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Warum hat Israel Jenin angegriffen?

Es gibt fünf Theorien, die zu erklären versuchen, warum Israel Anfang Juli 2023 Jenin angegriffen hat. Eine sorgfältige Analyse der Ereignisse zeigt, dass vier dieser Theorien nicht so überzeugen wie die fünfte, die sich auf Aussagen von Palästinensern in Jenin stützt, die den Angriff unmittelbar erlebt haben.

Der israelische Einmarsch in die palästinensische Stadt Jenin im nördlichen Westjordanland, von den israelischen Behörden als „Operation Haus und Garten“ bezeichnet, war ein brutaler Angriff auf die Zivilbevölkerung. Er erinnerte an die „Operation Defensivschild“ aus dem Jahr 2002, bei der die israelischen Streitkräfte in Jenin einmarschierten und 53 Palästinenser töteten, die meisten von ihnen unbewaffnete Zivilisten. Jenin ist eine kleine Stadt mit 39.000 Einwohnern, und das angegriffene Flüchtlingslager von Jenin beherbergt weitere 23.000 Menschen auf weniger als 500.000 . Dennoch wurde die militärische Invasion eines so kleinen Gebiets als die größte israelische Militäroperation im Westjordanland seit 20 Jahren, seit der zweiten Intifada, bezeichnet. Die Frage, die wir beantworten wollen, lautet: Was war der Grund des Angriff?


Bulldozer zerstörten die Infrastruktur von Jenin und blockierten die Kommunikationswege. Quelle: 2023, Richard Medhurst, Twitter.

Jenin hat den  Ruf einer Bastion  des palästinensischen Widerstandes gegen die israelische Besatzung (siehe BIP-Aktuell #232). Es gibt mehrere Theorien und Spekulationen über den Grund für den israelischen Angriff. Die israelische Regierung wolle den Widerstand zerschlagen, palästinensische Kommandeure verhaften und Waffen beschlagnahmen, um ihre Besatzung des Westjordanlands zu festigen. Oder aber, der Widerstand von Jenin habe den Zorn der israelischen Führung und insbesondere der Siedler hervorgerufen, die diese Operation als Racheakt forderten. Diese beiden Annahmen werden durch die Berichte in Israel gestützt, wonach Ende Juni eine Rakete von Jenin aus in Richtung Israel abgefeuert worden sei. Allerdings wurden diese Berichte nie bestätigt.

In der Zeitung Haaretz wurde der Angriff als abenteuerliches und populistisches Manöver zur Ablenkung von der politischen Krise und dem laufenden Korruptionsprozess gegen Netanjahu dargestellt. Eine vierte Theorie besagt, dass die politische und wirtschaftliche Krise der Palästinensischen Autonomiebehörde die israelische Regierung veranlasst hat, die Operation als Unterstützung für den palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas durchzuführen, um in einer der beiden Städte – neben Jenin war das Nablus -, die sich gegen die Palästinensische Autonomiebehörde aufgelehnt haben, die Infrastruktur zu zerstören und den Widerstand in Jenin zu brechen und dadurch die Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde zurückzugewinnen.

Diese vier Theorien haben alle ihre Berechtigung, aber eine Analyse der tatsächlichen Ereignisse in Jenin und die Aussagen von Bewohnern der Stadt und des Flüchtlingslagers lassen uns zu der Schlussfolgerung kommen, dass es einen fünften Grund für den Angriff geben muss.

Dieser Angriff auf Jenin dauerte etwa 45 Stunden und begann um 1 Uhr morgens am 3. Juli. Die israelischen Streitkräfte töteten 12 Palästinenser, unter ihnen fünf Kinder, und verletzten Hunderte. Ein israelischer Soldat wurde getötet. Die israelischen Streitkräfte setzten neben bewaffneten Drohnen eine Kombination aus alten, ungenauen Kriegswaffen ein, wie etwa Kampfhubschrauber und Panzer, die nie für den Einsatz in städtischem Gebiet konzipiert worden waren. Wie bei der Invasion von Jenin im Jahr 2002 setzten die israelischen Streitkräfte riesige D9-Bulldozer ein, um die Stadt anzugreifen. Diesmal konzentrierten sie sich vor allem auf die Infrastruktur. Die Bulldozer schnitten das Flüchtlingslager und angrenzende Stadtteile von der Wasser- und Stromversorgung und – was sehr wichtig ist – von der Kommunikation ab und hinderten die Bevölkerung daran, in Echtzeit über den Angriff und die von den israelischen Streitkräften begangenen Menschenrechtsverletzungen zu berichten.

Die Luftangriffe waren ein Hauptmerkmal des Angriffs. Sie terrorisierten die Bevölkerung und töteten wahllos Palästinenser, ohne das Leben der israelischen Soldaten zu gefährden. In den letzten Stunden des Angriffs begannen die israelischen Streitkräfte, den Friedhof von Jenin anzugreifen. Tausende von Einwohnern flohen in Panik aus ihren Häusern und nahmen nur das mit, was sie in wenigen Sekunden zusammenraffen konnten. Soldaten flankierten die Flüchtlingskolonnen mit vorgehaltenen Waffen und forderten sie auf, die Stadt zu verlassen.

Rechtsexperten sind der Ansicht, dass  dies ein gezielter Angriff auf die Zivilbevölkerung mit schweren Waffen war und damit ein Kriegsverbrechen darstellt. Die Palästinenser verbreiteten Videos von einer kleinen, unbewaffneten Drohne, die sie abschießen konnten und feierten den Mut der Einwohner von Jenin angesichts der überwältigenden Übermacht. Die Hamas-Kräfte im Gazastreifen haben in Solidarität mit Jenin einige Raketen auf Israel abgefeuert, und die israelische Luftwaffe hat den Gazastreifen bombardiert, aber es gab auf beiden Seiten keine Opfer zu beklagen.

Kommen wir zurück zu den Gründen für die Operation. Trotz des massiven Militäreinsatzes und der großen Zahl der beteiligten israelischen Soldaten wurden mit dem Angriff auf Jenin keine messbaren strategischen Ziele erreicht: Es gab keine wichtigen Festnahmen, und es wurden keine Anlagen zur Herstellung von Waffen gefunden. Ebenso wurde keine bewaffnete palästinensische Gruppe aufgelöst. Dies widerspricht der Theorie, dass die Operation aus strategischen Gründen durchgeführt wurde.

Die Tatsache, dass die israelischen Streitkräfte die Verbindungen nach Jenin gekappt und versucht haben, das Ausmaß der von ihnen begangenen Gräueltaten zu verbergen, widerspricht der zweiten Theorie, wonach der Angriff als Racheakt inszeniert wurde, da die rechtsextremen Israelis nur wenige Bilder haben, die die Brutalität des israelischen Militärs dokumentieren.


Das israelische Militär veröffentlichte dieses Bild von Gegenständen, die von den Streitkräften beschlagnahmt wurden und die sie als „terroristische Ausrüstung“ bezeichnen. Achten Sie besonders auf die Gegenstände, z.B.  links eine Ausrüstung,  um die Knie zu schützen, die bei einer angeblich massiven militärischen Invasion erforderlich wären. Quelle: 3.7.2023, IDF, Wikipedia.

Die dritte Theorie, die den Anschlag mit einer internen politischen Krise in Israel erklärt, ist überzeugender. Einen Tag vor dem Angriff, am Samstagabend des 2. Juli, spaltete sich die große Menge der Demonstranten in Tel Aviv, wobei die Mehrheit der regierungsfeindlichen Demonstranten den Anti-Besatzungsblock innerhalb der Demonstration tätlich angriff, ihre Schilder zerriss und ihre palästinensischen Flaggen zertrat. Das deutet darauf hin, dass die Regierung keinen Grund hat, die Opposition oder die Proteste zu fürchten. Zumal die Richter in Netanjahus Prozess der Staatsanwaltschaft sagten, sie glaubten nicht, dass Netanjahu wegen Bestechung verurteilt werden könne. Daraufhin ließen seine Anwälte dies sofort an die Medien durchsickern, was im israelischen Diskurs den Eindruck erweckte, Netanjahu würde den Prozess gewinnen. Fünf Tage nach dem Angriff auf Jenin verabschiedete Netanjahus Koalition in erster Lesung den Gesetzentwurf zur deutlichen Einschränkung der „Angemessenheitsklausel“ und erreichte damit einen wichtigen Schritt bei seiner sogenannten Justizreform. All dies zeigt eher, dass Netanjahu sich keineswegs in einer politischen Krise befindet.

Was die vierte Theorie über die Stärkung der Palästinensischen Autonomiebehörde angeht, so hat Netanjahu kurz vor dem Angriff auf Jenin seinem Kabinett gesagt, dass „Israel die Palästinensische Autonomiebehörde braucht“. Tatsächlich aber hat der Angriff auf Jenin die PA nicht gestärkt, sondern eher geschwächt. Unmittelbar nach dem Rückzug der israelischen Streitkräfte aus Jenin organisierten die Einwohner einen heftigen Protest gegen die Palästinensische Autonomiebehörde. Netanjahu forderte daraufhin sein Kabinett auf, dringend Maßnahmen zu ergreifen, um den Zusammenbruch der PA zu verhindern.

Und damit sind wir beim fünften Grund angelangt. Die Berichte palästinensischer Augenzeugen klingen vertraut: Israelische Soldaten drängen die Bevölkerung zum Verlassen ihrer Wohnungen und Häuser. Obwohl die Bewohner von Jenin nur vorübergehend aus der Stadt vertrieben wurden und nach Beendigung der Kämpfe zurückkehren konnten, erinnerte sie dies an die Bilder der Nakba, der Massenvertreibung von 1948. Das Flüchtlingslager Jenin wurde 1953 für palästinensische Flüchtlinge eingerichtet, die 1948 vor allem aus Haifa vertrieben worden waren. Auch in Haifa hatten die israelischen Streitkräfte 1948 schwere Waffen eingesetzt und die palästinensische Bevölkerung mit Waffengewalt vertrieben.

Der Angriff auf Jenin vom 3. und 4. Juli scheint der Test einer praktischen ethnischen Säuberung gewesen zu sein. Er war eine Drohung an die Palästinenser:  Widerstand wird mit Vertreibung beantwortet, und ein Versprechen an die Siedler und Soldaten, dass die palästinensische Bevölkerung vertrieben werden kann, um eine jüdische Mehrheit im Westjordanland zu erreichen. Bezalel Smotrich, Chef der Partei des Religiösen Zionismus, ist derzeit nicht nur Israels Finanzminister, sondern auch der amtierende Gouverneur des Westjordanlandes (siehe BIP-Aktuell #249). Smotrich sagte, die Palästinenser müssten zwischen Gehorsam, Vertreibung oder Tod wählen. Die Operation in Jenin ist ein erster Schritt zur Verwirklichung seiner Ziele. Die derzeitige israelische Regierung, die von Amir Fakhoori und Meron Rappoport als „zweite Nakba-Regierung“ bezeichnet wurde, leugnet die Nakba also nicht mehr, sondern benutzt sie vielmehr als Drohung, wenn sie die Palästinenser vor einer zweiten Nakba warnt und ihren eigenen Wählern verspricht, dass ethnische Säuberungen die Zukunft des jüdischen Staates zementieren werden. In Jenin war der Angriff ein Probelauf für eine ethnische Säuberung.

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BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden.
UN-Expertin: Das israelische Kerkerregime und „Freiluft“- Gefängnis für Palästinenser  abschaffen
https://www.ohchr.org/en/press-releases/2023/07/dismantle-israels-carceral-regime-and-open-air-imprisonment-palestinians-un
10. Juli 2023
GENF (10. Juli 2023) – „Israels militärische Besatzung hat das gesamte besetzte palästinensische Gebiet in ein Freiluftgefängnis verwandelt, in dem die Palästinenser ständig eingesperrt, überwacht und diszipliniert werden“, erklärte heute eine UN-Expertin.
„Seit 56 Jahren regiert Israel das besetzte palästinensische Gebiet mit einer erdrückenden Verweigerung grundlegender Rechte und Masseninhaftierungen“, so Francesca Albanese, UN-Sonderberichterstatterin für die Lage der Menschenrechte in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten, in einem neuen Bericht an den Menschenrechtsrat.
„Unter der israelischen Besatzung haben Generationen von Palästinensern weit verbreitete und systematische willkürliche Freiheitsberaubung erduldet, oft für die einfachsten Handlungen des Lebens und die Ausübung grundlegender Menschenrechte“, sagte Albanese. Ohne die Gewalttaten zu entschuldigen, die Palästinenser während der jahrzehntelangen illegalen Besatzung durch Israel begangen haben, sind die meisten ihrer strafrechtlichen Verurteilungen das Ergebnis einer ganzen Reihe von Verstößen gegen das Völkerrecht, einschließlich Verstößen gegen ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren, die die Legitimität der Rechtsprechung durch die Besatzungsmacht beeinträchtigen.
Der Bericht stellt fest, dass seit 1967 mehr als 800.000 Palästinenser, darunter auch Kinder im Alter von 12 Jahren, verhaftet und nach rechtsstaatswidrigen Regeln festgehalten wurden, die vom israelischen Militär erlassen, durchgesetzt und entschieden wurden. Palästinenser werden für Meinungsäußerungen, Versammlungen, nicht genehmigte politische Reden oder auch nur für den Versuch, dies zu tun, lange inhaftiert und schließlich ihres Status als geschützte Zivilisten beraubt. Sie werden oft ohne Beweise für schuldig befunden, ohne Haftbefehl verhaftet, ohne Anklage oder Gerichtsverfahren festgehalten und in israelischem Gewahrsam brutal behandelt.
„Masseninhaftierungen dienen dem Zweck, friedlichen Widerstand gegen die Besatzung zu unterdrücken, das israelische Militär und die Siedler zu schützen und letztlich die koloniale Ausbreitung der Siedler zu erleichtern“, sagte die Sonderberichterstatterin.
„Israel behandelt alle Palästinenser als kollektive ‚Sicherheitsbedrohung‘ und hat drakonische Militärbefehle eingesetzt, um die Ausübung grundlegender Rechte zu bestrafen. Diese Maßnahmen wurden als Mittel eingesetzt, um eine ganze Bevölkerung zu unterjochen, sie ihrer Selbstbestimmung zu berauben, die rassische Vorherrschaft durchzusetzen und den Gebietserwerb mit Gewalt voranzutreiben“, sagte sie. 
Albanese wies darauf hin, dass Israels „Kerkerregime“ das palästinensische Leben auch außerhalb der Gefängnisse prägt. Blockaden, Mauern, getrennte Infrastruktur, Checkpoints, Siedlungen, die palästinensische Städte und Dörfer umzingeln, Hunderte von bürokratischen Genehmigungen und ein Netz digitaler Überwachung versetzen die Palästinenser zusätzlich in gefängnisartige, streng kontrollierte Enklaven.
„Die weit verbreitete und systematische Willkür des Besatzungsregimes ist ein weiterer Ausdruck der Apartheid, die den Palästinensern aufgezwungen wird, und unterstreicht die Notwendigkeit, diese sofort zu beenden“, so die UN-Expertin.
„Der massenhafte und willkürliche Freiheitsentzug, dem die Palästinenser seit Jahrzehnten kollektiv ausgesetzt sind, zielt darauf ab, Israels Annexion palästinensischer Gebiete zu schützen, ein Projekt mit rechtswidrigen Zielen, das mit rechtswidrigen Mitteln verfolgt wird“, sagte Albanese. „Diese weit reichende Verletzung grundlegender Prinzipien des internationalen Rechts kann nicht behoben werden, indem man sich mit einigen ihrer brutalsten Folgen befasst. Die illegale Besatzung Palästinas muss beendet werden, damit das israelische Gefängnisregime und die damit verbundene Apartheid ein Ende finden“, sagte sie.
Albanese forderte die Mitgliedstaaten auf, ihre Verpflichtungen einzuhalten, Israels siedlerkoloniale Besatzung und schrittweise Annexion nicht zu unterstützen oder anzuerkennen, und alle diplomatischen, politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen im Rahmen der UN-Charta zu ergreifen, um die Besatzung zu beenden und sicherzustellen, dass ihre Urheber vor Gericht gestellt werden.
Francesca Albanese ist die Sonderberichterstatterin für die Lage der Menschenrechte in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten. BIP hatte mit ihr am  27.6.23 ein Zoom-Gespräch geführt. Hier kann man das Gespräch verfolgen: https://www.youtube.com/watch?v=BLXedCWX8ug&t=883s

Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.

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