Eine Stadt in Gaza leidet unter Netanjahus Populismus
BIP-Aktuell #294:
- Deir Al-Balah im Gazastreifen wird bombardiert
- Mustafa al-Kurd – ein Nachruf
Deir al-Balah ist eine Stadt im Zentrum des Gazastreifens mit einer reichen Geschichte und einem UNRWA-Flüchtlingslager. Sie wurde in den letzten drei Monaten dreimal angegriffen, wobei jedes Mal das Leben und die Sicherheit unschuldiger Zivilisten eindeutig missachtet wurden. Der erste der drei Angriffe wurde möglicherweise mit Hilfe deutscher Waffen verübt. Der dritte hat bewiesen, dass Israel das Urteil des IGH missachtet.
Deir Al-Balah ist eine Stadt im Zentrum des Gazastreifens mit etwa 75.000 Einwohnern. Sie hat, wie der gesamte Gazastreifen, eine reiche Geschichte. Von der Bronzezeit bis zu den Kreuzzügen befand sich hier eine alte Festung namens „Darum“. Der Name Deir Al-Balah bedeutet „Kloster der Palme“, weil der Mönch Hilarion dort ein christlich-orthodoxes Kloster zu Ehren des heiligen Georgs, der auf Arabisch Al-Khidr genannt wird, gegründet hat.
Flüchtlingslager Deir Al-Balah. Quelle: UNRWA, 2017.
In Deir Al-Balah befindet sich ein Flüchtlingslager, das von der UNRWA, der UN-Agentur für palästinensische Flüchtlinge, betrieben wird. Mit 27.000 registrierten Flüchtlingen ist es das kleinste Flüchtlingslager in Gaza. Israel führt eine Delegitimierungskampagne gegen UNRWA und will damit erreichen, dass einerseits die finanzielle Unterstützung gestrichen wird und andererseits die Tötung der UNWRA-Mitarbeiter gerechtfertigt erscheint; daher wurde Deir Al-Balah zur Zielscheibe israelischer Angriffe.
Der israelische Angriff auf den Gazastreifen zwang die Palästinenser aus dem nördlichen Teil des Gazastreifens, ihre Häuser zu verlassen und in den Süden zu ziehen oder massenhaft getötet zu werden. Deir Al-Balah wurde schnell mit Binnenflüchtlingen überfüllt. Dennoch griff das israelische Militär die Stadt bei drei verschiedenen Gelegenheiten mit schweren Waffen an, die bei Angriffen auf ein ziviles Gebiet zu vielen Toten führen mussten.
Der erste Angriff fand am 1. Dezember statt und wurde von Al-Jazeera als „Hölle auf Erden“ bezeichnet. Bei einem kombinierten Bombardement durch Panzer und Kriegsschiffe wurden in Deir Al-Balah fast 200 Menschen getötet. Da Deutschland sowohl Kriegsschiffe als auch 120-mm-Panzergranaten an Israel verkauft hat, ist Deutschland verpflichtet zu untersuchen, ob seine Waffen zur Tötung von Zivilisten eingesetzt wurden. Dies würde ein Kriegsverbrechen darstellen mit der notwendigen Konsequenz, die dafür Verantwortlichen zu bestrafen.
Der zweite Angriff am 10. Januar ereignete sich in der Nähe des Krankenhauses der Märtyrer von Al-Aqsa in Deir Al-Balah. Das medizinische Personal des Krankenhauses meldete mindestens acht Tote, während das Medienbüro der Regierung von Gaza behauptete, es habe 40 Tote und Verletzte gegeben.
Obwohl der Internationale Gerichtshof in Den Haag entschieden hatte, dass Israel seine Handlungen gegen Zivilisten gemäß Artikel 2 der Konvention zur Verhütung des Völkermordes einstellen muss, wurden weiterhin Zivilisten durch Israel getötet. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch veröffentlichte einen Bericht, in dem sie aufzeigte, dass Israel gegen jede einzelne Anordnung des IGH verstößt, weil es weiterhin alle nach Artikel 2 verbotenen Handlungen begangen hat. Einer der Gründe für den Bericht von Human Rights Watch war der israelische Angriff auf Deir Al-Balah am 22. Februar.
Dieser Angriff vom 22. Februar erfolgte unmittelbar nach einer Razzia der israelischen Bodentruppen am 20. Februar, bei der Palästinenser verprügelt und gefoltert wurden. Die Opfer im Al-Aqsa-Märtyrer-Krankenhaus in Deir-Al-Balah berichteten, dass die Soldaten in ihre Häuser eindrangen, sie wiederholt fragten „Wo ist die Hamas?“ und sie mit Steinbrocken schlugen, wenn sie keine Antwort gaben.
Bei dem Angriff am 22. Februar handelte es sich um einen Luftangriff, bei dem mindestens 40 Menschen getötet und über 100 verwundet wurden. Bei den meisten Opfern handelte es sich um Frauen und Kinder. Unter den Opfern war auch das Baby Mohammed, das am 10. Oktober geboren wurde und im Alter von viereinhalb Monaten starb. Der kleine Mohammed war eines von zehn Familienmitgliedern, die in ihrem Zelt auf dem Dach eines Gebäudes getötet wurden, da sie an keinem anderen Ort Unterschlupf und keinen Platz zum Schlafen gefunden hatten. Israel feuerte eine Rakete auf das Gebäude und auf die Häuser der Familien ab.
Der Angriff erfolgte zur gleichen Zeit, als der israelische Ministerpräsident Netanjahu auf Druck von US-Präsident Biden ein Dokument veröffentlichte, in dem er die Pläne Israels für den Tag nach dem Ende des Krieges darlegte. Netanjahus Plan war es, die israelische Besetzung des Gazastreifens für immer aufrechtzuerhalten und UNRWA durch eine pro-israelische Organisation zu ersetzen. Der Angriff auf Deir Al-Balah machte deutlich, dass die Palästinenser entweder das Angebot annehmen oder sterben müssen.
Der palästinensische Journalist Mohammed Yaghi wurde zusammen mit seiner Familie bei dem Luftangriff auf Deir A-Balah am 22. Februar getötet. Quelle: 2024, Middle East Eye, Twitter.
Gleichzeitig meldete das israelische Verhandlungsteam, dass es kurz vor einer Einigung mit der Hamas über den Austausch von Gefangenen und einen Waffenstillstand steht. Israel machte deutlich, dass es einem Gefangenenaustausch mit der Hamas zustimmt, sich aber weigert, seine Truppen aus dem Gazastreifen abzuziehen und einen Waffenstillstand zu schließen. Daher stimmt die Hamas einem Austausch ohne Waffenstillstand nicht zu. Die Bombardierung von Deir Al-Balah könnte eine israelische Taktik gewesen sein, um die Hamas zu zwingen, ihren Standpunkt zu ändern und das Abkommen zu akzeptieren.
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Am Donnerstag, 14. März 2024, 19 Uhr wird Geschäftsführer von BIP e.V. Dr. Shir Hever einen Online-Vortrag halten zum Thema: Deutschland rüstet Israel für Völkermord.
Weitere Information hier:
https://bip-jetzt.de/deutschland-ruestet-israel-fuer-voelkermord-in-gaza/
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150 €, für Fördermitglieder 100 €.
Ein Aufnahmeantrag ist an den Vorstand zu stellen: info@bip-jetzt.de.
Weitere Informationen: www.bip-jetzt.de
BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden. Heute machen wir aus einem traurigen Anlaß eine Ausnahme von der Regel.
Mustafa al-Kurd – ein Nachruf
Helga Baumgarten schrieb uns am 20. Februar zum Tode ihres Mannes Mustafa al-Kurd:
„Mustafa konnte dieses Leben mit den Verbrechen in Gaza und zusehends in der Westbank und in seiner geliebten Stadt Jerusalem nicht mehr ertragen.
Nach drei Wochen schwerster Krankheit hat er sich heute verabschiedet, in ein anderes Leben der Freiheit, in Frieden und Würde, in den Armen unseres Sohnes Darwish und mir.
Ich habe meinen geliebten Mann und Mitkämpfer für eine bessere Welt verloren, Palästina hat einen großen Komponisten, Oud-Soloisten und Liedermacher verloren, „die Stimme Palästinas“ ist nun nur noch auf den vielen Schallplatten, Kassetten und CDs zu hören.
Denkt an ihn und an uns in den nächsten drei Tagen der Trauer in Jerusalem und am letzten Tag in Jericho.”
In Trauer
Helga
Mustafa al-Kurd. Quelle: Wikimedia Commons.
Salma Mousa schrieb am 24. Februar eine berührende Würdigung auf Mondoweiss, der sich BIP anschließen möchte.
„Am Dienstag, dem 20. Februar 2024, kehrte Mustafa al-Kurd für immer nach Jerusalem zurück.
Als Oudist und Revolutionär prägte Mustafa al-Kurd mit seiner Musik den ersten Volksaufstand des palästinensischen Volkes gegen die israelische Besatzung. Der 1945 in Jerusalem geborene al-Kurd war zu jung, um sich an die Nakba von 1948 zu erinnern, die Palästina seines musikalischen und kulturellen Repertoires beraubte, aber die Naksa von 1967, ein zweiter Exodus (oder wörtlich „Rückschlag“), sollte seinen Weg endgültig bestimmen.
Um sein Wirken zu verstehen, muss man die Zeit verstehen. Al-Kurd begann zu einer Zeit zu musizieren, als die palästinensische Gesellschaft versuchte, zwei folgenschwere Tragödien zu verarbeiten und zu überwinden. Die palästinensische Identität, die ironischerweise während der britischen Mandatszeit blühte, wurde 1948 vollständig zerstört. Fast alle renommierten palästinensischen Komponisten waren vor den israelischen Einschüchterungen geflohen, und wer im Gazastreifen und im Westjordanland unter jordanischer oder (damals) ägyptischer Hoheit verblieb, hatte vielleicht noch keinen Plan. In den 50er und 60er Jahren fand der größte Teil des palästinensischen Musiklebens in der Diaspora statt oder wurde von dort „importiert“. Im Land selbst beschränkte sich die Musik auf das Birzeit College (die spätere Birzeit-Universität) und eine kleine Welle von Amateur-Rockbands oder „Rockformationen“, wie der Forscher Issa Boulos sie einmal nannte. Mustafa al-Kurd, nur mit seiner Stimme und einer Oud, wird dazu beitragen, den Kompass neu zu justieren.
Nachdem er 1967 die Besetzung des Viertels al-Musrarah in Ost-Jerusalem aus erster Hand miterlebt hatte (wo von Israel organisierte Buskarawanen Palästinenser über die jordanische Grenze in die Nachbarländer brachten), war al-Kurds Musik eine Antwort auf das dringende Bedürfnis, sich zu äußern. In seinen Liedern verarbeitete er seine Erfahrungen mit der israelischen Besatzung mit einfachen Melodien und einem klaren Jerusalemer Dialekt. In gewisser Weise trug er dazu bei, eine neue Welle der „palästinensischen Befreiungsmusik“ oder dessen, was später als „engagierter Gesang“ bezeichnet wurde, anzustoßen. Nachdem er durch seine Musik auf sich aufmerksam gemacht hatte, wurde al-Kurd mehrmals vom israelischen Militär verhaftet und in Verwaltungshaft genommen. Seine erste Platte, „Al-Ard Ardi/ Terre De Ma Patrie“ (eine Zusammenarbeit mit der von ihm mitbegründeten Theatergruppe Balaleen), wurde 1974 in Jerusalem produziert und 1976 von der französischen Plattenfirma Expression Spontanée veröffentlicht, nachdem er von den israelischen Behörden deportiert worden war.
Al-Kurd lebte neun Jahre lang im erzwungenen Exil, wo er Klavier und Komposition in Göttingen und Musikethnologie an der Freien Universität Berlin studierte. Dort machte er weiterhin Musik und presste Schallplatten. Al Kurd veröffentlichte 1977 Palästina, meine Liebe für das deutsche Label plän und 1979 das kultige La voix de la Palestine. Die Diskografie von Al-Kurd ist ein direkter Ausdruck des Exils. Wenn man seine Lieder untersucht, kann man seine lange Reise in Europa nachvollziehen und die „goldene Ära“ der weltweiten Solidarität und des Kampfes gegen Kolonialismus und Unterdrückung erkennen. Als er 1984 nach Palästina zurückkehren durfte, eröffnete das berühmte palästinensische Theater al-Hakawati, an dessen Gründung er beteiligt war, noch im selben Jahr offiziell seine Pforten – eine Ode an al-Kurds Rückkehr nach Jerusalem.
Am Dienstag verlor Palästina einen Oud-Virtuosen, einen Theaterpionier, einen Sänger, einen Revolutionär und einen bescheidenen Riesen. Ich habe ihn in den Jahren, in denen ich im Westjordanland lebe, nie persönlich getroffen und bin ihm auch nicht in der Stadt oder in intellektuellen und kulturellen Kreisen begegnet. Ich weiß, dass ich eine oder zwei Generationen nach ihm lebe und seine aktiven Jahre nicht miterlebt habe, aber ich weiß, dass die „Intifada der Steine“ mit Mustafa al-Kurd’s Hāt al-Sikkaih („Gib mir Pflug und Sichel / Und ich werde das Land nie verlassen.“) verbunden ist.
Al-Kurd hat sein Wort gehalten. Mustafa war in Deutschland und kam kurz vor seinem Tod wieder in seiner Geburts-und Heimatstadt Jerusalem an”
https://mondoweiss.net/2024/02/in-a-continuous-return-to-jerusalem-a-eulogy-for-mustafa-al-kurd/
Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.