Helga Baumgarten: Kein Frieden für Palästina – Der lange Krieg gegen Gaza, Besatzung und Widerstand, ProMedia-Verlag, Wien 2021.
Der Völkerrechtler Prof. Dr. Norman Paech ist BIP-Gründungsmitglied. In dieser Woche veröffentlichen wir seine Rezension des neuen Buches von Prof. Dr. Helga Baumgarten, „Kein Frieden für Palästina – Der lange Krieg gegen Gaza, Besatzung und Widerstand“, das im Herbst dieses Jahres im ProMedia Verlag erschienen ist.
Was wir gemeinhin als „Nahostkonflikt“ bezeichnen, ist schlicht ein großes Verbrechen. Es wird treffender mit Siedlerkolonialismus, ethnischer Säuberung, Apartheid und permanentem Krieg umschrieben. Wem aber bei diesen Begriffen eher der Vorwurf der Einseitigkeit und des Antisemitismus als das Eingeständnis der verweigerten Mitverantwortung in den Sinn kommt, der lese dieses Buch von Helga Baumgarten. Die Autorin war von 1993 bis 2020 Dozentin an der Birzeit Universität in Palästina und kennt die historische Entwicklung und aktuelle Zuspitzung dieses langen Krieges aus ihrer langjährigen Arbeit vor Ort. Es gibt immer nur eine Wahrheit, aber immer mehrere Perspektiven und Interpretationen, die je für sich den Anspruch auf Wahrheit erheben. Die Perspektive dieses Buches ist die der Palästinenser, die die Autorin authentisch vertreten kann. Sie ist daher unbeschwert von den Lasten der deutschen Erinnerungskultur, die erst jede Aussage in den Untiefen unserer Geschichte prüfen muss, bevor sie sie in die Öffentlichkeit entlässt.
Die Darstellung geht in fünf Kapiteln den Weg der Auseinandersetzung zwischen Juden und Palästinensern von der Gründung des israelischen Staates 1948 über die Okkupation des Westjordanlandes und des Gazastreifens 1967, die erste Intifada 1987 und den Oslo-Prozess seit 1993, die zweite Intifada, die Wahlen zwischen 2004 und 2006 mit dem Aufstieg der Hamas bis zum anschließenden langen Krieg gegen Gaza bis heute. Die Autorin hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen für die Palästinenserinnen und Palästinenser so bitteren Weg, die unstreitigen Fakten der Besatzung, von dem Filter des „Existenzrechts Israels“ und der „besonderen Verantwortung Deutschlands“ zu befreien und als das zu zeigen, was sie sind: permanente Gewalt und Krieg. Die Gewalt der Palästinenser, die Selbstmordattentate und Raketen, sind immer nur die Antwort auf diese allgegenwärtige, ständig provozierende Gewalt der Besatzung.
So im Mai 2021, mit dem das Buch beginnt. Die willkürliche Schließung des Damaskus-Tores, die konstanten Provokationen auf dem Haram-Ash-Scharif während des Ramadan und die drohende Vertreibung palästinensischer Familien im Stadtteil Scheikh Jarrah waren der Anfang. Sie führten zu einer Eskalation der Spannungen und veranlassten schließlich die Hamas, Israel ein Ultimatum zu stellen, die Gewalt zu stoppen, den Haram zu verlassen und die Vertreibung der Familien zu unterlassen. Erst als die Regierung das Ultimatum zurückwies, wurde am 10. Mai aus Gaza geschossen. Die Reaktion war furchtbar und absolut unverhältnismäßig. Ohne Rücksicht auf Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen und Moscheen wurde Gaza wieder in ein Trümmerfeld verwandelt: über 250 Tote, fast 200 Verletzte. Der maßlose Angriff basierte auf der sog. Dahiya-Doktrin, die General Eisenkot im Libanon-Krieg entwickelt hatte und seitdem die Exzesse aller Kriege seit 2008/2009 bestimmte. Sie fordert die Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt und die Zerstörung der zivilen Infrastruktur, um ihre Nutzung durch zivile Militante zu verhindern. In Verbindung mit der seit 1986 gültigen sog. Hannibal-Direktive, die es den israelischen Soldaten erlaubt, bei einem Verdacht auf Entführung oder Tötung eines Soldaten alles rigoros zu zerstören, was im Wege steht und jeden zu erschießen, der sich ihnen entgegenstellt, ist dies ein System, welches nicht nur die Autorin zurecht als Staatsterror bezeichnet.
Bereits Jeff Halper hat in Counterpunch 2014 darauf hingewiesen, dass in all diesen Kriegen das Völkerrecht nicht nur keine Rolle spielt, sondern bewusst verletzt wird, und Helga Baumgarten betont: Die Palästinenser werden gleichsam als Versuchskaninchen der „Anpassung“ des Völkerrechts an die israelische Kriegspraxis und der Befreiung von allen Restriktionen des humanitären Völkerrechts benutzt, um gleichzeitig jeglichen Widerstand zu delegitimieren. Diese Art des „lawfare“ umschreibt David Reisner in der Rechtsabteilung der israelischen Armee, den die Autorin zitiert: „Wenn man etwas lange genug macht, wird die Welt es schließlich akzeptieren. Internationales Recht heute basiert darauf, dass etwas, was heute verboten ist, morgen erlaubt ist, wenn es nur genug Staaten gemacht haben … Internationales Recht entwickelt sich durch Verletzungen eben dieses Rechtes. Wir erfanden die These von den “gezielten Tötungen“ und wir mussten sie durchsetzen. Acht Jahr später steht sie im Zentrum dessen, was als legal akzeptiert ist … Je öfter westliche Staaten die Prinzipien, die in Israel entwickelt wurden, selbst in ihren nicht-traditionellen Konflikten an Orten wie in Afghanistan oder im Irak anwenden, desto größer ist die Chance, dass diese Prinzipien ein wertvoller Teil internationalen Rechtes werden.“ (S. 162) Abgesehen davon, dass die „gezielten Tötungen“ keineswegs als legal akzeptiert sind, ist diese zynische Variante des israelischen „lawfare“ nur ein Beispiel des Völkerrechtsnihilismus, der die gesamte Besatzungs- und Kriegspolitik gegen die Palästinenser kennzeichnet. Die Kapitel über die vier „heißen“ Kriege von 2008/2009, 2012, 2014 und 2021 sind traurige Belege der Verachtung jeglicher internationaler Regeln.
Die Autorin Prof. Dr. Helga Baumgarten von der Birzeit Universität. Quelle: Wikipedia, 2010.
Heute zweifelt niemand mehr daran, dass der Oslo-Prozess gescheitert ist, und die Autorin zeigt auf, dass dies von Anfang an in den Verträgen bereits angelegt war. Eine Anerkennung des palästinensischen Rechts auf Selbstbestimmung fehlt ebenso wie die Anerkennung eines Rechts auf einen eigenen Staat. Ein palästinensischer Staat wird mit keinem Wort erwähnt, ebenso wenig eine Perspektive für die Beendigung der Besatzung. Nur eine Interim-Selbstregierungsautorität wird den Palästinensern zugestanden, bis nach fünf Jahren eine permanente Lösung gefunden werden sollte. Was daraus wurde, war vorauszusehen, denn während der Jahre der Verhandlungen gingen der Bau der israelischen Siedlungen und der Landraub unvermindert weiter. Dazu hinterließ Yassir Arafat in einem Brief an Yitzak Rabin der PLO eine schwere Hypothek, die den Zerfall der politischen Autorität seines Nachfolgers Mahmoud Abbas und den Aufstieg der Hamas wesentlich mitbestimmte: „Die PLO gibt den Terrorismus und andere Akte der Gewalt auf und übernimmt Verantwortung über alle Elemente und Personen in der PLO, um zu gewährleisten, dass sich diese an die eingegangenen Verpflichtungen der PLO halten, um jede Verletzung dieser Abmachungen zu verhindern, und zur Disziplinierung aller, die dem zuwiderhandeln“. (S. 94) Er bot damit den Israelis die PLO als Polizeitruppe für die Sicherheit ihrer Besatzungsmacht an und bereitete den Weg für die Kooperation der Geheimdienste auf beiden Seiten, die bis heute anhält.
Seit dem überlegenen Sieg der Hamas über die Fatah in den Kommunalwahlen 2004 und dem ebenso klaren Sieg 2006 im Gazastreifen ist die Hamas ein dominanter Faktor in der palästinensischen Politik. Die Autorin hat sich schon in ihren vorangehenden Veröffentlichungen um eine Entdämonisierung der Hamas bemüht, die sich unsere Politik und Medien mit verbissener Sturheit als „radikalislamische Terrorgruppe“ vom Hals und aus der politischen Realität halten will. Auch in ihrem neuen Buch wird plausibel, weswegen die „ausgezeichnete Arbeit“ der Hamas ihr einen solchen Rückhalt nicht nur in Gaza, sondern auch in der Westbank verschafft. In den Worten ausländischer Diplomaten: „Die Stadtverwaltungen der Hamas funktionieren sehr gut, die Arbeitsethik hat sich dramatisch verbessert. Bürgermeister sprechen die Bürger an und kümmern sich um deren Belange und Sorgen … Sie arbeiten hart … aber sie gehen sehr sorgfältig und sparsam mit dem Geld um. Sie versuchen Recht und Ordnung durchzusetzen. Und sie versuchen, effiziente Dienstleistungen anzubieten.“ (S. 114) Offensichtlich braucht der irrationale Israel-Diskurs der deutschen Staatsräson ein derartiges irrationales Feindbild, welches in den siebziger und achtziger Jahren die Fatah, danach die PLO und jetzt die Hamas liefern muss.
Der „Widerstand“ im Titel des Buches nimmt im Schlusskapitel nur einen schmalen Raum ein. Was gibt es auch zu berichten? Demonstrationen gegen das „Abbas-Regime“ in Ramallah. Die BDS-Bewegung, die inzwischen von der gesamten palästinensischen Zivilgesellschaft unterstützt wird und am 18. Mai 2021 zum ersten Mal seit 1948 zu einem das ganze historische Palästina umfassenden Streik geführt hat. Ihr „Manifest für Würde und Hoffnung – Intifada der Einheit“ signalisiert zumindest, dass „die letzten paar Monate eine neue palästinensische Identität geschmiedet“ haben, wie es Haaretzformuliert. Das macht zwar den nächsten heißen Krieg wahrscheinlicher als den Rückzug der israelischen Truppen aus den widerrechtlich besetzten Gebieten. Aber es zeigt auch, dass Israel nicht mit der Resignation der unterdrückten Bevölkerung rechnen kann, die ihre Heimat nicht freiwillig verlassen wird.
„Kein Frieden für Palästina“ erinnert im Titel zwar an das Standardwerk „Kein Frieden um Israel“ von Walter Hollstein im selben Verlag. Es ist aber von ganz anderer Art als dieses unerreichte Kompendium „Zur Sozialgeschichte des Palästina-Konflikts“. Es ist eine große Flugschrift gegen das Unrecht, welches der arabischen Bevölkerung seit der Gründung des jüdischen Staates und der Expansion seiner Siedler angetan wird. Es ist eine Streitschrift gegen die herrschende Berichterstattung und ihre verzerrende Historiografie. Es ist aktuell, klar und ohne Windungen, kenntnisreich und gut zu lesen.
Wer über den „Nahostkonflikt“ redet, sollte es lesen.
Hamburg, d. 28. September 2021
Norman Paech
Das Buch kann in jeder Buchhandlung oder beim Promedia Verlag bestellt werden, gerne auch in der Buchhandlung unseres BIP-Mitgliedes Eberhard Hirschler: buchhandlung.hirschler@singstiftung.de Online–Buchhandlung Otterstadt
06232-2890098 mobil 0171 – 4148713
Verlag Stiftung Hirschler Frankenstr. 2, 67166 Otterstadt
Der Gewinn durch Ihren Buchkauf geht zu 100% an die Stiftung und damit auch an die ev. Schulen und Kitas in Palästina.
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Wir laden Sie ein zum online-Vortrag unseres Geschäftsführers Dr. Shir Hever am 21. Oktober um 19 Uhr. Das Thema heißt „Neue Ausrichtung der israelischen Außenpolitik“:
https://bibjetzt.wordpress.com/neue-aneue-ausrichtung-der-israelischen-aussenpolitikusrichtung-der-israelischen-aussenpolitik/
BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden.
Maskierte Siedler haben Palästinenser mit Steinen angegriffen und 12 verletzt
Die folgenden Ausführungen werden in unserer „Menschenrechtsrubrik“ diesmal etwas ausführlicher dargestellt, müssen sie doch in ihrer Ungeheuerlichkeit bei allen Menschen blankes Entsetzen hervorrufen: In einem Tweet schreibt B´Tselem von einem Pogrom, der am jüdischen Feiertag Simchat Torah in den South Hebron Hills stattgefunden hat, durchgeführt von maskierten Siedlern und „in Begleitung“ der israelischen Armee. Ähnliche Berichte häufen sich in den israelischen Medien, Hagar Shezaf berichtete mehrmals in Haaretz ebenso wie Amira Hass (s.u.). B´Tselem spricht von einem Mob von 80 bis 100 gewalttätigen Siedlern. https://youtu.be/yyrUZTf3U14
Der Vorfall ereignete sich in der Nähe des Dorfes Khirbat al-Mufkara im Westjordanland, wo die Siedler unter anderem etwa 10 palästinensische Fahrzeuge sowie Wassertanks im Dorf beschädigten. Unter den 12 Verletzten war ein 3-jähriger Junge, der eine Kopfverletzung erlitt und in mittelschwerem Zustand in das Soroka Medical Center in Be’er Sheva gebracht wurde.
https://www.haaretz.com/israel-news/.premium-masked-settlers-attack-palestinians-with-stones-injuring-12-including-3-year-old-1.10249163?utm_source=mailchimp&utm_medium=content&utm_campaign=daily-brief&utm_content=1e5b25aecd
In ihrer Analyse dieses Vorfalles schreibt Haaretz-Korrespondentin Amira Hass, dieser Siedlerangriff auf Palästinenser in den Hebron-Hügeln diene der israelischen Politik, die seit Jahren versuche, die Bewohner der Höhlen in den Hebron-Hügeln zu vertreiben, indem es sie zur Militärzone erklärt.
Israel leugnet die Tatsache, dass die Höhlendörfer von Masafer Yatta bereits vor der Staatsgründung und erst recht vor der Eroberung des Westjordanlandes im Jahr 1967 existierten. Es ist daran interessiert, die Entwicklung dieser Höhlen zu oberirdischen Strukturen zu verhindern und den Lebensstil, der dort existiert, auszulöschen. Die Schafzucht und die bescheidene, Landwirtschaft ohne künstliche Bewässerung zur Deckung des Haushaltsbedarfs sind ein untrennbarer Teil der palästinensischen Geschichte und Geografie in der Region. Die Dörfer und ihre Erweiterungen bilden ein organisches soziales Gefüge, und es bestehen seit langem familiäre, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Beziehungen zwischen ihnen und der Stadt Yatta.
Die israelische Forderung, die Bewohner zu vertreiben, wird rechtlich damit begründet, dass sie sich in der sogenannten Firing Zone 918 befinden, die angeblich für militärische Übungen vorgesehen ist. Die Bewohner von rund einem Dutzend Dörfern in der Region wurden bereits Ende 1999 vom Militär aus ihren Häusern vertrieben, mit der Begründung, dass sie sich unbefugt in einem Schießgelände aufhielten. Das Militär beschlagnahmte Zelte, riss die Gebäude ab, konfiszierte bewegliche Güter, lud die Menschen auf Lastwagen und setzte sie in Yatta ab. Der Bearbeiter dieser Information kann aus eigenem Erleben bestätigen, dass in Firing Zones zumeist keine Manöver durchgeführt werden; vielmehr richtet die Armee diese Zonen manchmal sehr kurzfristig und auch nur für kurze Zeit ein, zum Beispiel, um im Frühjahr, wenn die Bauern ihre Felder eingesät haben, mit Militärfahrzeugen die frische Saat zu zerstören.
https://www.haaretz.com/israel-news/.premium-settler-attack-in-hebron-hills-serves-the-israeli-policy-of-palestinian-eviction-1.10252591?utm_source=mailchimp&utm_medium=email&utm_content=author-alert&utm_campaign=Amira%20Hass&utm_term=20210929-20:42
Über ein ermutigendes Beispiel israelisch-palästinensischer Solidarität und Zivilcourage berichtet Hagar Shezaf am 2.10.:
Hunderte marschieren im Westjordanland, um nach einem Siedlerangriff Wasser für ein palästinensisches Dorf zu fordern
Etwa 400 Israelis und Palästinenser demonstrierten am Samstag im Westjordanland, um fließendes Wasser für das Dorf Khirbet al-Mufkara zu fordern. In Begleitung von zwei Knessetabgeordneten, Ofer Cassif von der Gemeinsamen Liste und Mossi Raz von Meretz, marschierten die Aktivisten von al-Tuwani nach Khirbet al-Mufkara. Vor zwei Wochen wollten sie die Dorfbewohner mit Wassertanks versorgen, als sie von Soldaten mit Blendgranaten angegriffen wurden. Der stellvertretende Bataillonskommandeur, der dabei gefilmt wurde, wie er Aktivisten angriff, wurde verwarnt.
Der Marsch am Samstag endete ohne Gewalt, und die Teilnehmer berichteten, dass die Soldaten auf Distanz blieben.
Vier Israelis, die beschuldigt wurden, an dem Angriff auf das Dorf in den südlichen Hebron-Hügeln beteiligt gewesen zu sein, wurden am Freitag per Gerichtsbeschluss freigelassen, während die Haftzeit eines Jugendlichen, der verdächtigt wurde, einen israelischen Soldaten angegriffen zu haben, bis Sonntag verlängert wurde. Zwei israelische Jugendliche bleiben in Haft, und ein Erwachsener steht unter Hausarrest, ebenfalls wegen des Verdachts, einen Soldaten angegriffen zu haben.
https://www.haaretz.com/israel-news/.premium-hundreds-march-to-demand-water-for-palestinian-village-after-settler-attack-1.10259826
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V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.