenser, die versucht hatten, die Familie zu schützen.
Jihad Abu Alia, 25, wurde von einem Siedler angeschossen und getötet. Mehrere andere Bewohner erlitten ebenfalls Schusswunden. Die israelischen Zivilisten drangen in den Schafstall von Imad Abu Alia ein, stahlen seine gesamte Herde und schlugen ihn, bis er ohnmächtig wurde. Die Sicherheitsquelle sagte, dass drei Verdächtige an diesem Tag verhaftet wurden, vier wurden festgenommen und wieder freigelassen, und acht weitere wurden seitdem festgenommen.
Währenddessen sah Bishara, wie ein anderer maskierter Mann etwas in sein Auto warf. Flammen schlugen daraus hervor. Die Familie blieb im Wohnzimmer. ´Unsere kleine Doha und Sajaa versteckten sich unter einer Decke`, sagte Nadia.
Als sie im Wohnzimmer standen und das Feuer draußen knisterte, schrien junge Männer aus dem Dorf ihnen zu, sie sollten das Haus verlassen, weil die Flammen auf das Haus übergreifen könnten. Die Flammen erreichten die Pergola, die Terrassenmöbel, die Wasseruhr im Freien und die Wasserpumpe und begannen, die Gitterstäbe des Küchenfensters zu zerfressen.
Die Familie verließ das Haus durch die Hintertür und ging durch die Gärten der Nachbarn in das Zentrum des Dorfes, wo es sicherer schien. Ihr 20-jähriger Sohn Mustafa trug Abdullah auf seinem Rücken und ging als Erster. Er lief bis zum Haus von Nachbarn, die Abdullah den Rest des Weges in ihrem Auto fuhren. Der Rest der Familie lief hinter ihnen her.
In der Zwischenzeit, so sagten Personen, die am Tatort anwesend waren, gingen entweder dieselben maskierten Männer oder andere zu Moussas Haus, dem mittleren der drei Häuser der Brüder. Ghanim, seine 8-jährige Tochter, begann zu weinen und zu zittern.
Moussa ging auf das Dach und sah, wie ein maskierter Mann einen Stein auf sein Auto warf. Das Glas zersplitterte. Dann kam eine weitere Gruppe maskierter Männer, und einer von ihnen warf etwas, das sich sofort entzündete. Ein weiterer bewaffneter Mann stand zwischen den Bäumen und schoss auf Moussa.
Haroun und seine Familie, die sich auf dem Dach versteckten, sahen mehrere Dutzend maskierte Männer, die sich zwischen den Bäumen und in der Nähe der Häuser verteilten. Zwei von ihnen seien mit Gewehren bewaffnet gewesen, darunter einer, der eine orangefarbene Weste trug. Einige der maskierten Männer trugen Knüppel. Andere hatten Steine dabei. Die Familie sagte, einige der Angreifer hätten auch Handfeuerwaffen in ihren Hosenbünden stecken gehabt.
Plötzlich wurde aus der Richtung der Militärjeeps, die die Angreifer nicht aufgehalten hatten, etwas auf das Haus geschossen. Sie dachten, es sei ein gummibeschichtetes Geschoss. Später entdeckten sie, dass es sich um ein Geschoss mit Schwammspitze handelte, das den Klapptisch vor dem Haus zerbrach.
Lina und die Kinder verließen das Dach und rannten die Treppe hinunter. Sie, ihre Schwägerinnen und ihre Kinder verteilten sich auf das kleine Wohnzimmer und ein Schlafzimmer. Sie hörten das Zerspringen von Glas. Diejenigen, die noch auf dem Dach waren, sahen, dass, als den Steinewerfern die Steine ausgingen, ein Trupp Jugendlicher ihnen neue brachte.
Die Angreifer schlugen und traten auf die Stahltür am Eingang ein, bis sie aufsprang. Vier unbewaffnete, maskierte Männer stürmten hinein. Zwei von ihnen gingen in die Küche und das Badezimmer. Lina, die schwanger ist, und ihre Schwägerin Amal standen hinter der Holztür zum Wohnzimmer und lehnten sich dagegen. Doch zwei der Eindringlinge schafften es, mit Steinen in der Hand durchzubrechen.
Später entdeckte die Familie, dass der Küchenboden mit Glasscherben, Lebensmitteln und gekochten Speisen bedeckt war, die aus dem Kühlschrank genommen und dorthin geschleudert worden waren. Sie entdeckten auch, dass die Mikrowelle, ein Spiegel, Töpferwaren und ein Tisch zerbrochen worden waren. Ein Stein hatte den Fernseher zerbrochen. Das Auto der Familie war in Brand gesetzt worden.
Haroun und sein Vater rannten die Treppe hinunter. Einer der Angreifer warf einen Teil des Plastiktisches, der im Hof stand, auf den 80-Jährigen. Es traf ihn im Gesicht, und er rutschte aus und fiel die Treppe hinunter. Haroun schnappte sich zwei Colaflaschen aus Plastik, die in einer Kiste auf der Treppe standen, und warf sie nach einem der Angreifer.
Zu diesem Zeitpunkt waren bereits Rettungskräfte aus dem Dorf in der Nähe seines Hauses, und die vier Eindringlinge, die sich im Haus befanden, flohen. Die Siedler, die sich draußen aufhielten, zerstreuten sich ebenfalls.
Alle drei Familien blieben zwei Tage lang bis zum Sonntag bei Verwandten in ihren Häusern. Sie wussten nicht, ob das Feuer auf ihre Häuser übergegriffen hatte oder nicht.
Am Samstag fand ein Begräbnis für den getöteten Bewohner statt. Nach Angaben der Bewohner schossen Soldaten auf den Trauerzug. Junge Männer liefen auf sie zu.
Als die Soldaten schossen, tauchten erneut Dutzende von Siedlern auf, diesmal vom Hügel im Westen des Dorfes. Sie rannten in Richtung Osten, zurück in das nördliche Viertel, in dem sich keine Bewohner mehr befanden. Die Soldaten schossen mit Tränengasgranaten auf sie, aber das schreckte sie nicht ab.
Dort angekommen, fackelten die Siedler weitere Häuser ab sowie einen Lagerschuppen, eine Pergola, zwei Tierställe, Futter für die Schafe, einen Jeep und ein Feuerwehrauto, das aus dem nahe gelegenen Dorf Taybeh gekommen war. Sie fackelten auch die Autos von Bewohnern anderer Dörfer ab, die zu der Beerdigung gekommen waren.
´Das Schlimmste ist das Gefühl der Ohnmacht´, sagte Moussa. ´Er kam in mein Haus und ich konnte weder meine Familie noch mich selbst schützen. In ihren Augen ist ein Mensch nichts wert. Ob wir existierten oder nicht, machte keinen Unterschied. Wie soll ich meine Tochter beruhigen, wenn ich nicht ruhig bin? Ich befinde mich in einem Zustand, in dem es eine Diskrepanz zwischen den drei Grundlagen meiner Persönlichkeit gibt – Gefühle, Gedanken und Handlungen. Die Gefühle sind, wie sie sind, und auch die schwierigen Gedanken, die der Angriff ausgelöst hat. Aber ich kann sie nicht in Handlungen ausdrücken.`
Hier unterbricht Lina. ´Wir dürfen uns nicht wehren, sonst werden wir verhaftet und als Terroristen verurteilt`, sagte sie. ´Oder sie werden uns erschießen, so wie sie Jihad Abu Alia getötet haben.`
Moussa pflichtete ihr bei. ´Wenn ich meine Gefühle auf Facebook ausdrücke und schreibe, was ich über die Armee und die Siedler denke, werden sie mich wegen Aufwiegelung verhaften“, sagte er. „Diese Lähmung beeinträchtigt mich. Ich kann nachts nicht schlafen. Wie soll ich am nächsten Tag meine Schüler in der Klasse unterrichten? All das bringt uns dazu, über eine Auswanderung nachzudenken.`“
https://www.haaretz.com/israel-news/2024-05-02/ty-article-magazine/.premium/this-wasnt-an-uncontrolled-mob-of-settlers-it-was-a-well-orchestrated-assault/0000018f-2e31-d8fb-a1df-af77d3770000
Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.
Ein Kommentar
Wir finden es richtig und notwendig die Verbrechen der israelischen Armee und der israelischen Regierung am palästinensischen Volk aufzudecken und zu brandmarken.
Die Bundesregierung darf sich nicht länger hinter ihrer „Staatsräson“ verstecken und jegliche Kritik als Antisemitismus benennen und verfolgen.