Das neueste Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 22. Juli 2024 macht deutlich, dass die Besetzung des palästinensischen Territoriums, seine Besiedlung, der Landraub und die Ausbeutung seiner Ressourcen rechtswidrig sind, dass Armee und Siedler die besetzten Gebiete zu verlassen haben.
BIP-Aktuell #314:
- Eine historische Entscheidung
- Beobachtungen amerikanischer Ärzte und Krankenschwestern aus dem Gaza-Streifen seit dem 7. Oktober 2023
Von Prof. Dr. Norman Paech, em. Professor für Politische Wissenschaft und für öffentliches Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg
Es wird eng um Israel: politisch, moralisch und juristisch. Politisch ist Israel schon lange in der UNO isoliert wie kaum ein anderes Land und verdankt seine Mitgliedschaft bis heute praktisch nur den USA. Immer wenn wieder ein Antrag auf Ausschluss kam, konterten die USA mit der Drohung, ebenfalls die UNO zu verlassen, wenn Israel hinausgeworfen werde. Moralisch wird das offenbar in vielen Regierungen anders gesehen als in ihren Universitäten. Aber man müsste schon die Prinzipien und Grundgedanken des Völkerrechts als Maßstab immerhin unverbindlicher Moral beiseiteschieben und in das neue Regal „regelbasierte Ordnung“ greifen, um die Politik in Jerusalem sowohl nach innen wie nach außen nicht als moralisch abstoßend zu bezeichnen. Und juristisch ist kaum noch ein Ausweg aus der selbstgebauten Sackgasse.
Das neueste Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 22. Juli 2024 erzählt in der Substanz nichts Neues, und niemand war in der Tat wirklich überrascht. Auch die stärksten und dauerhaftesten Unterstützer der israelischen Regierung in Politik und Medien wissen seit Jahren, dass die Besetzung des palästinensischen Territoriums, seine Besiedlung, der Landraub und die Ausbeutung seiner Ressourcen rechtswidrig sind, dass Armee und Siedler die besetzten Gebiete zu verlassen haben. Sie kennen das erste Gutachten des IGH aus dem Jahr 2004, in dem er den Bau der Mauer/Sperrzauns soweit als rechtswidrig erklärte, wie er auf palästinensisches Territorium übergreift – 16% mit ca. 80. 000 Siedlern – , und sich faktisch aneignete. Seinerzeit liess der IGH schon keine Zweifel aufkommen, dass er nicht auch die Besatzung und die Siedlungspolitik für rechtswidrig hielt.
Aktuell nun greift der IGH weiter aus, wird konkreter und präziser – das mag überrascht haben. Die Fragen, die ihm die UN-Generalversammlung Ende Dezember 2022 gestellt hatte, waren klar und machten auch aus der Meinung der Versammlung keinen Hehl:
1. „Welche rechtlichen Konsequenzen ergeben sich aus der fortwährenden Verletzung des Rechts des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung durch Israel, aus seiner anhaltenden Besatzung, Besiedlung und Annexion des seit 1967 besetzten palästinensischen Gebietes, einschließlich der Maßnahmen, die darauf abzielen, die demografische Zusammensetzung, den Charakter und den Status der Heiligen Stadt Jerusalem zu verändern, und aus der Verabschiedung damit verbundener diskriminierender Gesetze und Maßnahmen?“
2. „Wie wirken sich die oben erwähnten Politiken und Praktiken Israels auf den rechtlichen Status der Besatzung aus, und welche rechtlichen Konsequenzen ergeben sich daraus für alle Staaten und die Vereinten Nationen?“
Der IGH veranstaltete vom 19. Februar an eine einwöchige Anhörung in Den Haag, zu der sich 49 Staaten und drei internationale Organisationen angemeldet hatten. Nur auf die Erklärung der chinesischen Regierung sei hier hingewiesen, da sie so ungewohnt in unseren Ohren klingt und wir sie so klar und eindeutig nie von einer Regierung im westlichen NATO-Horizont hören werden. Chinas Vertreter Ma Xinmin erklärte, dass die Palästinenser ein „unveräußerliches Recht“ haben, sich mit Gewalt gegen ausländische Unterdrückung zu wehren. Israel sei aufgrund seiner Besatzung und Unterdrückung für den Konflikt mit den Palästinensern verantwortlich, und fügte hinzu, dass „in diesem Zusammenhang“ der bewaffnete Kampf von Terrorismus zu unterscheiden sei und dass der palästinensische Kampf eine gerechtfertigte Aktion zur Wiederherstellung ihrer legitimen Rechte sei.
Vier Monate später am 19. Juni eröffnete der libanesische Gerichtspräsident Nawaf Salam die Verlesung des Gutachtens mit den Worten: „Israels anhaltender Missbrauch seiner Position als Besatzungsmacht durch die Annexion und die Behauptung einer ständigen Kontrolle über die besetzten palästinensischen Gebiete und die fortgesetzte Vereitelung des Rechts des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung verstößt gegen grundlegende Prinzipien des Völkerrechts und macht die Anwesenheit Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten rechtswidrig“.
In allen neun Kernpunkten des 83 Seiten umfassenden Gutachtens waren sich die Richter und Richterinnen mit großer Mehrheit einig. Die Besatzung sei, so der Vorsitzende Salam, das Produkt „systematischer Diskriminierung, Segregation und Apartheid“, eine „de-facto Annexion“. Israel habe seine „gesetzwidrige Anwesenheit in den besetzten palästinensischen Gebieten so schnell wie möglich zu beenden“. Die Regierung müsse sofort alle Siedlungsaktivitäten stoppen und alle Siedler aus den bestehenden Siedlungen evakuieren, ferner die „Rückkehr aller Palästinenser, die während der Besatzung vertrieben wurden, an ihren ursprünglichen Wohnort“ ermöglichen. Israel habe für alle Schäden, die alle „natürlichen und juristischen Personen“ durch die Besatzung erlitten hätten, Entschädigung zu leisten. Zudem wiederholt der Gerichtshof seine Forderung von 2004 nach Rückbau der Sperranlage auf israelisches Territorium.
Es gab eine grundsätzliche Ablehnung aller neun Punkte durch ein Dissenting Vote der ugandischen Richterin Julia Sebutinde. Sie hatte sich schon in den Entscheidungen des IGH in der Klage Südafrikas gegen Israel gegen alle Entscheidungen gewandt. Ihre Ablehnung basiert auf der sog. political question – Doktrin in den USA, die die Regierung in zentralen politischen Fragen vor der Gerichtsbarkeit schützt. Ihre Wirkung gilt offensichtlich auch in Uganda und lässt sich mit der Mitgliedschaft Sebutindes bei den Evangelikalen erklären, deren Chef ihr Ehemann ist.
Drei weitere abweichende Voten der Richter Abraham aus Frankreich, Auresku aus Rumänien und Tomka aus Slowakei zu einigen Punkten des Gutachtens mindern nicht den großen Konsens über die zentralen Fragen im Richterkollegium. Während die Mehrheit im Gericht die Berufung Israels auf ein Selbstverteidigungsrecht für die Besatzung 57 Jahre nach ihrem Beginn ablehnt, sind die drei Richter da anderer Meinung. Wegen der „außergewöhnlich komplexen Geschichte und Natur des israelisch-palästinensischen Konflikts“ sei auch jetzt noch eine israelische Militärpräsenz vertretbar. Doch hatte diese Netanjahu zweifellos angenehme Meinung keine Chance im Kollegium, und Richter Yusuf aus Somalia und die australische Richterin Charlesworth traten dem in ihrem Votum ausdrücklich entgegen.
Auf eine besondere Formulierung im Gutachten weist das Sondervotum der US-amerikanischen Richterin Cleveland und des deutschen Richters Nolte hin. Es heißt dort, dass sich Israel „so schnell wie möglich“ aus den besetzten Gebieten zurückziehen soll. Dies ist eine kleine Hintertür, die das Gericht dem Rückzug gelassen hat, und es ist nicht zufällig, dass das Votum aus den USA und der BRD den Blick darauf gelenkt hat.
Israels Offizielle wiesen, wie zu erwarten, das Gutachten zurück, es würde den Friedensprozess unterminieren. Netanjahu fand es absurd und erklärte: „Das jüdische Volk ist kein Besatzer in seinem eigenen Land, auch nicht in unserer ewigen Hauptstadt Jerusalem oder in Judäa und Samaria, unserer historischen Heimat.“
Das Auswärtige Amt verbreitete einen X-Spot der deutschen Außenministerin auf Reisen, das schon jetzt signalisiert, dass die Bundesregierung der Forderung des IGH, die Unterstützung der rechtswidrigen Besatzungspolitik Israels aufzugeben, nicht nachkommen wird: „Der IGH hat ein wegweisendes Gutachten zum Nahostkonflikt veröffentlicht. Klar ist: Die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik steht der 2-Staaten-Lösung im Weg. ISR-Regierung wäre gut beraten, das Gutachten ernst zu nehmen & den Weg für 2-Staatenlösung freizumachen.“
Da auch von den USA, gleich unter welcher zukünftigen Präsidentschaft, kein Wechsel in ihrer Israel-Politik zu erwarten ist, bleiben nur die Vereinten Nationen, an die die Forderung ergeht, „die genauen Modalitäten und weiteren Maßnahmen, die erforderlich sind, um die unrechtmäßige Präsenz des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten so schnell wie möglich zu beenden“. Da der UN-Sicherheitsrat durch das Veto der USA blockiert bleibt, wird es die Aufgabe der Generalversammlung sein, Mittel zu finden, die die israelische Regierung unter Druck setzen, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen. Vorbild sollte die Zähigkeit der südafrikanischen Regierung sein, die durch wiederholte Anträge beim Gerichtshof schließlich ein Votum für den Waffenstillstand im Süden des Gazastreifens erhielt. Dabei gilt es vor allem, die kleine Hintertür zu schließen, die das Gutachten gelassen hat, indem es den Rückzug aus den besetzten Gebieten nur „so schnell wie möglich“ fordert.
Bei aller Skepsis über die Wirkung dieses Gutachtens auf die Politik Israels und seiner Paten USA und BRD sollte seine Bedeutung nicht unterschätzt werden. Jahrzehnte war die internationale Justiz systematisch aus dem Konflikt in Palästina herausgehalten worden. Erst in den letzten 10 Jahren war es zunächst der Internationale Strafgerichtshof (IStGH), der nach dem schweren Angriff auf Gaza 2014 mit über 2000 Toten und Zehntausend Verletzten die Untersuchungen wegen möglicher Kriegsverbrechen aufnahm. In umfangreichen Gutachten musste er seine Zuständigkeit für Palästina, ein Land, das von der UNO bisher trotz mehrfacher Versuche nur als Staat mit Beobachterstatus anerkannt worden ist, begründen. Und nun steht er vor der Entscheidung, zum ersten Mal in der Geschichte einen westlichen Staatschef in Haft zu nehmen. Der Internationale Gerichtshof folgte, angetrieben durch die Klage Südafrikas gegen Israel und Nicaraguas gegen Deutschland. Der Auftrag der UN-Generalversammlung an den IGH initiierte nicht nur das vierte Verfahren der internationalen Gerichtsbarkeit, sondern auch die grundsätzlichste, die gesamte Problematik der israelischen Besatzung umfassende Prüfung und Entscheidung. Die vom IGH geforderte Beendigung von über fünfzig Jahre Unterdrückung, Landraub und Apartheid in Palästina mag nicht sofort gelingen, ist aber dennoch eine historische Entscheidung der Internationalen Justiz.
Anmerkung der Redaktion zum obigen Thema: Der ehemalige Direktor von Human Rights Watch, Kenneth Roth, wirft der Bundesregierung Inkonsequenz in ihrer Nahostpolitik vor. Wenn Palästinenser von Menschenrechten ausgenommen würden, gebe es für niemanden Menschenrechte, sagt Roth im Deutschlandfunk.
Kenneth Roth im Gespräch mit Stephan Detjen | DLF 27.07.2024
https://www.deutschlandfunk.de/israel-gaza-kenneth-roth-human-rights-watch-100.html
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BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden.
Beobachtungen amerikanischer Ärzte und Krankenschwestern aus dem Gaza-Streifen seit dem 7. Oktober 2023 – Brief an Präsident Biden
Ich habe noch nie so schreckliche Verletzungen gesehen, in so großem Ausmaß und mit so wenigen Mitteln. Unsere Bomben zerfetzen Frauen und Kinder zu Tausenden. Ihre verstümmelten Körper sind ein Monument der Grausamkeit.
Dr. Feroze Sidhwa, Chirurg für Traumatologie und Intensivmedizin
Ich habe so viele Totgeburten und Todesfälle von Müttern gesehen, die leicht hätten verhindert werden können, wenn die Krankenhäuser normal funktioniert hätten.
Dr. Thalia Pachiyannakis, Geburtshelferin und Gynäkologin
Jeden Tag sah ich Babys sterben. Sie waren gesund geboren worden. Ihre Mütter waren so mangelernährt,dass sie nicht stillen konnten, und wir hatten weder Muttermilch noch sauberes Wasser, um sie zu füttern, so dass sie verhungerten.
Asma Taha, praktizierende Kinderkrankenschwester
In Gaza hielt ich zum ersten Mal das Gehirn eines Babys in meiner Hand. Das erste von vielen.
Dr. Mark Perlmutter, Orthopäde und Handchirurg
Sehr geehrter Präsident Joseph R. Biden, sehr geehrte Vizepräsidentin Kamala Harris und Dr. Jill Biden,
wir sind fünfundvierzig US-amerikanische Ärzte, Chirurgen und Krankenschwestern, die sich seit dem 7. Oktober 2023 freiwillig in den Gaza-Streifen begeben haben. Wir arbeiteten mit verschiedenen Nichtregierungsorganisationen und der Weltgesundheitsorganisation in Krankenhäusern im gesamten Gazastreifen. Neben unserem medizinischen und chirurgischen Fachwissen haben viele von uns einen Hintergrund im Bereich der öffentlichen Gesundheit sowie Erfahrung in humanitären und Konfliktgebieten, einschließlich der Ukraine während der brutalen russischen Invasion. Einige von uns sind Veteranen der Streitkräfte der Vereinigten Staaten. Wir sind eine multireligiöse und multiethnische Gruppe. Keiner von uns unterstützt die Gräueltaten, die am 7. Oktober von bewaffneten palästinensischen Gruppen und Einzelpersonen in Israel begangen wurden.
In der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation heißt es: „Die Gesundheit aller Völker ist von grundlegender Bedeutung für die Verwirklichung von Frieden und Sicherheit und hängt von der uneingeschränkten Zusammenarbeit von Einzelpersonen und Staaten ab.“ In diesem Sinne schreiben wir Ihnen.
Wir gehören zu den einzigen neutralen Beobachtern, die seit dem 7. Oktober in den Gaza-Streifen einreisen durften. Aufgrund unseres umfassenden Fachwissens und unserer unmittelbaren Erfahrung im Gazastreifen sind wir in einer einzigartigen Position, um uns zu mehreren Fragen zu äußern, die für unsere Regierung wichtig sind, wenn sie entscheidet, den Angriff Israels auf den Gazastreifen und dessen Belagerung weiterhin zu unterstützen. Insbesondere glauben wir, dass wir gut positioniert sind, um uns zu den massiven menschlichen Opfern des israelischen Angriffs auf den Gazastreifen zu äußern, insbesondere zu den Opfern an Frauen und Kindern.
In diesem Schreiben haben wir unsere eigenen Erfahrungen und direkten Beobachtungen in Gaza zusammengetragen und zusammengefasst. Wir haben auch Links zu einem viel längeren und viel zitierten Anhang, der die öffentlich zugänglichen Informationen aus Medien, humanitären und akademischen Quellen zu den wichtigsten Aspekten der israelischen Invasion in Gaza zusammenfasst. Der Anhang ist als PDF-Datei unter https://tinyurl.com/gazadoctorsletterappendix verfügbar. Dieser Brief kann elektronisch als PDF-Datei unter https://tinyurl.com/gazadoctorsletter abgerufen werden.
Dieser Brief und der Anhang zeigen, dass die Zahl der Opfer in Gaza viel höher ist, als in den Vereinigten Staaten verstanden wird. Es ist wahrscheinlich, dass die Zahl der Todesopfer in diesem Konflikt bereits höher ist als 92.000, das sind erstaunliche 4,2 % der Bevölkerung des Gazastreifens. Unsere Regierung muss sofort handeln, um eine noch schlimmere Katastrophe zu verhindern als die, die bereits über die Menschen in Gaza und Israel hereingebrochen ist.
Ein Waffenstillstand muss sowohl Israel als auch den bewaffneten palästinensischen Gruppen auferlegt werden, indem die militärische Unterstützung für Israel aufhört und ein internationales Waffenembargo gegen Israel und alle bewaffneten palästinensischen Gruppen durchgesetzt wird. Wir glauben, dass unsere Regierung dazu verpflichtet ist, sowohl nach US-amerikanischem Recht als auch nach dem humanitärem Völkerrecht, und wir glauben, dass es das Richtige ist, dies zu tun.
Bis auf wenige Ausnahmen sind alle Menschen in Gaza krank, verletzt oder beides. Dies gilt für jeden nationalen Helfer, jeden internationalen Freiwilligen und wahrscheinlich jede israelische Geisel: jeder Mann, jede Frau und jedes Kind. Während unserer Arbeit in Gaza sahen wir eine weit verbreitete Unterernährung bei unseren Patienten und unseren palästinensischen Kollegen im Gesundheitswesen. Jeder von uns verlor in Gaza schnell an Gewicht, obwohl wir privilegierten Zugang zu Lebensmitteln hatten und unsere eigene nährstoffreiche Zusatznahrung mitgenommen hatten. Wir haben Fotobeweise für eine lebensbedrohliche Unterernährung unserer Patienten, insbesondere der Kinder, die wir gerne mit Ihnen teilen möchten.
Praktisch jedes Kind unter fünf Jahren, das wir sowohl innerhalb als auch außerhalb des Krankenhauses angetroffen haben, hatte sowohl Husten als auch wässrigen Durchfall. Wir fanden Fälle von Gelbsucht (ein Hinweis auf eine Hepatitis-A-Infektion) in praktisch jedem Raum der Krankenhäuser, in denen wir arbeiteten, und bei vielen unserer Kollegen im Gesundheitswesen in Gaza. Ein erstaunlich hoher Prozentsatz unserer chirurgischen Schnitte wurde infiziert, eine Kombination aus Unterernährung, unmöglichen Operationsbedingungen und Mangel an Vorräten von Medikamenten, einschließlich Antibiotika. Die schwangeren Frauen, die wir behandelten, brachten oft untergewichtige Kinder zur Welt, die aufgrund von Unterernährung nicht gestillt werden konnten. Dadurch waren ihre Neugeborenen einem hohen Risiko ausgesetzt. Da es im gesamten Gazastreifen keinen Zugang zu Trinkwasser gibt, besteht für die Neugeborenen ein hohes Sterberisiko. Viele dieser Säuglinge starben. In Gaza sahen wir, wie unterernährte Mütter ihre untergewichtigen Neugeborenen mit Säuglingsnahrung fütterten, die mit vergiftetem Wasser hergestellt wurde. Wir dürfen nie vergessen, dass die Welt diese unschuldigen Frauen und Babys im Stich gelassen hat.
Wir bitten Sie, sich bewusst zu machen, dass im Gazastreifen Epidemien wüten. Israels fortgesetzte, wiederholte Vertreibung der unterernährten und kranken Bevölkerung von Gaza, von denen die Hälfte Kinder sind, in Gebiete ohne fließendes Wasser oder gar Toiletten, ist absolut schockierend. Es ist praktisch garantiert, dass dies zu weit verbreiteten und bakteriellen Durchfallerkrankungen und Lungenentzündungen, insbesondere bei Kindern unter fünf Jahren führt. Wir befürchten, dass unbekannte Tausende bereits an der tödlichen Kombination aus Unterernährung und Krankheit gestorben sind und dass in den kommenden Monaten weitere Zehntausende sterben werden. Die meisten von ihnen werden junge Kinder sein.
Kinder gelten in bewaffneten Konflikten gemeinhin als unschuldig. Doch jeder einzelne Unterzeichner dieses Schreibens hat Kinder im Gazastreifen behandelt, die Opfer von Gewalt wurden, die gezielt gegen sie gerichtet war.
Konkret hat jeder von uns täglich Kinder im Alter unter zehn behandelt, denen in den Kopf und in die Brust geschossen worden war.
Herr Präsident und Herr Dr. Biden, wir wünschten, Sie könnten die Albträume sehen, die so viele von uns seit unserer Rückkehr plagen, Träume von Kindern, die von unseren Waffen verstümmelt wurden, und ihre untröstlichen Mütter, die uns anflehen, sie zu retten. Wir wünschten, Sie könnten die Schreie und das Weinen hören, die unser Gewissen uns nicht vergessen lassen wird. Wir können nicht glauben, dass irgendjemand weiterhin das Land bewaffnet, das diese Kinder vorsätzlich tötet, nachdem wir gesehen haben, was wir gesehen haben.
Die schwangeren Frauen, die wir behandelten, waren besonders unterernährt. Diejenigen von uns, die mit schwangeren Frauen arbeiteten, sahen regelmäßig Totgeburten und Todesfälle bei Müttern, die in jedem anderen Gesundheitssystem der sog. Dritten Welt leicht vermeidbar wären. Die Infektionsrate bei Kaiserschnittentbindungen war erstaunlich groß. Frauen wurden ohne Anästhesie operiert und bekamen danach nur Tylenol, weil keine anderen Schmerzmittel zur Verfügung standen.
Wir alle beobachteten, dass die Notaufnahmen von Patienten überschwemmt wurden, die eine Behandlung für chronische Krankheiten wie Nierenversagen, Bluthochdruck und Diabetes suchten. Abgesehen von Traumapatienten waren die meisten Betten auf der Intensivstation mit Typ-1-Diabetikern belegt, die aufgrund des Mangels an Medikamenten und des weit verbreiteten Stromausfalls keinen Zugang mehr zu gespritztem Insulin hatten. Israel hat mehr als die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen im Gazastreifen zerstört und jeden 40. Mitarbeiter des Gesundheitswesens in Gaza getötet. Gleichzeitig ist der Bedarf an medizinischer Versorgung durch die tödliche Kombination von militärischer Gewalt, Unterernährung und Krankheiten massiv gestiegen.
In den Krankenhäusern, in denen wir arbeiteten, fehlte es an grundlegenden Hilfsgütern, von chirurgischem Material bis hin zu Seife. Sie waren regelmäßig von der Stromversorgung und dem Internetzugang abgeschnitten, hatten kein sauberes Wasser und arbeiteten mit der vier- bis siebenfachen ihrer Bettenkapazität. Jedes Krankenhaus war überfordert mit dem Ansturm von Vertriebenen, die Sicherheit suchten, durch den ständigen Strom von Patienten, deren Behandlung chronischer Erkrankungen durch den Krieg unterbrochen worden war, durch den enormen Zustrom schwer verwundeter Patienten, die typischerweise bei Massenunfällen eintrafen und durch kranke und unterernährte Menschen, die medizinische Hilfe suchten.
Diese Beobachtungen und das öffentlich zugängliche Material, das im Anhang aufgeführt ist, führen zu der Annahme, dass die Zahl der Todesopfer in diesem Konflikt um ein Vielfaches höher ist als vom Gesundheitsministerium in Gaza angegeben. Wir glauben auch, dass dies ein Beweis für weit verbreitete Verstöße gegen US- amerikanische Gesetze ist, die den Einsatz amerikanischer Waffen im Ausland regeln, und gegen humanitäres Völkerrecht. Wir können die Szenen unerträglicher Grausamkeit gegen Frauen und Kinder nicht vergessen, die wir selbst miterlebt haben.
Als wir unsere Kollegen aus dem Gesundheitswesen in Gaza trafen, war klar, dass sie unterernährt und sowohl körperlich und seelisch am Boden zerstört waren. Wir erfuhren schnell, dass unsere palästinensischen Kollegen im Gesundheitswesen zu den am stärksten traumatisierten Menschen in Gaza, vielleicht sogar in der ganzen Welt, gehörten. Wie praktisch alle Menschen in Gaza hatten sie Familienmitglieder und ihr Zuhause verloren. Die meisten lebten in und um ihre Krankenhäuser mit ihren überlebenden Familien unter unvorstellbaren Bedingungen. Obwohl sie weiterhin nach einem zermürbenden Zeitplan arbeiteten und obwohl sie seit dem 7. Oktober nicht mehr bezahlt worden waren. Alle waren sich bewusst, dass sie durch ihre Arbeit als Gesundheitsdienstleister zur Zielscheibe Israels geworden waren. Dies ist eine Verhöhnung des Schutzstatus der Krankenhäuser und der Gesundheitsdienstleister nach den ältesten und am meisten akzeptierten Bestimmungen des humanitären Völkerrechts.
In Gaza trafen wir medizinisches Personal, das in Krankenhäusern arbeitete, die von Israel überfallen und zerstört worden waren. Viele dieser Kollegen wurden während der Angriffe von Israel verschleppt. Sie alle erzählten uns in leicht veränderter Version dieselbe Geschichte: In der Gefangenschaft wurden sie kaum ernährt, ständig körperlich und psychisch missbraucht und schließlich nackt am Straßenrand ausgesetzt. Viele erzählten uns, dass sie Scheinhinrichtungen und anderen Formen der Misshandlung und Folter ausgesetzt waren. Viel zu viele unserer Kollegen aus dem Gesundheitswesen sagten uns, dass sie einfach auf den Tod warteten.
Wir fordern Sie auf zu erkennen, dass Israel das gesamte Gesundheitssystem des Gazastreifens direkt angegriffen und vorsätzlich zerstört hat und dass Israel unsere Kollegen im Gazastreifen zum Tode verurteilt hat, sie verschwinden lässt und foltert. Diese skrupellosen Handlungen stehen im völligen Widerspruch zum US-amerikanischen Recht, zu den amerikanischen Werten und dem humanitären Völkerrecht.
Dr. Biden, Sie haben Ihr ganzes Leben lang mit jungen Menschen gearbeitet. Wir hoffen und beten, dass Sie nicht wegschauen werden von den unaussprechlichen Schrecken, denen die Jugend von Gaza heute ausgesetzt ist, Schrecken, die nur wir als US-Amerikaner beenden können. Wir hoffen aufrichtig, dass Sie alles in Ihrer Macht Stehende tun werden, um das, was ihnen angetan wird, zu beenden.
Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris, jede Lösung für dieses Problem muss mit einem sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand beginnen. Wir fordern Sie dringend auf, dem Staat Israel die militärische, wirtschaftliche und diplomatische Unterstützung zu verweigern und sich an einem internationalen Waffenembargo sowohl gegen Israel als auch gegen alle bewaffneten palästinensischen Gruppen zu beteiligen, bis ein dauerhafter Waffenstillstand erreicht ist und bis aufrichtige Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern zu einer dauerhaften Lösung des Konflikts führen.
In der Zwischenzeit:
1. Alle Landübergänge zwischen Gaza und Israel sowie der Rafah-Übergang müssen für ungehinderte Hilfslieferungen durch anerkannte internationale humanitäre Organisationen geöffnet werden. Die Sicherheitskontrolle der Hilfslieferungen muss durch ein unabhängiges internationales Inspektionssystem anstelle der israelischen Streitkräfte durchgeführt werden. Diese Kontrollen müssen auf einer klaren, unmissverständlichen und veröffentlichten Liste verbotener Güter und einem klaren unabhängigen internationalen Mechanismus zur Zurückweisung verbotener Güter, vom UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in den besetzten palästinensischen Gebieten überprüft.
2. Der Bevölkerung des Gazastreifens muss eine Mindestmenge von 20 Litern Trinkwasser pro Person und Tag zugewiesen werden, von UN Water überprüft.
3. Uneingeschränkter Zugang für medizinisches und chirurgisches Personal und medizinische und chirurgische Ausrüstung in den Gaza-Streifen muss zugelassen werden. Es gilt auch für Gegenstände, die im persönlichen Gepäck des medizinischen Personals mitgeführt werden, um ihre ordnungsgemäße Lagerung, Sterilität und rechtzeitige Lieferung zu gewährleisten, wie von der Weltgesundheitsorganisation überprüft. Unglaublicherweise verbietet Israel derzeit allen Ärzten palästinensischer Abstammung, in Gaza zu arbeiten, selbst wenn sie US-amerikanische Staatsbürger sind. Dies ist eine Verhöhnung des US-amerikanischen Ideals, dass „alle Menschen gleich geschaffen sind“, und entwürdigt unsere Nation und unseren Beruf. Unsere Arbeit ist lebensrettend. Unsere palästinensischen Kollegen im Gesundheitswesen in Gaza suchen verzweifelt nach Hilfe und Schutz, und sie verdienen beides.
Wir sind keine Politiker. Wir erheben nicht den Anspruch, alle Antworten zu haben. Wir sind einfach Ärzte und Krankenschwestern, die zu dem, was wir in Gaza gesehen haben, nicht schweigen können. Jeder Tag, an dem wir weiterhin Waffen und Munition an Israel liefern, ist ein weiterer Tag, an dem Frauen von unseren Bomben zerfetzt und Kinder mit unseren Kugeln ermordet werden.
Präsident Biden und Vizepräsident Harris, wir fordern Sie auf: Beenden Sie diesen Wahnsinn jetzt!
Mit freundlichen und dringlichen Grüßen
Feroze Sidhwa, MD, MPH, FACS, FICS
Chirurg für Trauma, Akutversorgung, Intensivpflege und Allgemeinchirurgie
Allgemeiner Chirurg für Veteranenangelegenheiten in Nordkalifornien
Einsatz im European Hospital, Khan Younis, 25. März bis 8. April
Sekretär/Schatzmeister, Chest Wall Injury Society
Außerordentlicher Professor für Chirurgie, California Northstate University
College für Medizin
Frühere humanitäre Einsätze in Haiti, Westjordanland, Ukraine (3
Einsätze seit 2023), und Simbabwe
Behandlung der Opfer des Boston-Marathon-Bombenanschlags
French Camp, CA
Mark Perlmutter, MD, FAAOS, FICS
Orthopädische und Handchirurgie
Einsatz im European Hospital, Khan Younis, 25. März bis 8. April
Präsident, World Surgical Foundation
Globaler Vizepräsident, Internationales College der Chirurgen
Frühere humanitäre Arbeit in 30 Ländern
Behandlung von Opfern des 11. Septembers und des Hurrikans Katrina
Rocky Mount, NC
(Es folgen 43 weitere Unterschriften.)
https://edition.cnn.com/2024/07/26/world/open-letter-45-us-physicians-gaza/index.html
https://www.dropbox.com/scl/fi/bf4mfymnmn4t1wyvdkx4h/Letter.pdf?rlkey=z3ekl4u9gtya2p33ek6ud2zet&e=3&dl=0
Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.Das neueste Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 22. Juli 2024 macht deutlich, dass die Besetzung des palästinensischen Territoriums, seine Besiedlung, der Landraub und die Ausbeutung seiner Ressourcen rechtswidrig sind, dass Armee und Siedler die besetzten Gebiete zu verlassen haben.
BIP-Aktuell #314:
- Eine historische Entscheidung
- Beobachtungen amerikanischer Ärzte und Krankenschwestern aus dem Gaza-Streifen seit dem 7. Oktober 2023
Von Prof. Dr. Norman Paech, em. Professor für Politische Wissenschaft und für öffentliches Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg
Es wird eng um Israel: politisch, moralisch und juristisch. Politisch ist Israel schon lange in der UNO isoliert wie kaum ein anderes Land und verdankt seine Mitgliedschaft bis heute praktisch nur den USA. Immer wenn wieder ein Antrag auf Ausschluss kam, konterten die USA mit der Drohung, ebenfalls die UNO zu verlassen, wenn Israel hinausgeworfen werde. Moralisch wird das offenbar in vielen Regierungen anders gesehen als in ihren Universitäten. Aber man müsste schon die Prinzipien und Grundgedanken des Völkerrechts als Maßstab immerhin unverbindlicher Moral beiseiteschieben und in das neue Regal „regelbasierte Ordnung“ greifen, um die Politik in Jerusalem sowohl nach innen wie nach außen nicht als moralisch abstoßend zu bezeichnen. Und juristisch ist kaum noch ein Ausweg aus der selbstgebauten Sackgasse.
Das neueste Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 22. Juli 2024 erzählt in der Substanz nichts Neues, und niemand war in der Tat wirklich überrascht. Auch die stärksten und dauerhaftesten Unterstützer der israelischen Regierung in Politik und Medien wissen seit Jahren, dass die Besetzung des palästinensischen Territoriums, seine Besiedlung, der Landraub und die Ausbeutung seiner Ressourcen rechtswidrig sind, dass Armee und Siedler die besetzten Gebiete zu verlassen haben. Sie kennen das erste Gutachten des IGH aus dem Jahr 2004, in dem er den Bau der Mauer/Sperrzauns soweit als rechtswidrig erklärte, wie er auf palästinensisches Territorium übergreift – 16% mit ca. 80. 000 Siedlern – , und sich faktisch aneignete. Seinerzeit liess der IGH schon keine Zweifel aufkommen, dass er nicht auch die Besatzung und die Siedlungspolitik für rechtswidrig hielt.
Aktuell nun greift der IGH weiter aus, wird konkreter und präziser – das mag überrascht haben. Die Fragen, die ihm die UN-Generalversammlung Ende Dezember 2022 gestellt hatte, waren klar und machten auch aus der Meinung der Versammlung keinen Hehl:
1. „Welche rechtlichen Konsequenzen ergeben sich aus der fortwährenden Verletzung des Rechts des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung durch Israel, aus seiner anhaltenden Besatzung, Besiedlung und Annexion des seit 1967 besetzten palästinensischen Gebietes, einschließlich der Maßnahmen, die darauf abzielen, die demografische Zusammensetzung, den Charakter und den Status der Heiligen Stadt Jerusalem zu verändern, und aus der Verabschiedung damit verbundener diskriminierender Gesetze und Maßnahmen?“
2. „Wie wirken sich die oben erwähnten Politiken und Praktiken Israels auf den rechtlichen Status der Besatzung aus, und welche rechtlichen Konsequenzen ergeben sich daraus für alle Staaten und die Vereinten Nationen?“
Der IGH veranstaltete vom 19. Februar an eine einwöchige Anhörung in Den Haag, zu der sich 49 Staaten und drei internationale Organisationen angemeldet hatten. Nur auf die Erklärung der chinesischen Regierung sei hier hingewiesen, da sie so ungewohnt in unseren Ohren klingt und wir sie so klar und eindeutig nie von einer Regierung im westlichen NATO-Horizont hören werden. Chinas Vertreter Ma Xinmin erklärte, dass die Palästinenser ein „unveräußerliches Recht“ haben, sich mit Gewalt gegen ausländische Unterdrückung zu wehren. Israel sei aufgrund seiner Besatzung und Unterdrückung für den Konflikt mit den Palästinensern verantwortlich, und fügte hinzu, dass „in diesem Zusammenhang“ der bewaffnete Kampf von Terrorismus zu unterscheiden sei und dass der palästinensische Kampf eine gerechtfertigte Aktion zur Wiederherstellung ihrer legitimen Rechte sei.
Vier Monate später am 19. Juni eröffnete der libanesische Gerichtspräsident Nawaf Salam die Verlesung des Gutachtens mit den Worten: „Israels anhaltender Missbrauch seiner Position als Besatzungsmacht durch die Annexion und die Behauptung einer ständigen Kontrolle über die besetzten palästinensischen Gebiete und die fortgesetzte Vereitelung des Rechts des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung verstößt gegen grundlegende Prinzipien des Völkerrechts und macht die Anwesenheit Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten rechtswidrig“.
In allen neun Kernpunkten des 83 Seiten umfassenden Gutachtens waren sich die Richter und Richterinnen mit großer Mehrheit einig. Die Besatzung sei, so der Vorsitzende Salam, das Produkt „systematischer Diskriminierung, Segregation und Apartheid“, eine „de-facto Annexion“. Israel habe seine „gesetzwidrige Anwesenheit in den besetzten palästinensischen Gebieten so schnell wie möglich zu beenden“. Die Regierung müsse sofort alle Siedlungsaktivitäten stoppen und alle Siedler aus den bestehenden Siedlungen evakuieren, ferner die „Rückkehr aller Palästinenser, die während der Besatzung vertrieben wurden, an ihren ursprünglichen Wohnort“ ermöglichen. Israel habe für alle Schäden, die alle „natürlichen und juristischen Personen“ durch die Besatzung erlitten hätten, Entschädigung zu leisten. Zudem wiederholt der Gerichtshof seine Forderung von 2004 nach Rückbau der Sperranlage auf israelisches Territorium.
Es gab eine grundsätzliche Ablehnung aller neun Punkte durch ein Dissenting Vote der ugandischen Richterin Julia Sebutinde. Sie hatte sich schon in den Entscheidungen des IGH in der Klage Südafrikas gegen Israel gegen alle Entscheidungen gewandt. Ihre Ablehnung basiert auf der sog. political question – Doktrin in den USA, die die Regierung in zentralen politischen Fragen vor der Gerichtsbarkeit schützt. Ihre Wirkung gilt offensichtlich auch in Uganda und lässt sich mit der Mitgliedschaft Sebutindes bei den Evangelikalen erklären, deren Chef ihr Ehemann ist.
Drei weitere abweichende Voten der Richter Abraham aus Frankreich, Auresku aus Rumänien und Tomka aus Slowakei zu einigen Punkten des Gutachtens mindern nicht den großen Konsens über die zentralen Fragen im Richterkollegium. Während die Mehrheit im Gericht die Berufung Israels auf ein Selbstverteidigungsrecht für die Besatzung 57 Jahre nach ihrem Beginn ablehnt, sind die drei Richter da anderer Meinung. Wegen der „außergewöhnlich komplexen Geschichte und Natur des israelisch-palästinensischen Konflikts“ sei auch jetzt noch eine israelische Militärpräsenz vertretbar. Doch hatte diese Netanjahu zweifellos angenehme Meinung keine Chance im Kollegium, und Richter Yusuf aus Somalia und die australische Richterin Charlesworth traten dem in ihrem Votum ausdrücklich entgegen.
Auf eine besondere Formulierung im Gutachten weist das Sondervotum der US-amerikanischen Richterin Cleveland und des deutschen Richters Nolte hin. Es heißt dort, dass sich Israel „so schnell wie möglich“ aus den besetzten Gebieten zurückziehen soll. Dies ist eine kleine Hintertür, die das Gericht dem Rückzug gelassen hat, und es ist nicht zufällig, dass das Votum aus den USA und der BRD den Blick darauf gelenkt hat.
Israels Offizielle wiesen, wie zu erwarten, das Gutachten zurück, es würde den Friedensprozess unterminieren. Netanjahu fand es absurd und erklärte: „Das jüdische Volk ist kein Besatzer in seinem eigenen Land, auch nicht in unserer ewigen Hauptstadt Jerusalem oder in Judäa und Samaria, unserer historischen Heimat.“
Das Auswärtige Amt verbreitete einen X-Spot der deutschen Außenministerin auf Reisen, das schon jetzt signalisiert, dass die Bundesregierung der Forderung des IGH, die Unterstützung der rechtswidrigen Besatzungspolitik Israels aufzugeben, nicht nachkommen wird: „Der IGH hat ein wegweisendes Gutachten zum Nahostkonflikt veröffentlicht. Klar ist: Die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik steht der 2-Staaten-Lösung im Weg. ISR-Regierung wäre gut beraten, das Gutachten ernst zu nehmen & den Weg für 2-Staatenlösung freizumachen.“
Da auch von den USA, gleich unter welcher zukünftigen Präsidentschaft, kein Wechsel in ihrer Israel-Politik zu erwarten ist, bleiben nur die Vereinten Nationen, an die die Forderung ergeht, „die genauen Modalitäten und weiteren Maßnahmen, die erforderlich sind, um die unrechtmäßige Präsenz des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten so schnell wie möglich zu beenden“. Da der UN-Sicherheitsrat durch das Veto der USA blockiert bleibt, wird es die Aufgabe der Generalversammlung sein, Mittel zu finden, die die israelische Regierung unter Druck setzen, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen. Vorbild sollte die Zähigkeit der südafrikanischen Regierung sein, die durch wiederholte Anträge beim Gerichtshof schließlich ein Votum für den Waffenstillstand im Süden des Gazastreifens erhielt. Dabei gilt es vor allem, die kleine Hintertür zu schließen, die das Gutachten gelassen hat, indem es den Rückzug aus den besetzten Gebieten nur „so schnell wie möglich“ fordert.
Bei aller Skepsis über die Wirkung dieses Gutachtens auf die Politik Israels und seiner Paten USA und BRD sollte seine Bedeutung nicht unterschätzt werden. Jahrzehnte war die internationale Justiz systematisch aus dem Konflikt in Palästina herausgehalten worden. Erst in den letzten 10 Jahren war es zunächst der Internationale Strafgerichtshof (IStGH), der nach dem schweren Angriff auf Gaza 2014 mit über 2000 Toten und Zehntausend Verletzten die Untersuchungen wegen möglicher Kriegsverbrechen aufnahm. In umfangreichen Gutachten musste er seine Zuständigkeit für Palästina, ein Land, das von der UNO bisher trotz mehrfacher Versuche nur als Staat mit Beobachterstatus anerkannt worden ist, begründen. Und nun steht er vor der Entscheidung, zum ersten Mal in der Geschichte einen westlichen Staatschef in Haft zu nehmen. Der Internationale Gerichtshof folgte, angetrieben durch die Klage Südafrikas gegen Israel und Nicaraguas gegen Deutschland. Der Auftrag der UN-Generalversammlung an den IGH initiierte nicht nur das vierte Verfahren der internationalen Gerichtsbarkeit, sondern auch die grundsätzlichste, die gesamte Problematik der israelischen Besatzung umfassende Prüfung und Entscheidung. Die vom IGH geforderte Beendigung von über fünfzig Jahre Unterdrückung, Landraub und Apartheid in Palästina mag nicht sofort gelingen, ist aber dennoch eine historische Entscheidung der Internationalen Justiz.
Anmerkung der Redaktion zum obigen Thema: Der ehemalige Direktor von Human Rights Watch, Kenneth Roth, wirft der Bundesregierung Inkonsequenz in ihrer Nahostpolitik vor. Wenn Palästinenser von Menschenrechten ausgenommen würden, gebe es für niemanden Menschenrechte, sagt Roth im Deutschlandfunk.
Kenneth Roth im Gespräch mit Stephan Detjen | DLF 27.07.2024
https://www.deutschlandfunk.de/israel-gaza-kenneth-roth-human-rights-watch-100.html
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BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden.
Beobachtungen amerikanischer Ärzte und Krankenschwestern aus dem Gaza-Streifen seit dem 7. Oktober 2023 – Brief an Präsident Biden
Ich habe noch nie so schreckliche Verletzungen gesehen, in so großem Ausmaß und mit so wenigen Mitteln. Unsere Bomben zerfetzen Frauen und Kinder zu Tausenden. Ihre verstümmelten Körper sind ein Monument der Grausamkeit.
Dr. Feroze Sidhwa, Chirurg für Traumatologie und Intensivmedizin
Ich habe so viele Totgeburten und Todesfälle von Müttern gesehen, die leicht hätten verhindert werden können, wenn die Krankenhäuser normal funktioniert hätten.
Dr. Thalia Pachiyannakis, Geburtshelferin und Gynäkologin
Jeden Tag sah ich Babys sterben. Sie waren gesund geboren worden. Ihre Mütter waren so mangelernährt,dass sie nicht stillen konnten, und wir hatten weder Muttermilch noch sauberes Wasser, um sie zu füttern, so dass sie verhungerten.
Asma Taha, praktizierende Kinderkrankenschwester
In Gaza hielt ich zum ersten Mal das Gehirn eines Babys in meiner Hand. Das erste von vielen.
Dr. Mark Perlmutter, Orthopäde und Handchirurg
Sehr geehrter Präsident Joseph R. Biden, sehr geehrte Vizepräsidentin Kamala Harris und Dr. Jill Biden,
wir sind fünfundvierzig US-amerikanische Ärzte, Chirurgen und Krankenschwestern, die sich seit dem 7. Oktober 2023 freiwillig in den Gaza-Streifen begeben haben. Wir arbeiteten mit verschiedenen Nichtregierungsorganisationen und der Weltgesundheitsorganisation in Krankenhäusern im gesamten Gazastreifen. Neben unserem medizinischen und chirurgischen Fachwissen haben viele von uns einen Hintergrund im Bereich der öffentlichen Gesundheit sowie Erfahrung in humanitären und Konfliktgebieten, einschließlich der Ukraine während der brutalen russischen Invasion. Einige von uns sind Veteranen der Streitkräfte der Vereinigten Staaten. Wir sind eine multireligiöse und multiethnische Gruppe. Keiner von uns unterstützt die Gräueltaten, die am 7. Oktober von bewaffneten palästinensischen Gruppen und Einzelpersonen in Israel begangen wurden.
In der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation heißt es: „Die Gesundheit aller Völker ist von grundlegender Bedeutung für die Verwirklichung von Frieden und Sicherheit und hängt von der uneingeschränkten Zusammenarbeit von Einzelpersonen und Staaten ab.“ In diesem Sinne schreiben wir Ihnen.
Wir gehören zu den einzigen neutralen Beobachtern, die seit dem 7. Oktober in den Gaza-Streifen einreisen durften. Aufgrund unseres umfassenden Fachwissens und unserer unmittelbaren Erfahrung im Gazastreifen sind wir in einer einzigartigen Position, um uns zu mehreren Fragen zu äußern, die für unsere Regierung wichtig sind, wenn sie entscheidet, den Angriff Israels auf den Gazastreifen und dessen Belagerung weiterhin zu unterstützen. Insbesondere glauben wir, dass wir gut positioniert sind, um uns zu den massiven menschlichen Opfern des israelischen Angriffs auf den Gazastreifen zu äußern, insbesondere zu den Opfern an Frauen und Kindern.
In diesem Schreiben haben wir unsere eigenen Erfahrungen und direkten Beobachtungen in Gaza zusammengetragen und zusammengefasst. Wir haben auch Links zu einem viel längeren und viel zitierten Anhang, der die öffentlich zugänglichen Informationen aus Medien, humanitären und akademischen Quellen zu den wichtigsten Aspekten der israelischen Invasion in Gaza zusammenfasst. Der Anhang ist als PDF-Datei unter https://tinyurl.com/gazadoctorsletterappendix verfügbar. Dieser Brief kann elektronisch als PDF-Datei unter https://tinyurl.com/gazadoctorsletter abgerufen werden.
Dieser Brief und der Anhang zeigen, dass die Zahl der Opfer in Gaza viel höher ist, als in den Vereinigten Staaten verstanden wird. Es ist wahrscheinlich, dass die Zahl der Todesopfer in diesem Konflikt bereits höher ist als 92.000, das sind erstaunliche 4,2 % der Bevölkerung des Gazastreifens. Unsere Regierung muss sofort handeln, um eine noch schlimmere Katastrophe zu verhindern als die, die bereits über die Menschen in Gaza und Israel hereingebrochen ist.
Ein Waffenstillstand muss sowohl Israel als auch den bewaffneten palästinensischen Gruppen auferlegt werden, indem die militärische Unterstützung für Israel aufhört und ein internationales Waffenembargo gegen Israel und alle bewaffneten palästinensischen Gruppen durchgesetzt wird. Wir glauben, dass unsere Regierung dazu verpflichtet ist, sowohl nach US-amerikanischem Recht als auch nach dem humanitärem Völkerrecht, und wir glauben, dass es das Richtige ist, dies zu tun.
Bis auf wenige Ausnahmen sind alle Menschen in Gaza krank, verletzt oder beides. Dies gilt für jeden nationalen Helfer, jeden internationalen Freiwilligen und wahrscheinlich jede israelische Geisel: jeder Mann, jede Frau und jedes Kind. Während unserer Arbeit in Gaza sahen wir eine weit verbreitete Unterernährung bei unseren Patienten und unseren palästinensischen Kollegen im Gesundheitswesen. Jeder von uns verlor in Gaza schnell an Gewicht, obwohl wir privilegierten Zugang zu Lebensmitteln hatten und unsere eigene nährstoffreiche Zusatznahrung mitgenommen hatten. Wir haben Fotobeweise für eine lebensbedrohliche Unterernährung unserer Patienten, insbesondere der Kinder, die wir gerne mit Ihnen teilen möchten.
Praktisch jedes Kind unter fünf Jahren, das wir sowohl innerhalb als auch außerhalb des Krankenhauses angetroffen haben, hatte sowohl Husten als auch wässrigen Durchfall. Wir fanden Fälle von Gelbsucht (ein Hinweis auf eine Hepatitis-A-Infektion) in praktisch jedem Raum der Krankenhäuser, in denen wir arbeiteten, und bei vielen unserer Kollegen im Gesundheitswesen in Gaza. Ein erstaunlich hoher Prozentsatz unserer chirurgischen Schnitte wurde infiziert, eine Kombination aus Unterernährung, unmöglichen Operationsbedingungen und Mangel an Vorräten von Medikamenten, einschließlich Antibiotika. Die schwangeren Frauen, die wir behandelten, brachten oft untergewichtige Kinder zur Welt, die aufgrund von Unterernährung nicht gestillt werden konnten. Dadurch waren ihre Neugeborenen einem hohen Risiko ausgesetzt. Da es im gesamten Gazastreifen keinen Zugang zu Trinkwasser gibt, besteht für die Neugeborenen ein hohes Sterberisiko. Viele dieser Säuglinge starben. In Gaza sahen wir, wie unterernährte Mütter ihre untergewichtigen Neugeborenen mit Säuglingsnahrung fütterten, die mit vergiftetem Wasser hergestellt wurde. Wir dürfen nie vergessen, dass die Welt diese unschuldigen Frauen und Babys im Stich gelassen hat.
Wir bitten Sie, sich bewusst zu machen, dass im Gazastreifen Epidemien wüten. Israels fortgesetzte, wiederholte Vertreibung der unterernährten und kranken Bevölkerung von Gaza, von denen die Hälfte Kinder sind, in Gebiete ohne fließendes Wasser oder gar Toiletten, ist absolut schockierend. Es ist praktisch garantiert, dass dies zu weit verbreiteten und bakteriellen Durchfallerkrankungen und Lungenentzündungen, insbesondere bei Kindern unter fünf Jahren führt. Wir befürchten, dass unbekannte Tausende bereits an der tödlichen Kombination aus Unterernährung und Krankheit gestorben sind und dass in den kommenden Monaten weitere Zehntausende sterben werden. Die meisten von ihnen werden junge Kinder sein.
Kinder gelten in bewaffneten Konflikten gemeinhin als unschuldig. Doch jeder einzelne Unterzeichner dieses Schreibens hat Kinder im Gazastreifen behandelt, die Opfer von Gewalt wurden, die gezielt gegen sie gerichtet war.
Konkret hat jeder von uns täglich Kinder im Alter unter zehn behandelt, denen in den Kopf und in die Brust geschossen worden war.
Herr Präsident und Herr Dr. Biden, wir wünschten, Sie könnten die Albträume sehen, die so viele von uns seit unserer Rückkehr plagen, Träume von Kindern, die von unseren Waffen verstümmelt wurden, und ihre untröstlichen Mütter, die uns anflehen, sie zu retten. Wir wünschten, Sie könnten die Schreie und das Weinen hören, die unser Gewissen uns nicht vergessen lassen wird. Wir können nicht glauben, dass irgendjemand weiterhin das Land bewaffnet, das diese Kinder vorsätzlich tötet, nachdem wir gesehen haben, was wir gesehen haben.
Die schwangeren Frauen, die wir behandelten, waren besonders unterernährt. Diejenigen von uns, die mit schwangeren Frauen arbeiteten, sahen regelmäßig Totgeburten und Todesfälle bei Müttern, die in jedem anderen Gesundheitssystem der sog. Dritten Welt leicht vermeidbar wären. Die Infektionsrate bei Kaiserschnittentbindungen war erstaunlich groß. Frauen wurden ohne Anästhesie operiert und bekamen danach nur Tylenol, weil keine anderen Schmerzmittel zur Verfügung standen.
Wir alle beobachteten, dass die Notaufnahmen von Patienten überschwemmt wurden, die eine Behandlung für chronische Krankheiten wie Nierenversagen, Bluthochdruck und Diabetes suchten. Abgesehen von Traumapatienten waren die meisten Betten auf der Intensivstation mit Typ-1-Diabetikern belegt, die aufgrund des Mangels an Medikamenten und des weit verbreiteten Stromausfalls keinen Zugang mehr zu gespritztem Insulin hatten. Israel hat mehr als die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen im Gazastreifen zerstört und jeden 40. Mitarbeiter des Gesundheitswesens in Gaza getötet. Gleichzeitig ist der Bedarf an medizinischer Versorgung durch die tödliche Kombination von militärischer Gewalt, Unterernährung und Krankheiten massiv gestiegen.
In den Krankenhäusern, in denen wir arbeiteten, fehlte es an grundlegenden Hilfsgütern, von chirurgischem Material bis hin zu Seife. Sie waren regelmäßig von der Stromversorgung und dem Internetzugang abgeschnitten, hatten kein sauberes Wasser und arbeiteten mit der vier- bis siebenfachen ihrer Bettenkapazität. Jedes Krankenhaus war überfordert mit dem Ansturm von Vertriebenen, die Sicherheit suchten, durch den ständigen Strom von Patienten, deren Behandlung chronischer Erkrankungen durch den Krieg unterbrochen worden war, durch den enormen Zustrom schwer verwundeter Patienten, die typischerweise bei Massenunfällen eintrafen und durch kranke und unterernährte Menschen, die medizinische Hilfe suchten.
Diese Beobachtungen und das öffentlich zugängliche Material, das im Anhang aufgeführt ist, führen zu der Annahme, dass die Zahl der Todesopfer in diesem Konflikt um ein Vielfaches höher ist als vom Gesundheitsministerium in Gaza angegeben. Wir glauben auch, dass dies ein Beweis für weit verbreitete Verstöße gegen US- amerikanische Gesetze ist, die den Einsatz amerikanischer Waffen im Ausland regeln, und gegen humanitäres Völkerrecht. Wir können die Szenen unerträglicher Grausamkeit gegen Frauen und Kinder nicht vergessen, die wir selbst miterlebt haben.
Als wir unsere Kollegen aus dem Gesundheitswesen in Gaza trafen, war klar, dass sie unterernährt und sowohl körperlich und seelisch am Boden zerstört waren. Wir erfuhren schnell, dass unsere palästinensischen Kollegen im Gesundheitswesen zu den am stärksten traumatisierten Menschen in Gaza, vielleicht sogar in der ganzen Welt, gehörten. Wie praktisch alle Menschen in Gaza hatten sie Familienmitglieder und ihr Zuhause verloren. Die meisten lebten in und um ihre Krankenhäuser mit ihren überlebenden Familien unter unvorstellbaren Bedingungen. Obwohl sie weiterhin nach einem zermürbenden Zeitplan arbeiteten und obwohl sie seit dem 7. Oktober nicht mehr bezahlt worden waren. Alle waren sich bewusst, dass sie durch ihre Arbeit als Gesundheitsdienstleister zur Zielscheibe Israels geworden waren. Dies ist eine Verhöhnung des Schutzstatus der Krankenhäuser und der Gesundheitsdienstleister nach den ältesten und am meisten akzeptierten Bestimmungen des humanitären Völkerrechts.
In Gaza trafen wir medizinisches Personal, das in Krankenhäusern arbeitete, die von Israel überfallen und zerstört worden waren. Viele dieser Kollegen wurden während der Angriffe von Israel verschleppt. Sie alle erzählten uns in leicht veränderter Version dieselbe Geschichte: In der Gefangenschaft wurden sie kaum ernährt, ständig körperlich und psychisch missbraucht und schließlich nackt am Straßenrand ausgesetzt. Viele erzählten uns, dass sie Scheinhinrichtungen und anderen Formen der Misshandlung und Folter ausgesetzt waren. Viel zu viele unserer Kollegen aus dem Gesundheitswesen sagten uns, dass sie einfach auf den Tod warteten.
Wir fordern Sie auf zu erkennen, dass Israel das gesamte Gesundheitssystem des Gazastreifens direkt angegriffen und vorsätzlich zerstört hat und dass Israel unsere Kollegen im Gazastreifen zum Tode verurteilt hat, sie verschwinden lässt und foltert. Diese skrupellosen Handlungen stehen im völligen Widerspruch zum US-amerikanischen Recht, zu den amerikanischen Werten und dem humanitären Völkerrecht.
Dr. Biden, Sie haben Ihr ganzes Leben lang mit jungen Menschen gearbeitet. Wir hoffen und beten, dass Sie nicht wegschauen werden von den unaussprechlichen Schrecken, denen die Jugend von Gaza heute ausgesetzt ist, Schrecken, die nur wir als US-Amerikaner beenden können. Wir hoffen aufrichtig, dass Sie alles in Ihrer Macht Stehende tun werden, um das, was ihnen angetan wird, zu beenden.
Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris, jede Lösung für dieses Problem muss mit einem sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand beginnen. Wir fordern Sie dringend auf, dem Staat Israel die militärische, wirtschaftliche und diplomatische Unterstützung zu verweigern und sich an einem internationalen Waffenembargo sowohl gegen Israel als auch gegen alle bewaffneten palästinensischen Gruppen zu beteiligen, bis ein dauerhafter Waffenstillstand erreicht ist und bis aufrichtige Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern zu einer dauerhaften Lösung des Konflikts führen.
In der Zwischenzeit:
1. Alle Landübergänge zwischen Gaza und Israel sowie der Rafah-Übergang müssen für ungehinderte Hilfslieferungen durch anerkannte internationale humanitäre Organisationen geöffnet werden. Die Sicherheitskontrolle der Hilfslieferungen muss durch ein unabhängiges internationales Inspektionssystem anstelle der israelischen Streitkräfte durchgeführt werden. Diese Kontrollen müssen auf einer klaren, unmissverständlichen und veröffentlichten Liste verbotener Güter und einem klaren unabhängigen internationalen Mechanismus zur Zurückweisung verbotener Güter, vom UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in den besetzten palästinensischen Gebieten überprüft.
2. Der Bevölkerung des Gazastreifens muss eine Mindestmenge von 20 Litern Trinkwasser pro Person und Tag zugewiesen werden, von UN Water überprüft.
3. Uneingeschränkter Zugang für medizinisches und chirurgisches Personal und medizinische und chirurgische Ausrüstung in den Gaza-Streifen muss zugelassen werden. Es gilt auch für Gegenstände, die im persönlichen Gepäck des medizinischen Personals mitgeführt werden, um ihre ordnungsgemäße Lagerung, Sterilität und rechtzeitige Lieferung zu gewährleisten, wie von der Weltgesundheitsorganisation überprüft. Unglaublicherweise verbietet Israel derzeit allen Ärzten palästinensischer Abstammung, in Gaza zu arbeiten, selbst wenn sie US-amerikanische Staatsbürger sind. Dies ist eine Verhöhnung des US-amerikanischen Ideals, dass „alle Menschen gleich geschaffen sind“, und entwürdigt unsere Nation und unseren Beruf. Unsere Arbeit ist lebensrettend. Unsere palästinensischen Kollegen im Gesundheitswesen in Gaza suchen verzweifelt nach Hilfe und Schutz, und sie verdienen beides.
Wir sind keine Politiker. Wir erheben nicht den Anspruch, alle Antworten zu haben. Wir sind einfach Ärzte und Krankenschwestern, die zu dem, was wir in Gaza gesehen haben, nicht schweigen können. Jeder Tag, an dem wir weiterhin Waffen und Munition an Israel liefern, ist ein weiterer Tag, an dem Frauen von unseren Bomben zerfetzt und Kinder mit unseren Kugeln ermordet werden.
Präsident Biden und Vizepräsident Harris, wir fordern Sie auf: Beenden Sie diesen Wahnsinn jetzt!
Mit freundlichen und dringlichen Grüßen
Feroze Sidhwa, MD, MPH, FACS, FICS
Chirurg für Trauma, Akutversorgung, Intensivpflege und Allgemeinchirurgie
Allgemeiner Chirurg für Veteranenangelegenheiten in Nordkalifornien
Einsatz im European Hospital, Khan Younis, 25. März bis 8. April
Sekretär/Schatzmeister, Chest Wall Injury Society
Außerordentlicher Professor für Chirurgie, California Northstate University
College für Medizin
Frühere humanitäre Einsätze in Haiti, Westjordanland, Ukraine (3
Einsätze seit 2023), und Simbabwe
Behandlung der Opfer des Boston-Marathon-Bombenanschlags
French Camp, CA
Mark Perlmutter, MD, FAAOS, FICS
Orthopädische und Handchirurgie
Einsatz im European Hospital, Khan Younis, 25. März bis 8. April
Präsident, World Surgical Foundation
Globaler Vizepräsident, Internationales College der Chirurgen
Frühere humanitäre Arbeit in 30 Ländern
Behandlung von Opfern des 11. Septembers und des Hurrikans Katrina
Rocky Mount, NC
(Es folgen 43 weitere Unterschriften.)
https://edition.cnn.com/2024/07/26/world/open-letter-45-us-physicians-gaza/index.html
https://www.dropbox.com/scl/fi/bf4mfymnmn4t1wyvdkx4h/Letter.pdf?rlkey=z3ekl4u9gtya2p33ek6ud2zet&e=3&dl=0
Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.