Eine ausführliche Antwort auf die Berichterstattung in der Süddeutschen Zeitung über die Documenta15
BIP-Mitglied Jürgen Jung hat einen Brief an die stellvertretende ChefredakteurinDr.Alexandra Föderl-Schmid der Süddeutschen Zeitung geschrieben.In dem Brief kritisiert Jung vor allem die Berichterstattung derSZ und anderer deutscher Medien zur Documenta15, insbesondere das scherwiegende Versäumnis, die Diskussion über mögliche antisemitische Bilder und Symbole in den richtigen Kontext zu stellen.
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Mehr als 100 zivilgesellschaftliche Organisationen starten eine Kampagne zur Sammlung von einer Million Unterschriften von EU-Bürger*innen, um den europäischen Handel mit illegalen Siedlungen in besetzten Gebieten zu beenden.
Die Europäische Bürgerinitiative ist ein offizielles Instrument, um die Stimmen der EU-Bürger zu verstärken und ihre demokratische Beteiligung zu verbessern. Wenn die Initiative innerhalb eines Jahres nach ihrem Start eine Million Unterschriften von Bürgerinnen und Bürgern in allen EU-Mitgliedstaaten sammelt, ist die Europäische Kommission gesetzlich verpflichtet, den Vorschlag zu prüfen, mit den Unterzeichnern zu diskutieren und gesetzgeberische Maßnahmen einzuleiten.
Die Europäische Bürgerinitiative (EBI) unterliegt EU-Regularien: https://www.cidse.org/de/2022/04/07/take-action-to-end-european-trade-with-illegal-settlements/
Hier kann man teilnehmen.
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Liebe Frau Föderl-Schmid,
nach längerer Zeit fühle ich mich gedrängt, Ihnen wieder einmal zu schreiben, weil ich – und beileibe nicht nur ich! – offen gestanden fassungslos bin angesichts dessen, was die SZ zum Thema „Antisemitismus auf der Documenta“ seit Wochen abliefert. Der Gipfel der Infamie war da das Pamphlet, welches sich Maxim Biller gegen Eva Manesse geleistet hat. Dass die SZ einem derart perfiden, geradezu beleidigenden Machwerk Raum gewährt, kann ich in keiner Weise nachvollziehen. Offensichtlich macht es Herrn Biller Schwierigkeiten, wie man – als Jüdin! – Sympathien für die Palästinenser und deren bedrückendes Schicksal empfinden und gar öffentlich kundtun kann. Derartige Dimensionen hat die Debatte mittlerweile angenommen.
Stellvertretende Chefredakteurin der SZ, Dr. Alexandra Föderl-Schmid. Quelle: Franz Johann Morgenbesser, 2014, Wikipedia.
Angefangen hatte die Kampagne gegen die Documenta ja lange vor der Eröffnung mit dem Vorwurf eines obskuren „Bündnisses gegen Antisemitismus“ aus Kassel, an der Ausstellung seien Befürworter der – wie hierzulande üblich als „antisemitisch“ diffamierten – BDS-Kampagne beteiligt. Eine Zurückweisung dieser ständig wiederholten Unterstellung erwartete man vergeblich, und dies, obwohl die bedeutendsten Menschenrechtsorganisationen weltweit (Human Rights Watch, Amnesty International), ja sogar die israelische B’Tselem in umfangreichen Studien nachgewiesen hatten, dass Israel ein Apartheidstaat ist. Und im Juli 2021 veröffentlichte Ha’aretz auch noch einen Artikel, der aufmerksam machte auf eine Meinungsumfrage (des Jewish Electorate Institute), bei der sich herausstellte, dass 25 Prozent der sechs Millionen amerikanischen Juden – also 1,5 Millionen! – Israel für einen Apartheidstaat halten. Unter den bis Vierzigjährigen waren es sogar 38 Prozent! Wenn Israel – und das lässt sich natürlich nicht ernsthaft bezweifeln – ein Apartheid-Staat ist, dann ist auch eine Boykott-Kampagne wie seinerzeit gegen Südafrika gerechtfertigt und der Antisemitismus-Vorwurf nichts anderes als eine plumpe Unterwerfung unter den zionistischen Diskurs.
Als dann in der Ausstellung (auf dem Wimmelbild People’s Justice) zwei angeblich antisemitische Karikaturen entdeckt wurden, wartete man wiederum vergeblich auf eine genauere Untersuchung der Funktion dieser winzigen Karikaturen in einem 9 mal 12 Meter (!) großen Bild und des (Entstehungs-)Zusammenhangs, in dem sie aus der Sicht des „globalen Südens“ stehen, die ja eigentlich im Mittelpunkt der Ausstellung stehen sollte. Was allerdings kläglich scheiterte, weil diese Perspektive in eurozentrisch-arroganter, v. a. deutschbefindlicher Manier im Grunde gar nicht ernst genommen wurde.
In der Fülle der SZ-Artikel war nicht einer – kaum zu glauben –, der etwa auf den naheliegenden Unterschied zwischen Antisemitismus und Antizionismus einging. Denn für die Palästinenser – und in der Folge auch für ihre muslimischen Glaubensbrüder in Indonesien – steht die schweinsköpfige Mossad-Figur für den israelischen Terror, dem sie seit etwa 75 Jahren tagtäglich ausgesetzt sind. Das hat rein gar nichts zu tun mit dem europäischen Antisemitismus, sondern ist Ausdruck ihrer leidvollen Erfahrungen mit der bis zum heutigen Tage fortschreitenden Landnahme und der damit einhergehenden Vertreibung durch die Zionisten. Man darf hier erinnern an das, was Ben-Gurion 1947, also ein Jahr vor der Staatsgründung, auf dem Zionistenkongress sagte: „Unser Ziel ist nicht ein jüdischer Staat in Palästina, sondern ganz Palästina als jüdischer Staat.“ Und in einem Brief von 1938 an die Exekutive der Jewish Agency: „Ich bin für Zwangsumsiedlung [der Palästinenser]; darin sehe ich nichts Unmoralisches.“
Im Übrigen steht die Mossad-Figur in einer Reihe mit den Vertretern anderer Geheimdienste, die alle im Auftrag ihrer Regierungen den indonesischen Diktator Suharto bei seiner Unterdrückungspolitik unterstützten, was den Stellenwert der Karikatur im Zusammenhang des Bildes noch einmal relativiert.
Suharto, 2. Präsident von Indonesien, ließ sich bei der Unterdrückung seines Volkes von verschiedenen Geheimdiensten, darunter dem Mossad, unterstützen. Quelle: Wikipedia.
Selbst die zweite, anscheinend eindeutig antisemitische Karikatur – der orthodoxe, schläfenlockige Jude mit den Raffzähnen – steht in der Perspektive des „globalen Südens“ für die religiösen Juden, die nach Palästina kamen und behaupteten, Gott habe ihnen das Land versprochen, und damit die ethnische Säuberung des Landes rechtfertigten und unterstützten. Dass den Palästinensern dann das aus Europa kommende Stereotyp des raffgierigen Juden einleuchten musste, kann da nicht Wunder nehmen. Aber auch diese Abbildung ist mitnichten identisch mit der europäischen Verunglimpfung des Juden als Juden.
Dementsprechend konstatiert der amerikanische Holocaustforscher Michael Rothberg in seinem am 5. Juli verfassten Aufsatz für die Berliner Zeitung denn auch: „In Anbetracht des Werks, das Taring Padi als Reaktion auf das drei Jahrzehnte andauernde Militärregime in Indonesien und die Weise, wie es von westlichen Mächten gestützt wurde, beschreibt, kann man mit Fug und Recht behaupten, dass das Bild Israel meint, nicht ‚die Juden‘. Und dass Israel eben nicht als hervorgehobene Ausnahme behandelt wird, sondern als Teil einer Gruppe von Mächten.“
All diese hier nur angedeuteten Differenzierungen und Kontextualisierungen suchte man in den vielen SZ-Artikeln zum Thema leider vergeblich!
Generell wird hierzulande ja auch – und das ist bezeichnend – ein bestimmter, in seinen verheerenden Folgen kaum zu ermessender Antisemitismus in der öffentlichen Debatte systematisch ausgeblendet, nämlich der durch die israelische Politik erzeugte. Kein Geringerer als Alfred Grosser meinte bereits 2007 trocken: „Die Politik Israels fördert den Antisemitismus.“ Und fünf Jahre zuvor der Nestor der israelischen Friedensbewegung, Uri Avnery: „Die [israelische] Regierung ist wie ein riesiges Labor, in dem der Virus Antisemitismus gezüchtet und in die ganze Welt exportiert wird.“ Wobei man unterstellen darf, dass die israelische Regierung ohnehin kein sonderliches Problem mit dem Antisemitismus hat, denn je mehr er zunimmt, desto mehr Juden sind bereit zur „Alija“, also zur Auswanderung nach Israel, was tendenziell die vom Zionismus von Anfang an angestrebte jüdische Mehrheit in Palästina sichert.
Als ein Beispiel für das, was in der Documenta-Debatte möglich und erforderlich wäre, hänge ich Ihnen, Frau Föderl-Schmid, den Text des Publizisten Arn Strohmeyer an – er hat etwa 10 Bücher zum Nahost-Konflikt publiziert –, der sich mit der „verspielten Chance der Documenta“ sowie dem deutschen intellektuellen „Erinnerungsprovinzialismus“ auseinandersetzt.
Erstaunlicherweise veröffentlichte sogar die Münchner Abendzeitung eine einleuchtende Analyse des Bildbanners (People’s Justice) und seines Kontextes, verfasst von dem deutsch-israelischen Historiker Joseph Croitoru.
Wieso erscheint so etwas – schon aus Gründen der pluralistischen „Ausgewogenheit“ – nicht auch in der SZ, frage ich mich – und Sie, liebe Frau Föderl-Schmid?
Ich bitte um Nachsicht für meine Empörung und hoffe, dass Sie sie zumindest nachvollziehen können.
Mit einem herzlichen Gruß
Jürgen Jung
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Eine neue Folge von BIP-Gespräch wird veröffentlicht. Diesmal sprechen wir mit Günter Schenk, einem Mitglied von BIP.
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BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden.
Amira Hass schreibt in Haaretz über die demütigende „Zusammenarbeit“ zwischen der israelischen Zivilbehörde (DCO) und der palästinensischen Polizei
„Irgendwann nach drei Uhr morgens klingelt das Telefon im Büro des palästinensischen Verbindungs- und Koordinationsbüros für Sicherheit. Ein Soldat der israelischen Zivilverwaltung, der ankündigt, dass die Armee in Kürze eine Razzia in diesem oder jenem palästinensischen Ort durchführen wird. Das bedeutet, dass alle palästinensischen Polizisten sofort in ihre Büros gehen müssen. Im internen Jargon der Zivilverwaltung wird diese Aufgabe als „SHOPIM zusammenfalten“ bezeichnet, wobei SHOPIM für die hebräische Abkürzung für „palästinensische Polizisten“ steht. Die telefonische Warnung und das „Zusammenklappen“ sind eine Routine, die beide Seiten einhalten, denn „niemand will, dass eine Seite auf die andere schießt“, wie ein ehemaliger Soldat der Einheit gegenüber Haaretz erklärte.
Er erinnert sich daran, dass den Palästinensern eine Zeitspanne von etwa einer halben Stunde eingeräumt wurde, um sich „zurückzuziehen“. Eine weibliche ehemalige Soldatin der Einheit erinnert sich an 45 Minuten. Ein anderer männlicher Veteran erinnert sich daran, dass die Palästinenser sofort einwilligten; sie hingegen erinnert sich, dass sie trödelten. Sie alle erinnern sich daran, dass ihnen verboten wurde, das Ziel und den Zweck (Verhaftung, Kartierung, Suche nach Waffen, Beschlagnahme von Geldern, Demonstration der „Regierbarkeit“) der Razzia zu nennen.
Dies sind drei von Dutzenden ehemaliger Soldaten, die in der Zivilverwaltung gedient haben und gegenüber Breaking the Silence in ihrer neuen Broschüre „Military Rule“, die am Montag veröffentlicht wurde, über die Einheit aussagen. Die Organisation fährt fort in ihrer Arbeit, die Militärherrschaft über die Palästinenser zu dekonstruieren und die Lüge der „Sicherheit“ und die Lüge der „Moral“ zu entlarven.
Die diensthabenden Soldaten sagten ihren palästinensischen Kollegen nicht, dass „Polizisten gefaltet“ (policemen folding) würden, sondern dass „Aktivitäten“ stattfänden. Im Jargon der palästinensischen Sicherheitskräfte wird das Verschwinden von Polizisten aus den Straßen aufgrund einer bevorstehenden Razzia als „Null-Null“ bezeichnet. Eine palästinensische Sicherheitsquelle war mit dem Begriff „SHOPIM-Faltung“ nicht vertraut und bezeichnete ihn als erniedrigend. Aber die Realität, in der sich palästinensische Polizisten in ihren Verstecken verkriechen, kurz bevor israelische Soldaten in das Haus einer Familie eindringen und mit Gewehren auf frisch erwachte Frauen und Kinder zielen, ist noch erniedrigender. Tödlich demütigend ist das Verbot für die palästinensischen Sicherheitskräfte, ihr Volk nicht nur gegen Soldaten zu verteidigen, sondern auch gegen israelische Zivilisten, die sie auf ihren Feldern und Obstplantagen, zu Hause und beim Weiden ihrer Herden angreifen. Die Befolgung dieses Verbots durch die Palästinensische Autonomiebehörde ist demütigend.
Und auch das Gegenteil ist demütigend: wenn die palästinensische Seite die israelische Seite um Erlaubnis bitten muss, damit ihre Polizisten von einer bestimmten Stadt in ein benachbartes Dorf gehen können, das zufällig im Gebiet B liegt, oder weil die Straße zwischen ihnen das Gebiet C durchquert: „Sie geben keinen Mucks von sich, ohne dass wir es ihnen sagen. … Selbst wenn keine Siedler dazwischen sind, [selbst wenn] sie ohne Uniformen und ohne Waffen losziehen, um einen Autounfall zu untersuchen – sie müssen es trotzdem mit der Brigade koordinieren“, heißt es in einem der Berichte in der Broschüre.
Der Faktor der Demütigung – ein weiteres Mittel der feindseligen Herrschaft einer Militärjunta – ist sowohl in als auch zwischen den Zeilen der Broschüre zu lesen: in dem gebrochenen Arabisch, das die Soldaten in den Fenstern ihres Büros für Palästinenser sprechen, in der verächtlichen Behandlung selbst derjenigen, die so alt sind wie ihre Großväter und Großmütter, in der Zuteilung von Wasser an Siedler auf Kosten einer palästinensischen Gemeinschaft, im pauschalen Entzug von Bewegungsgenehmigungen. Die Demütigung des Anderen ist ein untrennbarer Bestandteil der bürokratischen Gewalt – ein Killer der Seele, der Zeit und der Hoffnung -, die wir jüdischen Israelis als die Enteigner eines Volkes von seinem Land zu einer Kunstform gemacht haben. Wir nutzen die Macht der von uns verfassten Erlasse, der Gesetze, Verfahren und Urteile ehrenwerter Richter, um das andere Volk ständig zu missbrauchen. Die Zivilverwaltung hat dieses System nicht erfunden, aber sie ist die Speerspitze und der Speer dieser bürokratischen Gewalt.“
https://www.haaretz.com/opinion/2022-08-01/ty-article-opinion/.premium/vanguard-in-humiliating-palestinians/00000182-5a9a-d9b3-a1a2-5bdb1e2c0000?utm_source=mailchimp&utm_medium=email&utm_content=author-alert&utm_campaign=Amira%20Hass&utm_term=20220802-01:07
Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.