
Zunächst wünschen wir unseren LeserInnen, UnterstützerInnen und Förderern ein besseres Neues Jahr 2017!
(Für ganz Eilige: Am Ende dieses Artikels finden Sie einen Video-Link zu einem der wichtigsten Filme, The Iron Wall, über den Siedlungsbau.)
Das Ende des Jahres 2016 wurde markiert durch zwei politisch bedeutende Ereignisse: Die Resolution des UN-Sicherheitsrates zum sofortigen Stopp der israelischen Siedlungen und die Rede des scheidenden US-Außenministers John Kerry. Es lohnt, sich diese Rede in voller Länge anzuhören; mit so deutlichen Worten hat noch keine US-Administration die reale Situation der Siedlungs- und Besatzungsrealität benannt.
Doch was hat es genau mit den Siedlungen auf sich? Die Israelis beanspruchen ein Recht auf ihr „angestammtes biblisches Land Judäa und Samaria“ (Zitat Netanjahu), während die UNO, die IV. Genfer Konvention und sogar ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag vom „völkerrechtswidrigen Siedlungsprojekt“ spricht.
Wir haben Ihnen hier einige Zahlen, Fakten und Landkarten zusammen getragen und die Geschichte des Siedlungsbaus kurz skizziert. Unsere Quellen sind Daten der UN-Organisation OCHA oPt (Office for the Coordination of Humanitarian Affairs in the Occupied Palestinian Territories), der israelischen Menschenrechtsorganisation B’tselem, der Palästinensischen Akademischen Gesellschaft PASSIA, des israelischen Statistikamt CBS und andere.
Kurze Geschichte jüdischer Siedlungen auf palästinensischem Gebiet
Infolge des sogenannten 6-Tage-Krieges im Juni 1967 wurde das zuvor von Jordanien kontrollierte Westjordanland von Israel besetzt. Seither hat jede israelische Regierung eine expansive Besiedlungspolitik dieses besetzten Gebietes verfolgt. Ende ’67 entstand die erste (religiöse) Siedlung Kfar Etzion bei Bethlehem, ein Jahr später waren es bereits 30 Siedlungen mit etwa 5.000 Bewohnern. Heute sind es geschätzte 600.000 Siedler, davon 385.900 in der Westbank und 203.000 in Ost-Jerusalem. 2015 bedeutete dies ein Bevölkerungswachstum von 4,6% (im Vergleich: die Bevölkerung auf israelischem Staatsgebiet wuchs um knapp 2%), so dass man eindeutig nicht von natürlichem Wachstum, sondern von beabsichtiger Siedlungspolitik sprechen kann, die die Schaffung unverrückbarer Tatsachen – „facts on the ground“ – zum Ziel hat. Die Folge ist eine wachsende Kontrolle über das palästinensische Gebiet und eine immer extensivere Enteignung und Zurückdrängung der palästinenischen Bevölkerung.
Diese Karte von B’tselem zeigt sehr deutlich, warum Kerry die Zersiedelung der Westbank als „löchrig wie ein Schweizer Käse“ bezeichnete. Oft wird auch von ‚Bantustans‘ gesprochen, also von Populationsinseln in Anlehnung an die Südafrikanische Apartheidpolitik. Die hier gezeigte Phantasiekarte von Strange Maps, 2013 auf ZeitOnline veröffentlicht, macht dies – wenn auch zynisch – noch deutlicher, indem sie in einer Landkarte des Westjordanlands die den Palästinensern noch verbliebenen Gebiete als Inseln darstellt:
Doch zurück zur Realität: Die Siedlungen basieren privatrechtlich vielfach auf entschädigungsloser Enteignung und nach Völkerrecht auf Landraub am Gebiet der besetzten Bevölkerung und brechen damit Internationales Recht, u.a. Art. 49(6) der IV. Genfer Konvention, in der festgelegt wurde, dass eine Besatzungsmacht ihre eigene Zivilbevölkerung nicht in besetztes Gebiet umsiedeln darf. Der israelische Siedlungsbau wurde trotz zahlreicher Resolutionen des UN Sicherheitsrats, die Israel zur Aufgabe der illegalen Siedlungen aufforderten, zu jeder Zeit fortgesetzt (UNSR-Resolution 465 u.a.). Mit dem Oslo-Abkommen zwischen Rabin und Arafat von 1993 stimmten die Palästinenser zu, alle schwierigen Themen des Konflikts – Grenzen, Wasser, Flüchtlinge, Jerusalem und Siedlungen – auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Im Gegenzug versprach ihnen Israel den schrittweisen Abzug aus den besetzten Gebieten im Westjordanland und die Zusicherung territorialer Integrität. Das Oslo-Abkommen enthielt aber gleichzeitig zahlreiche Schutzregelungen für die Siedler wie etwa den Ausschluss vom palästinensischen Rechtssystem, flächendeckende Nutzungseinschränkungen für Palästinenser auf ihrem Land in der Nähe von Siedlungen, israelische Kontrolle über Landerfassung, Zufahrten, Zoneneinteilung und Sicherheit.
Zu den unter dem Schutz des israelischen Militärs stetig wachsenden Siedlungen zählen neben Wohneinheiten auch die gesamte Infrastruktur, also Straßen, landwirtschaftliche Anbaugebiete, Energie und Wasser sowie die Ausbeutung natürlicher Resourcen; ebenso die Mauer, die zu 85% nicht auf der Waffenstillstandslinie zwischen Israel und Jordanien von 1949 (Grüne Linie) verläuft, sondern jenseits davon, im Westjordanland. Damit werden nach Fertigstellung auch etwa 10% fruchtbaren palästinenischen Bodens der Mauer und ihrer ‚Pufferzone‘ zum Opfer gefallen sein.
Enteignung in Zahlen
Vor der israelischen Staatsgründung 1948 besaßen Palästinenser etwa 87% des damaligen britischen Mandatsgebiets Palästina (heutiges Israel, Gaza* und Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem*), Juden knapp 7%. Die restlichen 6% waren von der Britischen Mandatsmacht als ‚Staatsland‘ ausgewiesen. Nach dem UN-Teilungsplan von 1947 wurden 56% des Landes den 600.000 Juden zugeteilt, 43% verblieben den etwa 1,2 Millionen Palästinensern. Heute setzt sich die gesamte Population von ca. 12 Millionen Menschen in Israel, Gaza und Westjordanland etwa je zur Hälfte aus Juden und aus Palästinensern zusammen. Dabei nutzen die jüdischen Israelis 85% des gesamten Landes, die Palästinenser 15%. In der Westbank sind 42% des Landes für Siedlungen ausgewiesen; darin existieren bereits ca. 250 Siedlungen mit geschätzten 600.000 jüdischen Siedlern.
* Gaza und Ost-Jerusalem wurden 1967 ebenfalls besetzt, werden aber von Israel gesondert behandelt: Gaza wurde nach dem Abzug der Siedlungen 2004 von Israel und Ägypten praktisch hermetisch abgeriegelt; Ost-Jerusalem wurde nach israelischer Rechtsauffassung annektiert, die dort ansässigen Palästinenser haben jedoch einen Sonderstatus und sind anderen Gesetzen unterworfen als israelische Staatsbürger. Mehr dazu in einer unserer nächsten Ausgaben vom ‚BIB TdW‘.
Viele Siedler sind nicht hauptsächlich ideologisch nationalistisch-religiös motiviert, sondern genießen einfach nur die vielen Vorteile, die ihnen durch die israelische Regierung gewährt werden, wie Steuervergünstigungen, moderne Wohnungen, moderne Infrastruktur mit Straßen, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten und enorme Sicherheitstechnik. Etliche Bewohner der großen, modernen Siedlungen haben gar kein Bewußtsein darüber, dass sie auf besetztem Gebiet leben, da ihr Alltag sie praktisch nie mit dieser Realität konfrontiert. Anders die Siedlungen, die von religiösen Fundamentalisten gegründet (‚Outposts‘) oder „übernommen“ werden. Als ‚Outposts‘ (Außenposten) bezeichnet man kleine, oft zunächst aus Wohnwagen oder Containern bestehende Ansiedlungen, die oft sprichwörtlich über Nacht entstehen. Nach israelischem Recht sind sie illegal; bisher musste aber nur ein einziger solcher ‚Outpost‘ wieder abgebaut werden. Die anderen werden nachträglich legalisiert, wenn sie nicht von vorneherein offiziell als Wohnungsbauprogramm von Israel geplant wurden. In der Jerusalemer Altstadt, in Teilen Ost-Jerusalems, in Hebron und anderen Stadtgebieten, in denen Palästinenser oft seit Generationen leben, kommen national-religiöse Siedlerfamilien oft unter Militärschutz zu den bewohnten Häusern, werfen die Bewohner mit Gewalt hinaus und besetzen einzelne Wohnungen oder Häuser, in denen eben noch Mütter kochten, Kinder spielten, Familien zusammen saßen.

Zusammenfassung
Das Siedlungsprojekt umfasst also weit mehr als nur Wohnungen und Häuser, die von jüdischen Israelis bewohnt werden. Die kleinste Form einer Siedlung kann eine einzelne Wohnung inmitten eines palästinensischen Wohnviertels sein, deren angestammten Bewohner vertrieben wurden. Man erkennt sie oft von außen an israelischen Flaggen und viel Sicherheitstechnik wie Kameras, Stacheldraht und häufig patrouillierenden Soldaten. Manche Palästinenser verkaufen auch ihre Wohnungen oder Häuser für sehr viel Geld an Juden aus aller Welt, was ihnen die Feindschaft ihrer Landsleute und die Verachtung ihrer Käufer beschert, so geschehen am Haupteingang zum muslimischen Viertel in der Jerusalemer Altstadt, wo sich der ehemalige israelische Ministerpräsident Ariel Sharon eine Wohnung besorgte.

Von einzelnen Wohnungen und Häusern, kleinen umzäunten Wohnwagencamps wie Amona bis hin zu großen Städten wie Ariel mit über 50.000 Einwohnern, mit Einkaufszentren, Schulen, Kinos, Theatern, Behörden, Zufahrtsstraßen, landwirtschaftlichen Nutzgebieten, Wasserversorgung und mit hohem militärischen und privat organisierten Sicherheitseinrichtungen, basierend auf privat oder militärisch organisierten Enteignungen, kontrolliert Israel nunmehr über 40% des Westjordanlandes.
Dass das israelische Siedlungsprojekt heute also eines der größten Hindernisse für eine Zwei-Staaten-Lösung darstellt oder für eine sonstige Lösung zu einem gerechten, selbstbestimmten Leben für Palästinenser und Israelis, steht außer Zweifel.
Zusätzliches Material zum Thema
Einen tieferen Einblick in das Thema finden Sie HIER in einem persönlichen Bericht von Ekkehart Drost. In der Süddeutschen Zeitung erschien im Februar 2016 dieser Artikel von Peter Münch. Hier stellt Münch am 30.12.16 israelische Pressereaktionen zum Jahresende zusammen. Auch lesenswert: ‚Land hinter Mauern‘ in der Badischen Zeitung.
Schließlich möchten wir Ihnen hier einen der wichtigsten und aufschlussreichsten Filme über den Siedlungsbau der letzten Jahre präsentieren: THE IRON WALL von Mohammed Alatar.
[youtube https://www.youtube.com/watch?v=UFBamQ2aONA&w=560&h=315]