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Chaos und Anarchie –  droht der Zusammenbruch des israelischen Staates?

BIP-Aktuell #315:

  1. Am Rande des Bürgerkriegs
  2. Die Dezimierung der akademischen Welt im Gazastreifen ist „unmöglich zu quantifizieren“

Am 29. Juli, als die Militärpolizei israelische Soldaten verhaftete, die der Vergewaltigung und anderer Misshandlungen palästinensischer Gefangener beschuldigt werden, kam es zu gewalttätigen Angriffen rechtsextremer Aktivisten auf zwei israelische Militärstützpunkte, um eine Bestrafung der Soldaten zu verhindern. Die Ohnmacht der israelischen Polizei und das Versagen der Stützpunkte, sich gegen die Eindringlinge zu wehren, zeigen eine tiefe Spaltung der israelischen Gesellschaft und eine Gefahr für die Existenz des Staates.

Die israelischen Attentate auf Fuad Shukr von der Hisbollah in Beirut und Ismail Haniyeh, den Chef des politischen Flügels der Hamas in Teheran, in der vergangenen Woche haben internationale Aufmerksamkeit erregt, da Israels illegale Angriffe auf das Hoheitsgebiet anderer Staaten die Wahrscheinlichkeit eines umfassenden regionalen Krieges stark erhöht haben (siehe BIP-Aktuell #280). Sie machen es fast unmöglich, in den Verhandlungen über einen Waffenstillstand im Gazastreifen und einen Gefangenenaustausch voranzukommen. Diese Provokationen müssen vor dem Hintergrund der tiefen politischen und rechtlichen Krise verstanden werden, die sich seit Montag, den 29. Juli 2024 in Israel abzeichnet.



Foto eines palästinensischen Gefangenen mit verbundenen Augen in Sde Teiman, das von einem anonymen Informanten zur Verfügung gestellt wurde. Quelle: 2024, über CNN, Wikipedia.



Sde Teiman [Jemenfeld] ist ein Militärgefängnis im Negev, nicht weit von Beersheba entfernt. Palästinensische Gefangene werden dort unter grausamen Bedingungen festgehalten. Israel hat im Rahmen seiner Propaganda zur Rechtfertigung des Krieges in Gaza immer wieder auf die Gewalt der Hamas und anderer palästinensischer Widerstandsgruppen gegen israelische Zivilisten am 7. Oktober verwiesen. Diese angebliche Rechtfertigung hat die deutsche Regierung davon überzeugt, die Augen vor Israels Gräueltaten in Gaza zu verschließen. Jedoch sollte daran erinnert werden, dass die meisten der in Sde Teiman inhaftierten Palästinenser keines Verbrechens angeklagt sind. Der palästinensische Anwalt Khaled Mahajneh war der erste Anwalt, der Sde Teiman betreten durfte und berichtete, was er dort am 27. Juni sah. Er sagte aus, dass das Lager schlimmer sei als in  Guantánamo, da die Gefangenen täglich gefoltert, ausgehungert und gedemütigt würden. Die Häftlinge in dem Lager hätten nicht einmal gewusst, wo sie festgehalten werden,  sie hätten ihr Gefängnis „Todeslager“ genannt. 

Am 31. Juli veröffentlichte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, einen detaillierten Bericht über die Haftbedingungen in Sde Teiman. Die Lektüre des Berichts ist schwer auszuhalten. Denn unter den vielen Grausamkeiten, die darin beschrieben werden, stellt der Bericht fest, dass mindestens 53 palästinensische Gefangene in der Haft an den Folgen von Vernachlässigung, Hunger, Folter und Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung gestorben sind. Der Bericht beschreibt auch sexuelle Gewalt gegen die Gefangenen, einschließlich Vergewaltigungen.

Die israelischen Behörden wussten, dass der Bericht bald veröffentlicht werden würde, und beschlossen, gegen eine Gruppe von Soldaten und Gefängniswärtern zu ermitteln, die im Verdacht stehen, palästinensische Gefangene vergewaltigt zu haben. Ein palästinensischer Gefangener wurde angeblich mit Werkzeugen so sehr vergewaltigt, dass er dabei schwere  Verletzungen erltt. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert und nach Sde Teiman zurückgebracht. Wie Or Bassok in Haaretz (auf Hebräisch) schrieb, ist die angekündigte Untersuchung nur ein Lippenbekenntnis, da die israelischen Justizbehörden nicht einmal Anstrengungen unternehmen, um die Bombardierung des Gazastreifens und die Hungersnot (siehe BIP-Aktuell #311), die zum Tod von Zehntausenden von Menschen geführt hat, zu untersuchen. Bassok glaubt, dass lediglich eine symbolische Anzahl israelischer Soldaten angeklagt und vor ein Kriegsgericht gestellt wird, um den Anschein der Rechtsstaatlichkeit zu erwecken. Dies wird den Internationalen Strafgerichtshof aber nicht davon überzeugen, von der Ausstellung von Haftbefehlen gegen hochrangige israelische Politiker und Offiziere abzusehen.

Am Montag, den 29. Juli, um 13 Uhr veröffentlichten Soldaten aus Sde Teiman in den sozialen Medien, dass die Militärpolizei eingetroffen sei, um Verhaftungen vorzunehmen, und baten um Hilfe. Die Zeitung Haaretz veröffentlichte eine detaillierte Beschreibung (auf Hebräisch) der Ereignisse während der folgenden 12 Stunden. Israelische Knessetmitglieder publizierten Erklärungen, die Soldaten, die der Vergewaltigung und des Missbrauchs von Gefangenen beschuldigt werden, seien „unsere wahren Helden“ und die Militäranwälte, die versuchen, sie anzuklagen, seien Verbrecher. Knessetmitglieder und rechte Prominente hetzten gegen das Justizsystem und riefen die Öffentlichkeit auf, die Verdächtigten zu unterstützen. Einige Knessetmitglieder und ein Minister, Amichai Elyahu, kamen nach Sde Teiman und drangen mit einem wütenden und bewaffneten Mob in die Militärbasis ein, begleitet von schwer bewaffneten Milizionären mit vermummten Gesichtern. Soldaten, die die Tore bewachten, wurden zur Seite gedrängt. Ein Teil des Mobs waren Reservisten mit einem Hemd, das sie als improvisierte Uniform bedruckt hatten und sich als „Force 100“ ausgaben, eine Anspielung auf eine besonders gewalttätige Militäreinheit von Gefängniswärtern, die 2006 aufgelöst wurde.


Die Ereignisse wurden live im israelischen Fernsehen übertragen. Israels berühmtester Journalist Amit Segal ermunterte die Soldaten, die Palästinenser vergewaltigt hatten, amüsiert mit den Worten: „Wenn ihr Erfolg haben wollt, lasst euch nicht erwischen!“ (Quelle auf Hebräisch). Ein Journalist von Haaretz wurde in Sde Teiman von rechtsgerichteten Aktivisten angegriffen. Nachdem die Verdächtigten aus dem Gefängnis gebracht worden waren, folgte der Mob ihnen zum Militärstützpunkt Beit Lid in der Nähe von Netanya im nördlichen Israel. Auf dem Stützpunkt Beit Lid befindet sich das zentrale Militärgericht des israelischen Militärs. Rechte Demonstranten verbrannten Holz an den Toren des Stützpunkts und versuchten, ihn zu betreten, schlugen gegen die Zäune, einige versuchten, hineinzuklettern. Die israelische Polizei nahm niemanden fest und konnte die Unruhen, die bis Dienstag um 1 Uhr morgens andauerten, nicht verhindern.



Das israelische Knessetmitglied Tally Gotliv spricht in Sde Teiman, umringt von bewaffneten Milizen mit „Force 100“-Shirts und maskierten Gesichtern. Quelle: 2024, Zo Haderech.


Am nächsten Morgen berichteten israelische Zeitungen über die Unruhen als „Chaos“, „Anarchie“ und „Zusammenbruch des Staates“. Die Untätigkeit der Polizei wurde als Folge des Einflusses des rechtsextremen israelischen Ministers für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, gewertet, der in Echtzeit Erklärungen abgegeben hatte, in denen er die Verdächtigten unterstützte und den Versuch, sie vor Gericht zu stellen, verurteilte. Die Unruhen wurden mit dem Angriff auf das Kapitol am 6. Januar 2021 in den USA verglichen, weil in beiden Fällen die populistische Rechte einen gewaltsamen Versuch unternommen hat, die Rechtsstaatlichkeit zu untergraben. Zwischen beiden Ereignissen besteht jedoch ein deutlicher Unterschied, denn dem Angriff auf das Kapitol gingen nachrichtendienstliche Ermittlungen voraus, und die Teilnehmer an den Ausschreitungen sowie diejenigen, die dazu aufriefen, wurden angeklagt. In Israel unternahm die Polizei keinen Versuch, die maskierten Angreifer zu identifizieren. Staatsanwältin Gali Baharav-Miara gab bekannt, dass die Knessetmitglieder, die an den Ausschreitungen beteiligt waren, keine parlamentarische Immunität genießen, und bereitet eine Anklage gegen sie vor. Der israelische Journalist Nadav Eyal twitterte (in Anlehnung an Max Weber): „Die Definition eines Staates, auch eines nicht-demokratischen, basiert auf dem Gewaltmonopol. In Militärbasen einzubrechen […] und die Ermittlungsbehörden anzugreifen, sind Anzeichen für den Zerfall des Staates.“ (Quelle auf Hebräisch). Wenn Israels geschwächtes Justizsystem es nicht schafft, die Knessetmitglieder, den Minister Amichai Elyahu und die Mitglieder des Mobs, die die Unruhen angezettelt haben, strafrechtlich zu verfolgen, ist der Staat in seiner Existenz gefährdet.

Am 5. August veröffentlichte Haaretz weitere Informationen über die schrecklichen Bedingungen im Gefangenenlager Sde Teiman, die sich auf eine Untersuchung von B’tselem stützen.

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BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden.
dfsf
Die Dezimierung der akademischen Welt im Gazastreifen ist „unmöglich zu quantifizieren“

Ibtisam Mahdi schreibt am 26. Juli 2024 in dem Magazin  +924:
„Die palästinensischen Universitäten im Gazastreifen, in denen wahrscheinlich Tausende von Lehrkräften und Studenten getötet und die Campusse zerstört wurden, überstehen kaum den israelischen Ansturm auf die Hochschulen.  Dr. Refaat Alareer war ein guter Freund von mir. Als Dichter, Schriftsteller und prominenter Aktivist für die palästinensische Sache lehrte Refaat viele Jahre lang englische Literatur und Poesie an der Islamischen Universität Gaza. Er liebte die Werke von Shakespeare, Thomas White, John Donne, Wilfred Owen und vielen anderen, und er war Herausgeber zweier Bücher: „Gaza Unsilenced“ und „Gaza Writes Back„.
Refaat ist einer von mindestens 105 palästinensischen Akademikern, die seit Beginn des israelischen Krieges in Gaza getötet wurden, wie aus den jüngsten Statistiken des palästinensischen Bildungsministeriums hervorgeht. Seine Heimatuniversität, die Islamische Universität, wurde durch die Bombardierung vollständig zerstört. Alle 19 Universitäten im Gazastreifen wurden schwer beschädigt oder liegen in Trümmern, über 80 Prozent der Universitätsgebäude sind zerstört. Die fast 90.000 Studenten, die vor dem Krieg an den Hochschulen im Gazastreifen eingeschrieben waren, konnten ihr Studium größtenteils nicht fortsetzen.
Die Zerstörung der Hochschulen ist besonders tragisch für die Zukunft des Gazastreifens: Diese Quelle des Lernens, des Wirtschaftswachstums, des Lebensunterhalts und der Gemeinschaft ist nun verschwunden. Aber die Geschichten der Lehrer und Schulen, die wir verloren haben, und die Bildungschancen, die nun nicht mehr gegeben sind, verdienen es, erzählt zu werden.
Refaat verstand die Bedeutung von Bildung besser als die meisten anderen. Er ermutigte mich, für meine Arbeit als Journalistin Englisch zu lernen, und er liebte es, mir neue Wörter sowohl auf Englisch als auch auf Arabisch beizubringen. ´Durch das Erzählen von Geschichten`, so erinnerte er mich, ´bekräftigen wir unser Recht auf dieses Land. Und das Erlernen der englischen Sprache ist ein Mittel, um aus der anhaltenden Belagerung des Gazastreifens auszubrechen.`
Bei dem israelischen Luftangriff, der Refaat am 7. Dezember das Leben kostete, wurden neben ihm auch sein Bruder Salah und sein Neffe Mohammad sowie seine Schwester Asmaa und ihre drei Kinder Alaa, Yahya und Muhammad getötet, und weitere Familienmitglieder wurden verwundet. Drei von Refaats Söhnen – einer von ihnen im ersten Jahr seines Studiums – und seine drei Töchter blieben bei ihrer Mutter in einer anderen Unterkunft und überlebten.
Refaats Cousin, Muhammad Alareer, sagte, er glaube, dass die israelische Armee Refaat gerade wegen seiner Gelehrsamkeit und seiner fließenden Englischkenntnisse ins Visier genommen habe – ebenso wie wegen seiner Arbeit für das Projekt ´We Are Not Numbers`, eine palästinensische gemeinnützige Organisation, die Refaat 2015 mitbegründet hatte. ´Vor dem Angriff`, so Muhammad gegenüber +972, ´erhielt er viele Todesdrohungen online und per Handy von israelischen Konten, die ihn aufforderten, mit dem Schreiben und Veröffentlichen aufzuhören.`
Laut Muhammad erhielt Refaat einen Anruf von jemandem, der sich als israelischer Offizier ausgab und sagte, dass das Militär genau wisse, wo er sich befinde, und dass er ermordet oder inhaftiert werde, wenn er weiter schreibe. Diese Drohung veranlasste Refaat, seine Frau und Kinder in der UNRWA-Schule in Al-Tuffah, nordöstlich von Gaza-Stadt, zurückzulassen. Er ging zum Haus seiner Schwester, weil er glaubte, dort sei es sicherer als in der Schule – doch er irrte sich gewaltig. 
Unter den vielen palästinensischen Akademikern, die seit dem 7. Oktober in Gaza getötet wurden, waren auch drei Universitätspräsidenten. Der 53-jährige Physiker Dr. Sofyan Abdel Rahman Taya war Präsident der Islamischen Universität von Gaza, als er am 2. Dezember bei einem israelischen Luftangriff auf Jabalia zusammen mit seiner Frau, seinen Eltern und fünf Kindern getötet wurde.
Das Magazin +972 sprach mit Dr. Tayas Bruder Nabil, der beschrieb, wie sehr Sofyan seine Arbeit liebte und sich sehr um seine Familie und die Menschen in seinem Umfeld kümmerte. Für seine Forschungen zu optischen Wellenleitern und Biosensoren erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter den Palestine Islamic Bank Award for Scientific Research, den Abdul Hameed Shoman Award for Young Arab Scientists und den Islamic University Award for Scientific Research. Im März 2023 wurde Dr. Taya auf den UNESCO-Lehrstuhl für Physik, Astrophysik und Weltraumwissenschaften in Palästina berufen. Als Universitätspräsident hatte er ein klares Ziel vor Augen: Er wollte sowohl die wissenschaftliche Forschung als auch den Dienst an der Gemeinschaft zu den Eckpfeilern des Auftrags der Universität machen.
Doch in den Wochen vor seiner Ermordung, so Nabil gegenüber +972, ´rechnete Sofyan damit, ins Visier genommen zu werden, vor allem, nachdem viele akademische und administrative Mitarbeiter der Islamischen Universität vor ihm ermordet worden waren`. Dazu gehörten Omar Farwana, Dekan der medizinischen Fakultät, und Dr. Muhammad Shabir, der ehemalige Präsident der Universität. Nach Taya und Shabir war Dr. Said Anwar Alzebda von der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Gaza der dritte Universitätspräsident, der zusammen mit mehreren Familienmitgliedern am 31. Dezember getötet wurde.
Dr. Khitam Al-Wasifi, Leiterin des Fachbereichs Physik an der Islamischen Universität und Vizedekanin der wissenschaftlichen Hochschule, war eine weitere prominente palästinensische Akademikerin, die zusammen mit ihrem Ehemann – ebenfalls Professor an der Islamischen Universität – und ihren Kindern am 1. Dezember getötet wurde. Sie war bei Kollegen und Freunden als ´Scheicha der Physiker` bekannt, veröffentlichte Dutzende von Artikeln über Magnetoelektrizität und Optoelektronik und wurde für ihre Arbeit mit mehreren Preisen ausgezeichnet.
Viele überlebende Fakultätsmitglieder sahen den Tod dieser Akademiker als gezielte Tötung prominenter Intellektueller im Gazastreifen an – und viele lehnten es daher ab, für diesen Artikel interviewt zu werden, aus Angst, selbst ermordet zu werden. Durch die Ermordung einflussreicher Akademiker, so Salah Abd El Atei, der Präsident der Internationalen Kommission zur Unterstützung der Rechte der Palästinenser (Hashd), der mit +972 aus Kairo sprach, will Israel ´alles Symbolische in der palästinensischen Gesellschaft zerstören, so dass die Menschen in Gaza keine Persönlichkeiten haben, auf die sie sich in Zukunft verlassen können.`
Am 11. Oktober bombardierte Israel die Islamische Universität von Gaza und zerstörte den gesamten Campus. Unter den zerstörten Gebäuden befand sich auch die Moschee der Universität, was gegen internationales Recht verstößt, das Angriffe auf Gotteshäuser verbietet. Die Universität war bereits in früheren Kriegen beschädigt worden, aber das Ausmaß der aktuellen Zerstörung ist beispiellos.
Nach Schätzungen von UN-Experten sind seit Oktober 80 Prozent der Schulen und Universitäten beschädigt oder zerstört worden, was ihrer Ansicht nach auf einen ´Schulmord` hinausläuft. `Man kann sich die Frage stellen`, schreiben die Experten, ´ob das palästinensische Bildungssystem absichtlich und umfassend zerstört werden soll`.
Der Hauptcampus der Al-Azhar-Universität in Gaza-Stadt und ihre Zweigstelle in Al-Mughraqa wurden in den ersten Monaten des Krieges durch wiederholte israelische Luftangriffe in Schutt und Asche gelegt. Nach Angaben von Muhammad Al-Wazir, einem Professor der Universität, bestand die Universität vor Oktober aus 12 Hochschulen, die zusammen Bachelor-Abschlüsse in 77 Studiengängen, 33 Master-Studiengänge und vier Promotionsstudiengänge anboten.
Wie die Islamische Universität wurde auch die Al-Azhar bei früheren Eskalationen im Gazastreifen wiederholt angegriffen. ´Jedes Mal`, so Al-Wazir gegenüber +972, ´wandte sich die Universität umgehend an arabische, islamische und internationale Institutionen, um bei der Behebung der Schäden zu helfen`. Nach diesem Krieg wird die Universität jedoch gezwungen sein, von Grund auf neu zu bauen. Al-Wazir wies darauf hin, dass die Zerstörung der Al-Azhar-Universität eines der Beweisstücke war, die Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof als Beleg für die systematische und vorsätzliche Zerstörung der Bildungsinfrastruktur durch Israel anführte.
Die Israa-Universität, die Universität von Palästina, die Gaza-Universität, die Al-Quds Open University und die Al-Aqsa-Universität – meine Alma Mater – haben ähnliche Zerstörungen erlebt. Es wurden so viele Mitarbeiter getötet und fast alle Studenten und Angestellten vertrieben, dass es äußerst schwierig ist, eine vollständige Bilanz der Zerstörung zu ziehen. ´Es ist nicht möglich, den Schaden an der Universität zu beziffern`, sagte Dr. Imad Abu Kishek, der Präsident der Al-Quds Open University. ´Wir können die Situation auch nicht einschätzen, während wir das wichtigste Element, die Menschen – Akademiker, Techniker, Arbeiter und Studenten – täglich verlieren.`
Auch die universitäre Infrastruktur, die der palästinensischen Öffentlichkeit zugute kam, wurde zerstört. Es gibt auch mehrereBerichte darüber, dass israelische Soldaten die Israa-Universität als behelfsmäßigen Militärstützpunkt und Gefangenenlager nutzten, bevor sie die restlichen Gebäude im Januar in die Luft sprengten.
Nicht nur Studenten und Professoren sind die Leidtragenden des Verlusts der Universitäten in Gaza, sondern alle Palästinenser in Gaza, denen die Vorteile einer lebendigen akademischen Gemeinschaft vorenthalten werden – von Kunst und Kultur bis hin zur medizinischen Versorgung. Esraa Hammad war vor dem 7. Oktober Zahnmedizinstudentin an der Universität von Palästina. ´Ich habe dort fünf Jahre lang studiert und war kurz davor, meinen Abschluss zu machen`, sagte sie, ´aber all das wurde durch eine Entscheidung der Besatzungsarmee beendet.`
Viele sehen die Zerstörung des akademischen Lebens in Gaza als Teil des israelischen Ziels, sicherzustellen, dass die Palästinenser keine Zukunft im Gazastreifen haben. Für Dr. Ali Abu Saada, Generaldirektor für höhere Bildung im Bildungsministerium des Gazastreifens, ist die gezielte Zerstörung von Bildungseinrichtungen ´Teil der Bemühungen, den Palästinensern die wesentlichen Bestandteile ihres Lebens zu nehmen: Denken, Kultur und Bildung.` Auch wenn die Universitätsstrukturen nach dem Krieg wieder aufgebaut werden können, glaubt Abu Saada, dass Israel die Botschaft vermitteln will, dass die Palästinenser einer Zukunft entgegensehen, in der es ´keinen Platz für Bildung und keine Lehrer gibt, die unterrichten können – eine Realität, die dazu beiträgt, die Abwanderung zu beschleunigen, was das Ziel der Besatzer ist.`
Trotz der Schäden gibt es unter den Palästinensern im Gazastreifen Bemühungen, den Unterricht fortzusetzen. Die Al-Azhar-Universität hat eine Erklärung herausgegeben, in der sie die Studenten auffordert, ihre Semester aus der Ferne fortzusetzen. Al-Wazir, der Al-Azhar-Professor, sagte, dies sei ´ein Weg, um die durch die Zerstörung der Universitäten durch die israelische Armee erzwungene Realität herauszufordern – damit das akademische Jahr für die Studenten nicht umsonst war.`
Dr. Muhammad Hamdan, Direktor für Öffentlichkeitsarbeit an der Al-Aqsa-Universität, bestätigt, dass die meisten Universitäten im Gazastreifen zum Fernstudium zurückgekehrt sind. An der Al-Aqsa-Universität konzentrieren sich die meisten Fernkurse auf eher theoretische Fächer, für die Vorlesungen auf der Online-Bildungsplattform der Universität verfügbar sind. Mehrere Dozenten außerhalb des Gazastreifens, so Hamdan, betreuen diese Plattform und halten bei Bedarf neue Fernvorlesungen.
Ein Fernstudium während des Krieges ist jedoch nicht ohne Weiteres möglich. Ayman Safi, Student der Informationstechnologie im dritten Studienjahr an der Al-Azhar, meldete sich für Online-Kurse an seiner Universität an, sobald diese verfügbar waren. Aber wie er gegenüber +972 erklärte, erfordere das Herunterladen von akademischen Materialien von der Plattform auf den Laptop oder das Mobiltelefon, einschließlich der Lehrbücher, ein starkes Internet, und er ist gezwungen, mehr als vier Kilometer zu fahren, um eine ausreichende Verbindung zu finden.
Universitäten im Westjordanland wie die An-Najah-Universität haben mit Hilfe des Bildungsministeriums ihre Türen für Studierende aus dem Gazastreifen geöffnet, die dort aus der Ferne lernen können, und Zehntausende haben sich für das Frühjahrs- und Sommersemester eingeschrieben. Doch obwohl die Gebäude noch stehen, sind diese Einrichtungen seit dem 7. Oktober mit Abriegelungen und anderen Störungen konfrontiert, während das israelische Militär und die Siedler es den Palästinensern im Westjordanland immer schwerer machen, sich frei zwischen ihren Häusern und der Hochschule zu bewegen.
Die Auswirkungen des Krieges werden noch jahrelang zu spüren sein. Laut Dr. Wissam Amer, Dekan der Fakultät für Kommunikation und Sprachen an der Universität Gaza, hat eine ganze Generation von Studenten auf allen Bildungsebenen erhebliche Rückschläge hinnehmen müssen. ´Der Wiederaufbau des Bildungssystems in Gaza ist nicht unmöglich`, sagte er, ´aber es wird lange dauern. Die Universitäten sind völlig zerstört`.
Der Armee-Sprecher antwortete auf unsere Anfrage nach einem Kommentar mit folgender Erklärung: ´Die IDF zielen nicht absichtlich auf Bildungseinrichtungen als solche ab, sondern handeln ausschließlich aus militärischer Notwendigkeit. Die Hamas platziert ihre Agenten und militärischen Einrichtungen systematisch im Herzen der Zivilbevölkerung und führt ihre Kämpfe von ziviler Infrastruktur aus, einschließlich Bildungseinrichtungen und Universitäten. Das Gebäude der Islamischen Universität von Gaza und seine Umgebung wurden von der Hamas für verschiedene militärische Aktivitäten über und unter der Erde genutzt, einschließlich der Entwicklung und Herstellung von Waffen und der Ausbildung des Geheimdienstpersonals im militärischen Bereich der Hamas.“
Ibtisam Mahdi ist eine freiberufliche Journalistin aus Gaza, die sich auf die Berichterstattung über soziale Themen, insbesondere über Frauen und Kinder, spezialisiert hat.Sie arbeitet auch mit feministischen Organisationen in Gaza in den Bereichen Berichterstattung und Kommunikation zusammen.
https://www.972mag.com/gaza-academia-destruction-universities/


Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.

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