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Wann ist die Schwelle überschritten und ein Massaker wird zum Völkermord?

BIP-Aktuell #285:

  1. Völkermord in Gaza
  2. Eine Geschichte der Vertreibung und des Verlusts meiner Heimat

Das Verbrechen des Völkermords ist in der UN-Konvention zur Verhinderung von Völkermord klar definiert. Eine juristische Analyse ergibt, dass Israel sich des Verbrechens des Völkermords im Gazastreifen schuldig gemacht hat. Für Nicht-Juristen ist es wichtig, die drei Elemente zu verstehen, die erforderlich sind, um die Schuld im Fall von Völkermord nachzuweisen: die absichtliche Entmenschlichung, die systematische Schädigung von Zivilisten und der Nachweis, dass die Zivilisten bewusst ins Visier genommen werden. Diese drei Faktoren werden im Folgenden dargestellt.

Explizit als Völkermord definiert werden in Artikel 2 der 1951 in Kraft getretenen UNO- ”Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes” Handlungen, „die in der Absicht begangen“ werden, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Zu solchen Handlungen zählen nicht nur die gezielte „Tötung von Mitgliedern der Gruppe“ sondern auch „die Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischem Schaden“ und die „vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung“ herbeizuführen. Auch die „Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe“ oder die „gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“ fallen unter die Definition von Völkermord. Die Konvention wurde von Deutschland, Israel und Palästina unterzeichnet, die zu den 153 Staaten gehören, die ihr bereits beigetreten sind und sie ratifiziert haben.



Ein Screenshot aus dem Telegram-Kanal „72 Jungfrauen – unzensiert“ (siehe unten). Der Text auf Hebräisch lautet: „Sehr gut Gershon!!! Überfahre ihn, überfahre ihn!!! Wir ficken diese Hurensöhne! Wir überfahren sie“ und „ein einzigartiges Video für eine gute Nacht, nicht vergessen zu teilen und weiterzuleiten“. BIP hat sich entschieden, dieses Bild zu teilen, weil die anderen Bilder grausame, explizite Bilder von Leichen zeigen. Quelle: Telegram.


Die Frage, ob es sich bei dem israelischen Angriff auf den Gazastreifen seit dem 7. Oktober um einen Völkermord handelt, ist vor allem in Deutschland höchst umstritten. Die taz unterstellt sogar denjenigen, die behaupten, Israel begehe Völkermord, Hamas-Anhänger zu sein. Deutsche Politiker, für die die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson ist, sind mit einem Dilemma konfrontiert: Sie kommen zu dem Schluss, dass sie aufgrund des Holocaust, des Völkermordes an Juden und anderen Minderheiten, den Staat Israel unterstützen müssen, den sie fälschlicherweise als Vertreter aller Juden wahrnehmen. Gleichzeitig lehrt sie die deutsche Erinnerungskultur, bereits Anzeichen eines Völkermordes zu erkennen, wie sie in der obigen Definition beschrieben wurden. Weniger juristisch ausgedrückt, bedeutet Völkermord die Entmenschlichung einer Gruppe von Menschen und einen systematischen Angriff auf diese Gruppe. Diese Voraussetzungen zur Definition von Völkermord sind  im Gazastreifen  erfüllt.

Der jüdisch-israelische  Holocaust- und Völkermordforscher Prof. Dr. Raz Segal schrieb bereits am 13. Oktober einen Artikel, in dem er den israelischen Angriff auf Gaza, der durch rassistische Äußerungen der israelischen Regierung angeheizt wurde, als „Lehrbuchfall von Völkermord“ bezeichnete. Sein Artikel wurde weit verbreitet und fand große Resonanz. Segal ist allerdings Historiker, kein Jurist. In ihrem Brief gehen 800 Rechtswissenschaftler nicht ganz so weit, sind aber sehr deutlich in ihrer Aussage: ”Israels derzeitiger Angriff auf den Gazastreifen ( …) ist in Umfang und Schwere beispiellos.” Auch BIP-Gründungsmitglied Prof. Dr. Norman Paech bestätigte in einem Artikel, dass die Definition von Völkermord das vom Staat Israel gegen die Zivilbevölkerung in Gaza begangene Verbrechen genau beschreibt.

Um diese Argumentation zu erläutern, ist es wichtig, drei Elemente des Angriffs zu analysieren: Erstens muss die Absicht der israelischen Behörden, der Regierung und des Militärs nachgewiesen werden, die Palästinenser zu entmenschlichen und die Zivilbevölkerung als legitimes Ziel für militärische Angriffe zu behandeln. Zweitens muss der systematische und brutale Charakter des Angriffs nachgewiesen werden, der die Zivilbevölkerung gefährdet und keinen humanitären Schutz für die Zivilbevölkerung bietet. Drittens muss der Nachweis erbracht werden, dass die Tötung von Zivilisten nicht als Nebeneffekt oder als „Kollateralschaden“ bei Angriffen auf militärische Ziele erfolgt, sondern dass die Zivilisten selbst das Ziel sind.

Der erste Teil der drei Stufen ist am einfachsten zu beweisen. BIP hat Aussagen von israelischen Beamten, Politikern, Militärs und Prominenten gesammelt, die zur Ausrottung der Palästinenser aufrufen (siehe BIP-Aktuell #277). Seit der Veröffentlichung des BIP-Berichts hat sich der Rassismus und die Hetze gegen Palästinenser weiter verschärft. Der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich sagte, dass auch die palästinensische Bevölkerung im Westjordanland kollektiv schuldig sei, da es im Westjordanland „zwei Millionen Nazis“ gebe, was als grünes Licht für die Ausrottung der gesamten Bevölkerung gelten kann. Israels Kommunikationsminister Shlomo Karhi rief dazu auf, die Vorhäute von Hamas-Kämpfern in einer biblisch inspirierten Gräueltat einzusammeln – ein klarer Aufruf zu einem Vernichtungskrieg im biblischen Sinne (Quelle auf Hebräisch). Die Zeitung Haaretz deckte auf, dass das israelische Militär einen Telegram-Kanal betreibt, in dem Soldaten Bilder aus dem Gazastreifen mit toten Palästinensern hochladen, die von Witzen begleitet werden. Der Telegram-Kanal heißt „72 Jungfrauen – unzensiert“ und ist auf Hebräisch. Er dient der Entmenschlichung der Palästinenser, um das massenhafte Töten von Zivilisten zu legitimieren und zu erleichtern. Obwohl das israelische Militär bestreitet, den Kanal zu betreiben, bestätigte ein hochrangiger Offizier, dass eine Militäreinheit für das Sammeln der Bilder und das Einstellen in den Kanal verantwortlich ist (Quelle auf Hebräisch).

Der zweite Teil der Definition ist ebenfalls leicht nachzuweisen. Nach der Erklärung des israelischen Verteidigungsministers Gallant, dass es in Gaza kein Wasser, keine Nahrungsmittel und keinen Treibstoff geben wird und nachdem Israel Krankenhäuser angegriffen hat (siehe BIP-Aktuell #281), den letzten verbliebenen Ort, an dem Zivilisten versuchten, Schutz zu finden, gibt es keinen Zweifel daran, dass ein systematisches Töten, Verletzen und sogar Aushungern von Zivilisten stattfindet. Israel behauptete, der Angriff auf das Al-Shifa-Krankenhaus sei notwendig gewesen, um Hamas-Kämpfer aufzuspüren, aber als sie das Hamas-Hauptquartier, das sich angeblich im Krankenhaus befand, nicht finden konnten, vertrieben sie die Patienten und das Personal und ließen das Krankenhaus mit 39 Frühgeborenen und ohne Versorgung zurück. Die Weltgesundheitsorganisation startete eine Rettungsaktion, konnte aber nur 31 der Babys retten, bevor sie starben. Das Aussetzen von Babys zum Sterben ist ein Akt des Völkermords.

Israel hat auch erklärt, dass es die Angriffe fortsetzen will, um der Bevölkerung in Gaza weiteren Schaden zuzufügen und bereit ist, so weit zu gehen, dass es die Hamas von einer Kapitulation abhält. Obwohl Netanjahu die Hamas offiziell zur Kapitulation aufgefordert hat, erniedrigen die israelischen Streitkräfte gefangene Palästinenser durch eine inhumane Behandlung. Sechs palästinensische Gefangene sind dadurch in letzter Zeit in israelischen Gefängnissen und möglicherweise auch durch Folter gestorben, als sie nach Informationen befragt wurden (Quelle auf Hebräisch). Ein Foto von nackten Hamas-Kämpfern, die sich Israel angeblich ergeben, wurde vom israelischen Militär gefälscht, wie der anonyme Blogger Ishton bewiesen hat (Quelle auf Hebräisch). Zivilisten, die von den Soldaten gefangen genommen wurden, wurden nackt ausgezogen, um sie zu demütigen. Der Intercept-Journalist Jeremy Scahill argumentierte daraufhin, dass es sich nicht um einen Krieg gegen die Hamas, sondern um einen Krieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung handelt.

Das dritte Element des Verbrechens des Völkermords ist am schwierigsten zu beweisen, nämlich dass das israelische Militär absichtlich Zivilisten ins Visier nimmt und sie nicht nur aus Nachlässigkeit als „Kollateralschaden“ tötet, während es versucht, Kämpfer zu treffen. Dies scheint das einzige Argument zu sein, das Leugner des Völkermords vorbringen können, um zu behaupten, dass der Angriff in Gaza kein Völkermord sei. In einem Podcast des Deutschlandfunks berichtete Salma Abuzaina über die Situation in Gaza und das mangelnde Interesse der deutschen Medien daran. Als sie erwähnte, dass das israelische Militär absichtlich auf Zivilisten zielt, griff die Journalistin Kristin Helberg ein und widersprach ihr. Obwohl Kristin Helberg allen in dem Gespräch dargelegten Fakten zustimmte, bestand sie nachdrücklich darauf, dass Zivilisten nicht absichtlich angegriffen werden. Sie war sich der Bedeutung dieser Aussage bewusst, dass Israel sich andernfalls des Verbrechens des Völkermords schuldig macht. Die Beweislast liegt nicht bei den Leugnern, sondern bei denjenigen, die ebenso wie BIP argumentieren, dass Israel tatsächlich absichtlich Zivilisten ins Visier nimmt.

Der Beweis dafür findet sich in dem Artikel von Yuval Avraham vom +972 Magazine, in dem er hochrangige israelische Geheimdienstmitarbeiter zitiert, die die militärische Vorliebe für das Anvisieren von sogenannten „Machtzielen“ (power targets) erklären – dicht besiedelte Gebiete, Wohngebäude, in denen eine große Zahl von Zivilisten getroffen und getötet werden kann. Weiter erklären sie, dass die mögliche Anwesenheit von Hamas-Kämpfern in diesen „Machtzielen“ als Vorwand benutzt wird, um das Anvisieren von Zivilisten zu legitimieren – nicht umgekehrt. Der israelische Armeesprecher Daniel Hagari verwies auf die Bombardierung des Gazastreifens: „Der Schwerpunkt liegt auf dem Schaden und nicht auf der Genauigkeit.“ Ein Video des israelischen Fernsehens zeigt eine Journalistin, die eine Artilleriebrigade besucht, die Artilleriegranaten segnet und dann die Soldaten ermutigt, sie wahllos in den Gazastreifen abzufeuern, ohne zu zielen, und dabei zu schreien, dass sie den Menschen in Gaza Schaden und Tod zufügen sollen. Bei diesen Granaten handelt es sich um 155-mm-Haubitzengranaten, die Deutschland an Israel liefert (siehe BIP-Aktuell #283). Netanjahus Sammlung von Plänen zur „Ausdünnung“ der Bevölkerung des Gazastreifens und die israelische Strategie zur Entvölkerung des Gazastreifens mit ethnischen Säuberungen und Massakern an denjenigen, die sich weigern oder nicht in der Lage sind, den Gazastreifen zu verlassen (siehe BIP-Aktuell #284), ist ein weiterer Beweis dafür, dass zu den Zielen der israelischen Aggression Zivilisten zu zählen sind.



Palästinenser in Gaza bis auf die Unterwäsche entkleidet, mit verbundenen Augen und gefesselt. Durch die Erniedrigung der Gefangenen sollen palästinensische Kämpfer davon abgehalten werden, sich zu ergeben. Quelle: Israelisches Militär.

Einen Völkermord als solchen zu bezeichnen, hat eine große Bedeutung: Deutschland ist durch die Konvention zur Verhinderung von Völkermord verpflichtet, den Waffenhandel mit Israel sofort einzustellen. Drittstaaten haben die Pflicht, die Zivilbevölkerung in Gaza zu schützen und Maßnahmen zu ergreifen, um das Töten zu stoppen und israelische Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen.

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BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden.
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Eine Geschichte der Vertreibung und des Verlusts meiner Heimat
Ein Bericht aus der US-amerikanischen jüdischen Zeitung Mondoweiss

„Unsere Nakba wird von uns in Echtzeit aufgezeichnet, so dass die ganze Welt sie sehen kann. Jeder kann Zeuge unseres Gemetzels und unseres kollektiven Todes werden. Unser einfacher Traum wurde von Israel zerstört, für keine größere Sünde, als unter der Besatzung geboren zu sein. VON TAREQ S. HAJJAJ 5. DEZEMBER 2023

Als ich mein Haus im Viertel Shuja’iyya in Gaza-Stadt verließ, um in das nahe gelegene Viertel Zeiytoun zu ziehen, wusste ich, dass dies nicht die einzige Station auf der Reise der Vertreibung meiner Familie sein würde. Mir wurde klar, was als nächstes passieren würde. Ich glaubte, dass Israel diese Gelegenheit nutzen würde, um die palästinensische Präsenz in Gaza zu beenden und uns auf den Sinai zu vertreiben. Das hat Israel schon immer gewollt und ist nur durch die Weigerung der arabischen Führer verhindert worden.
Diesmal scheint jedoch alles klar zu sein und im Voraus geplant worden zu sein. Diesmal besteht die reale Gefahr, dass wir tatsächlich unsere Heimat verlieren, möglicherweise für immer. Wir haben die Wahl, zu bleiben und den Tod zu riskieren. Wir werden gezwungen, unsere zerstörten Häuser zu verlassen. Wir sind gezwungen, unsere unter den Trümmern begrabenen Erinnerungen aufzugeben. Wir sind gezwungen, die Träume aufzugeben, die wir in diesen Häusern aufgebaut haben.
Nachdem wir den nördlichen Gazastreifen in Richtung Süden verlassen hatten, ließen wir uns in Khan Younis nieder, aber ich machte mir keine Illusionen darüber, dass wir dort sehr lange bleiben würden, auch wenn die Armee die Stadt als „sichere Zone“ bezeichnete. Auch Khan Younis würde bald von seinen Bewohnern geräumt werden, und alle würden nach Rafah an der Grenze zu Ägypten gezwungen werden. Und nachdem Khan Younis von seinen Einwohnern geräumt ist – nachdem seine Infrastruktur dezimiert, seine Gebäude dem Erdboden gleichgemacht und die Zurückgebliebenen getötet wurden -, werden die Menschen in Rafah an der Reihe sein, vertrieben zu werden, aber dieses Mal nach außerhalb Palästinas.
Letzten Freitag wachten wir in Khan Younis durch das Geräusch von schwerem Bombardement auf. Das Bombardement war jetzt überall. Wer in seinem Wohnzimmer stand, wurde allein durch die Wucht der nahen Explosionen von den Füßen geschüttelt. All diese Bombardierungen erfolgten am frühen Morgen zwischen 5 und 6 Uhr. Um 7 Uhr begann die Besatzungsarmee, unsere Handys anzurufen. Jeder in diesem Gebiet von Khan Younis erhielt denselben Anruf, in dem die Bewohner bestimmter Gebiete in ihren eigenen nummerierten Wohnblocks gewarnt und aufgefordert wurden zu fliehen.
´Ihr Wohngebiet ist jetzt zu einem gefährlichen Schlachtfeld geworden. Sie müssen sofort in die von den israelischen Verteidigungskräften angegebenen sicheren Gebiete evakuiert werden`, hieß es in der Aufzeichnung der Armee. Eines dieser Gebiete hieß al-Mawasi im westlichen Khan Younis, das sich südlich entlang der Küste bis nach Rafah erstreckt.
Zunächst beschloss meine Familie, nicht umzuziehen, weil wir nirgendwo hin konnten, wo wir eine Familie, meist Frauen, Kinder und ältere Menschen, unterbringen konnten. Wir beschlossen, dass wir nicht in eine der Notunterkünfte für Vertriebene gehen würden, wo die Bedingungen so erbärmlich sind, dass die älteren und gebrechlichen Menschen unter uns nicht überleben würden. Meine Mutter ist alt und leidet an Diabetes und einer Herzerkrankung. Außerdem ist sie blind. Wir werden alle bleiben, das haben wir beschlossen.
An diesem Entschluss hielten wir bis in die Abendstunden desselben Tages fest. Ich ging auf die Straße, um zu sehen, wie die Menschen auf die Anrufe der Armee reagierten. Ich sah, wie die Menschen ihre Koffer packten und die Gegend verließen. Die Menschen verließen Khan Younis in Scharen, während die Frauen nach von Tieren gezogenen Karren suchten, um ihre Habseligkeiten zu transportieren. Die Glücklichen unter ihnen konnten sich ein Auto oder einen Lastwagen sichern, aber die meisten gingen zu Fuß weiter, mit Taschen, Koffern, Rucksäcken, Propangaskanistern, tragbaren Matratzen und Lebensmitteln wie Mehl.
Wir konnten weder vor uns noch vor den anderen etwas sehen. Wir schrien uns gegenseitig unsere Namen zu und versuchten, zusammenzuhalten. Diese Momente gehörten zu den schrecklichsten, die ich je erlebt habe.
Ich kehrte zu dem Haus zurück, in dem wir wohnten, und teilte meiner Familie mit, dass alle ihre Sachen packen und abreisen würden. Nur in einigen wenigen Häusern lebten noch Menschen. In diesem Moment bombardierte Israel zwei Häuser in unserem Wohnblock. Die Wucht der Explosionen ließ die Fenster in unserem Haus zerspringen. Rauchschwaden erfüllten den Raum, und meine Mutter und mein kleiner Sohn begannen unkontrolliert zu husten. Wir liefen verzweifelt auf die Straße und versuchten, dem Rauch zu entkommen. Er war überall, ein grauer Nebel mit Staub und dem Geruch von Schießpulver.
Bei dem Angriff wurden über fünfzehn Menschen getötet, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Eine ältere Frau tauchte aus den Trümmern auf, sie trug ihre Hauskleidung, war mit Staub bedeckt, ihre Hand war halb abgetrennt, aber sie lebte noch. Sie stand auf den Beinen und schrie.
´Retten Sie meine Kinder!`, flehte sie die Menschen auf der Straße an, die zum Tatort geeilt waren. Niemand wagte es, den Ort zu betreten, und zwar aus einem einfachen Grund: Die israelische Armee greift Gebäude jetzt zweimal an, zuerst mit einem ersten Schlag, der das Haus zerstört, und dann mit einem weiteren, um so viele Menschen wie möglich zu töten. Diese Praxis ist so alltäglich geworden, dass sich die Menschen in Gaza daran gewöhnt haben, auf den zweiten Angriff zu warten, bevor sie nach Überlebenden suchen.
Die ältere Frau schrie und bettelte und klammerte sich an Menschen in ihrer Nähe, während sie blutete. Unsere Entscheidung, Khan Younis zu verlassen, wurde in dieser Nacht getroffen. Die israelische Strategie, uns mit Terror zur Flucht zu bewegen, funktionierte.
Der Angriff war beabsichtigt, eine Art, uns zu sagen: Das wird euch passieren, wenn ihr euch entscheidet, zurückzubleiben.
Wir packten hektisch alles ein, was wir mitnehmen konnten, nahmen Lebensmittel und Wasser mit, etwas Mehl, Reis und Linsen, Dinge, die es in ganz Gaza nicht mehr gibt. Wir nahmen mit, was wir mitnahmen, und vergaßen, was wir in unserer hektischen Evakuierung vergaßen.
Einer von uns rief einen Freund an, der einen Lastwagen besaß. Innerhalb einer Stunde packten wir alles hinein, nicht nur meine Familie und die meines Schwiegervaters, sondern alles und alle aus dem gesamten dreistöckige Gebäude, einschließlich meines Bruders und meines Onkels, wir alle waren in den Lastwagen gepfercht. Allein diese Vorstellung machte uns Angst, denn wir wussten, dass die Kampfflugzeuge und Drohnen alles angreifen würden, was sich bewegte oder verdächtig aussah.
Unzählige Menschen waren zu Fuß unterwegs nach Rafah, trugen ihr ganzes Leben auf dem Arm, viele versuchten, uns anzuhalten und uns anzuflehen, sie mitzunehmen. Aber es gab keinen Platz, denn wir waren bereits mit unseren Habseligkeiten übereinander gestapelt.
Die Hauptstraße zwischen Khan Younis und Rafah, die Salah al-Din-Straße, war bereits am frühen Freitagmorgen von den israelischen Kampfflugzeugen bombardiert worden, so dass die Menschen, die aus Khan Younis flohen, beängstigende Umwege in Kauf nehmen mussten, die sie durch landwirtschaftliche Felder und unbeleuchtete Feldwege führten, während sie nachts in stockdunkler Nacht unterwegs waren.
Wir kamen in der ausgemergelten Landschaft von Yibna an. Die Hälfte der Gebäude im Lager war zerstört, und aus der anderen Hälfte waren die Bewohner aus Angst geflohen, und dort sollten wir bleiben. Die ganze Gegend war trostlos, und es kam uns vor, als wären wir die einzigen Menschen auf der Welt, die in einer höllischen Existenz gefangen waren.
Das Haus, in dem wir untergebracht waren, war kein Haus mehr. Die Fenster waren aus ihren Rahmen gerissen. Ratten und Mäuse bevölkerten das Haus, und in der ersten Nacht schliefen wir neben ihnen. Wasser, das wir in Khan Younis nach vierstündiger Wartezeit in langen Schlangen erhalten hatten, war hier ein Ding der Unmöglichkeit, da die zerbombten engen Straßen für Versorgungsfahrzeuge unzugänglich waren. Wir hatten etwas Trinkwasser mitgebracht, aber die beschwerliche Reise ließ uns verdursten. Wir tranken, als wir ankamen, nicht wissend, dass wir nicht in der Lage sein würden, mehr Wasser zu bekommen.
Das wurde uns erst am nächsten Tag klar. Wir begannen, das Wenige, das wir hatten, zu rationieren. Alle unsere Familien mussten sich drei Liter Wasser teilen. Es war ein Wunder, dass ich etwas abgekochtes Wasser für die Babynahrung meines kleinen Sohnes auftreiben konnte, nachdem ich mich mit einem Liter Wasser und einem Teekessel in die Stadt Rafah gewagt und nach einem Händler gesucht hatte, der Zugang zu einem Feuer hatte, um damit das Wasser zu kochen, das ich hatte.
Ich habe meine Familie in Khan Younis zurückgelassen, Schwestern und Brüder. Einige wohnten in sicheren Teilen der Stadt in der Nähe des Europäischen Krankenhauses, aber meine Schwester wohnte in der Gegend von Qarara, einem der ersten Ziele der israelischen Angriffe. Ich rief sie an, um mich nach ihr zu erkundigen, und sie sagte mir, dass sie jetzt auf der Straße lebt. Sie verließ Khan Younis mit ihrer Familie und erreichte Rafah zu Fuß, aber als sie dort ankam und nach Unterkünften fragte, wurde sie zu einer überfüllten Schule geführt, die keinen Platz für sie oder ihre Familie hatte. Sie errichteten ein Zelt auf der Straße vor der Schule.
In der kurzen Zeit, in der ich Zugang zu den Nachrichten hatte, las ich, dass der Wohnblock, in dem wir in Khan Younis wohnten, völlig dem Erdboden gleichgemacht worden war. Wären wir dort geblieben, hätte niemand von uns überlebt. Kürzlich hörte ich im Lokalradio, dass Ägypten gezwungen sein könnte, einige palästinensische Flüchtlinge einreisen zu lassen. Dies war die gleiche Frage, die Ägypten zu Beginn des Krieges als nicht verhandelbar betrachtete. Jetzt wird es von einigen ägyptischen Beamten offen angesprochen.
Wir werden keinen Trost in dem fremden Land finden, in das wir als nächstes gehen werden. Dies ist das Land, das wir lieben, und dies ist das Land, das wir in unserer Eile, dem Tod zu entkommen, verlassen müssen.
Es sieht so aus, als ob dies in der nächsten Zeit unser Schicksal sein wird. Nachdem sie mit Khan Younis fertig sind und alle getötet haben, die sich weigern, ihre Häuser zu verlassen, werden die israelischen Panzer ihr Augenmerk auf Rafah richten. Der palästinensischen Bevölkerung wird befohlen werden, in Richtung der ägyptischen Grenze zu fliehen, und damit wird Israel versuchen, neue Generationen von Flüchtlingen zu schaffen.
Wir sind hier und dokumentieren unsere neue Nakba mit unseren eigenen Händen, bevor sie überhaupt stattfindet, und erwarten die nächsten Schritte in dem Wissen, dass wir unser Land und unsere Häuser verlieren werden. Die Häuser, die wir in Gaza zurückgelassen haben, liegen jetzt in Schutt und Asche, aber für uns werden diese Trümmer wertvoller bleiben als alles Land der Welt. Dies ist das Land, das wir lieben, und dies ist das Land, das wir gezwungen sind zu verlassen, um dem Tod zu entkommen.
Unsere Nakba wird von uns in Echtzeit aufgezeichnet, so dass die ganze Welt sie sehen kann. Jeder kann Zeuge unseres Gemetzels und unseres kollektiven Todes werden. Wir, die Träger einfacher Träume von einem Leben in Würde in einem Haus auf unserem Land im Kreise unserer Lieben und Familien – selbst dieser einfache Traum wurde von Israel zerstört, für keine größere Sünde, als unter Besatzung geboren zu sein.“

Tareq S. Hajjaj ist der Gaza-Korrespondent von Mondoweiss und Mitglied des palästinensischen Schriftstellerverbandes. Er studierte Englische Literatur an der Al-Azhar-Universität in Gaza. Seine journalistische Laufbahn begann er 2015 als Nachrichtenschreiber und Übersetzer für die Lokalzeitung Donia al-Watan. Er hat für ElbadiMiddle East Eye und Al Monitor berichtet.

https://mondoweiss.net/2023/12/a-story-of-displacement-and-the-loss-of-my-homeland/?ml_recipient=107210466357413647&ml_link=107210464617825731&utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_term=2023-12-12&utm_campaign=Weekly+Briefing+12+10+23

Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.

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