Die entscheidende Rolle des Gerichts bei der Besatzung
1. Israels Oberster Gerichtshof
2. Erfreulich: Gründung der Den Haag-Gruppe
3. Israels alarmierender Schritt: Die Annexion des Westjordanlandes beginnt
Der Oberste Gerichtshof Israels wurde als Kontrolle der Regierungsmacht und als notwendiges Element in einer Demokratie ohne Verfassung angesehen. Das Gericht vermied in der Vergangenheit jedoch eine Konfrontation mit der Regierung und ließ Verstöße gegen das Völkerrecht zu. In einigen Fällen, in denen das Gericht gegen die Regierung entschied, wurde es von der Regierung ignoriert. Die derzeitige rechtsextreme israelische Regierung hat sich offen gegen den Obersten Gerichtshof gewandt und weigert sich, den neuen Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, Yitzhak Amit, anzuerkennen.
Yitzhak Amit wurde am 13. Februar vom Ausschuss für richterliche Ernennungen zum Präsidenten des israelischen Obersten Gerichtshofs ernannt. Die Regierung, einschließlich des Justizministers Yariv Levin, boykottierte die Vereidigung und weigert sich, seine Ernennung anzuerkennen. Der Konflikt zwischen der israelischen Judikative und der Exekutive war noch nie so heftig wie heute, aber es handelt sich nicht um einen Konflikt, der gegensätzliche Meinungen in einem demokratischen System repräsentiert, sondern vielmehr um das Zerbrechen einer Fassade, die suggeriert, dass Israel eine Gewaltenteilung hat, wie sie für eine Demokratie konstitutiv ist.

Yariv Levin, Israels Justizminister. Quelle: 2020, Wikipedia.
Das israelische Gerichtssystem besteht aus drei Ebenen: 28 „Friedensgerichten“, 6 Bezirksgerichten und einem Oberstes Gerichthof. Darüber hinaus gibt es in Israel ein paralleles System religiöser Gerichte: jüdische Rabbinatsgerichte und muslimische Scharia-Gerichte, die für das Familienrecht zuständig sind.
Der Oberste Gerichtshof fungiert wie in den USA als oberste Instanz für alle Rechtsfragen. Als Aharon Barak Präsident des Obersten Gerichtshofs war (1995-2006), sagte er: „Alles kann beurteilt werden“, womit er andeutete, dass jedes Gesetz und jeder Regierungsbeschluss möglicherweise vom Obersten Gerichtshof aufgehoben bzw. für unzulässig erklärt werden kann. In Ermangelung einer Verfassung müsse der Oberste Gerichtshof die einzige Grenze für die Macht der Regierung sein, so Baraks Argumentation.
Der Oberste Gerichtshof hat eine Doppelrolle: Einerseits ist er das oberste Rechtsmittelgericht, andererseits entscheidet er als High Court in erster Instanz über Klagen gegen verschiedene Behörden.
In seinem 2018 erschienenen Buch „The Wall and the Gate“ berichtet der israelische Menschenrechtsanwalt Michael Sfard über die Rolle des israelischen Gerichtssystems zur Aufrechterhaltung der Besatzung palästinensischer Gebiete. Zu den bemerkenswerten Urteilen des Obersten Gerichtshofs in seiner Funktion als High Court gehört der Fall Alon Moreh aus dem Jahr 1979, in dem das Gericht den Bau der illegalen Siedlung Alon Moreh in der Nähe von Nablus im Westjordanland zuließ und das Argument akzeptierte, dass „Staatsland“ (d. h. öffentliches Land) dem Staat Israel gehört und zur Besiedlung des Westjordanlands mit jüdischen Siedlern genutzt werden kann, was allerdings einen Verstoß gegen Art. 49, letzter Absatz, der Vierten Genfer Konvention darstellt. 1992 erlaubte das Gericht der Regierung Rabin, über 400 Palästinenser ohne Gerichtsverfahren in den Libanon abzuschieben, weil sie verdächtigt wurden, Mitglieder der Hamas zu sein. Der Oberste Gerichtshof lehnte auch zahlreiche Anträge ab, die darauf abzielten, den Abriss von Häusern von Palästinensern zu verhindern. Dies stellt eine Form der kollektiven Bestrafung dar, die jedoch nie gegen Juden eingesetzt wurde. Eine 2002 eingereichte Klage gegen die Politik der gezielten Tötungen, die es dem israelischen Militär erlaubte, Palästinenser ohne Gerichtsverfahren zu töten, wies der Gerichtshof zurück. Es sah die Materie als nicht justitiabel an. 2006 gab er diese Rechtsauffassung auf und legte die Voraussetzungen dar, unter denen gezielte Tötungen zulässig sein sollen. In mehreren Fällen genehmigte das Gericht den Bau der Trennmauer auf palästinensischem Gebiet. Der Internationale Gerichtshof (IGH) kam in seinem Gutachten von 2004 zu dem Schluss, dass der Bau der Mauer völkerrechtswidrig ist.
Sfard argumentiert, dass das Gericht für die Besatzung notwendig sei, da die Handlungen Israels ohne das Gericht als brutaler Terrorismus angesehen würden. Diejenigen, die glauben, dass Israel ein demokratischer Staat sei, würden die Urteile des Gerichts als Beweis dafür nehmen, dass die Besatzung auf legale Weise gehandhabt wird. Es gab eine Reihe von Fällen, in denen das Gericht gegen die Regierungspolitik entschied, und in einigen wenigen ignorierte die Regierung das Urteil. Ein solcher Fall war ein Urteil aus dem Jahr 1951. Es ging um die Bevölkerung der palästinensischen Dörfer Ikrit und Biram, die während der Nakba 1948 vertrieben wurde und auf deren Land der Kibbuz Baram errichtet wurde. Das Gericht hatte angeordnet, dass die Dorfbewohner zurückkehren durften, doch die israelische Regierung und das Militär verstießen gegen diese Anordnung und tun dies bis heute. 1981 wandten sich die Dorfbewohner erneut an den Obersten Gerichtshof und forderten die Umsetzung des Beschlusses von 1951, doch das Gericht lehnte den Antrag – wie Sfard meint, aus Angst vor einer Konfrontation mit der Regierung – ab.
Obwohl der Gerichtshof bei Israels Verstößen gegen das Völkerrecht mitgewirkt hat, hat der rechte Flügel in Israel dies nicht honoriert. Dies wurde mit der Bildung der rechtsextremen israelischen Regierung im Januar 2023 deutlich: Netanjahu ernannte Yariv Levin zum Justizminister. Da Netanjahu selbst mit schwerwiegenden Korruptionsvorwürfen konfrontiert ist, bezog er eine populistische Position gegenüber dem Obersten Gerichtshof und setzte sich dafür ein, die Kontrolle der Legislative und der Regierung durch den Gerichtshof auszuhebeln. Als die Demonstranten 2023 auf die Straße gingen, um das Gericht zu verteidigen, argumentierten sie, dass ohne eine starke Judikative Israelis im Ausland wegen Kriegsverbrechen verhaftet werden könnten. Die einzige Verteidigung gegen die internationale Gerichtsbarkeit sei das Argument, dass Israel selbst über einen Mechanismus zur Bestrafung von Kriegsverbrechen verfüge.
Levin und seine Anhänger verunglimpften Aharon Barak und dämonisierten ihn als Stimme der tyrannischen Richter, die den „Willen des Volkes“ einschränken wollen – eine illiberale politische Sprache, die an die PiS-Partei in Polen und die Fidesz-Partei in Ungarn erinnert. Als Südafrika Israel des Verbrechens des Völkermords anklagte, bat Netanjahu Barak jedoch, Israel als Richter im IGH zu vertreten, da er dazu beitrug, Israel als Demokratie darzustellen. Barak stimmte gegen die Anordnung des IGH vom 26. Januar 2024, der zufolge Israel alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen ergreifen muss, um gegen die Völkermordkonvention verstoßende Handlungen zu verhindern. Er vertrat die Meinung einer kleinen Minderheit, aber er trat nach sechs Monaten im Juni 2024 zurück und wurde durch Ron Shapira ersetzt, einen rechtsgerichteten Richter mit wenig Erfahrung im internationalen Recht, der den IGH verhöhnt und die Besatzung offen unterstützt.

Yitzhak Amit, Präsident des Obersten Gerichtshofs von Israel. Quelle: 2025, Instagram.
*******************************************************
Werde Mitglied im Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e.V. (BIP) und unterstütze unsere Arbeit. Jahresbeitrag für stimmberechtigte ordentliche Mitglieder 150 €, für Fördermitglieder 100 €.
Ein Aufnahmeantrag ist an den Vorstand zu stellen: info@bip-jetzt.de.
Weitere Informationen: www.bip-jetzt.de
Wenn Sie die Arbeit von BIP unterstützen möchten – dies ist unser Spendenkonto: BIP e.V., IBAN: DE 43 2545 1345 0051 0579 58, BIC NOLADE21PMT
Hier können Sie BIP-Aktuell abonnieren: https://bip-jetzt.de/blog/
*******************************************************
Angesichts der zumeist sehr deprimierenden Berichte in unserem Newsletter steht an dieser Stelle die Rubrik „Erfreulich“ – in der Hoffnung, dass diese Meldungen uns allen Mut machen, denn „Aufgeben ist keine Option“!
BIP Aktuell: Erfreulich
(in Auszügen): „Israel zur Rechenschaft ziehen: Was ist die „The Hague Group“?
Eine Gruppe von Staaten gelobt, ihre Bemühungen zu koordinieren, um israelische Verstöße gegen das Völkerrecht zu bekämpfen. Wer sind diese Staaten und was haben sie sich vorgenommen?
Am 31. Januar kamen Vertreter von neun Ländern in Den Haag, Niederlande, zusammen, um eine globale Allianz namens „The Hague Group“ zu gründen, die Israel nach dem Völkerrecht zur Rechenschaft ziehen soll.
Es war ein historischer Präzedenzfall und die erste derartige Initiative seit der Nakba und der Gründung Israels, um staatliche Maßnahmen zur Verhinderung von Verstößen gegen das Völkerrecht, die gegen das palästinensische Volk begangen werden, zu koordinieren.
Die Gründungsmitglieder der Gruppe sind Belize, Bolivien, Kolumbien, Kuba, Honduras, Malaysia, Namibia, Senegal und Südafrika.
Einige dieser Staaten haben in den letzten 15 Monaten bereits wichtige Schritte unternommen, um das Völkerrecht zu verteidigen und durchzusetzen.
Südafrika beispielsweise reichte vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag eine richtungsweisende Klage gegen Israel wegen angeblicher Verstöße gegen die Völkermordkonvention in Gaza ein.
Mehrere Staaten des Bündnisses schlossen sich später der Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof an, darunter Bolivien, Kolumbien und Namibia.
Darüber hinaus untersagten Namibia und Malaysia Schiffen, die Waffen nach Israel transportierten, das Anlegen in ihren Häfen, während Kolumbien den Export von Kohle nach Israel einstellte. Kolumbien und Bolivien riefen außerdem ihre Botschafter aus Israel zurück, um gegen den verheerenden Krieg gegen Gaza zu protestieren.
Diese Bemühungen waren jedoch nicht koordiniert, und hier soll die Den Haag-Gruppe eine bedeutende Rolle spielen, sagte Varsha Gandikota-Nellutla, die Vorsitzende der Gruppe, gegenüber Middle East Eye.
Gandikota-Nellutla, die Co-Generalkoordinatorin der Progressive International, einer linken transnationalen politischen Gruppe, ist, sagte, die Gruppe sei als Reaktion auf die Nichteinhaltung verbindlicher internationaler Rechtspflichten durch Staaten gegründet worden.
Dies ist eine Anspielung auf den Widerstand einer Reihe westlicher Staaten gegen die Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant im November 2024 und die Nichteinhaltung der Anordnungen des IGH, Israels Verstöße gegen die Völkermordkonvention zu stoppen.
Der Haftbefehl gegen Netanjahu war der erste in der Geschichte des Gerichts, der gegen Politiker eines mit dem Westen verbündeten Landes erlassen wurde.
Gemäß dem Römischen Statut für den IStGH sind alle Vertragsstaaten gesetzlich verpflichtet, die vom Gericht gesuchten Personen festzunehmen und nach Den Haag zu überstellen.
Eine Reihe westlicher Staaten, die Vertragsstaaten des IStGH sind, darunter Frankreich, Italien und Ungarn, kündigten jedoch an, dass sie die Haftbefehle nicht vollstrecken würden, wenn Netanjahu auf ihrem Staatsgebiet landet, und behaupteten, er genieße völkerrechtliche Immunität.
Diese Auffassung wurde sowohl vom IStGH als auch von führenden Experten für Immunität weltweit bestritten.
Der IGH ordnete als sofortige Maßnahme ordnete an, dass Israel sicherstellen müsse, dass seine Armee keine völkermörderischen Handlungen gegen Palästinenser begehe.
Auf Ersuchen Südafrikas erließ der Internationale Gerichtshof am 28. März und am 24. Mai einstweilige Verfügungen, in denen Israel aufgefordert wurde, seinen Angriff auf Rafah einzustellen und die ungehinderte Lieferung humanitärer Hilfe an die Palästinenser sicherzustellen.
In seinem Beschluss vom Mai ordnete der IGH außerdem an, dass Israel sicherstellen müsse, dass UN-Ermittler in den Gazastreifen einreisen können, um Vorwürfe des Völkermords zu untersuchen.
Die Anordnungen des IGH waren zwar an Israel gerichtet, aber Drittstaaten haben nach dem Völkergewohnheitsrecht die Pflicht, Völkermord zu verhindern und zu bestrafen, selbst wenn er außerhalb ihres Hoheitsgebiets stattfindet, wie der IGH im wegweisenden Fall des Völkermords in Bosnien im Jahr 2007 erklärt hatte.
Diese Pflicht kann erfüllt werden, indem Israel dazu angehalten wird, Verstöße gegen die Völkermordkonvention zu unterlassen, und indem mit der gebotenen Sorgfalt sichergestellt wird, dass Exporte oder Unterstützung nicht zu strafbaren Handlungen im Sinne der Konvention beitragen.
Aus: https://www.middleeasteye.net/news/holding-israel-accountable-what-hague-group
BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden.
Israels alarmierender Schritt: Die Annexion des Westjordanlandes beginnt
Bei vielen Maßnahmen des Besatzungsregimes im Westjordanland, insbesondere im letzten Jahr, handelt es sich um Annexionsmaßnahmen: die Vertreibung von Palästinensern aus ihren Dörfern, die Enteignung ihres Landes, die Konfiszierung ihrer Häusern und vieles mehr. Nun sollen die Aktivitäten „on the ground“ offizielle Regierungspolitik werden. Zur Erinnerung: Netanyahu hatte während seiner USA-Reise im September 2024 bereits eine Landkarte gezeigt, auf der überhaupt kein Palästina zu sehen war. Das Wort „Israel“ erstreckte sich vom Jordan bis zum Mittelmeer.
Der Artikel in Palestine Chronicle befasst sich mit dem von der israelischen Regierung vorgeschlagenen Gesetz zur Annexion des Westjordanlandes und seinen Auswirkungen auf die palästinensische Souveränität und das Völkerrecht.
Die Knesset hat vor kurzem in erster Lesung den Gesetzentwurf beraten, der es Israelis ermöglicht, Land im Westjordanland zu besitzen, ohne dass die Armee zustimmen muss. Diese wichtige Entwicklung blieb in der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt und wurde von einer Reihe anderer Ereignisse überschattet.
Tatsächlich handelt es sich bei diesem Gesetzentwurf, der noch drei weitere Genehmigungsstufen durchlaufen muss, um einen der gefährlichsten Gesetzentwürfe, den die israelische Regierung über ihren Arm „Siedlerbewegung“, angeführt von Finanzminister Bezalel Smotrich und seiner Partei des Religiösen Zionismus, zur Beratung in der Knesset eingebracht hat.
Sollte das Gesetz verabschiedet werden, wird es erhebliche Auswirkungen auf den Rechtsstatus von Gebieten im Westjordanland haben und den Weg für deren vollständige Annexion ebnen, wie dies bereits mit den Golanhöhen und Ostjerusalem geschehen ist. Denn dieses Gesetz hebt die Autorität des israelischen Militärs über das Westjordanland auf und behandelt es als Teil Israels. Mit anderen Worten: Es beendet den Status des Westjordanlandes als besetztes Land.
Anm. der Redaktion: In seinem Rechtsgutachten vom 19.7.2024 stellte der Internationale Gerichtshof fest, dass Israel große Teile des besetzten palästinensischen Gebiets bereits annektiert hat (Rn. 173).
https://www.palestinechronicle.com/israels-alarming-move-the-annexation-of-the-west-bank-begins/
Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.
Ein Kommentar