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Gewalt ist kein Mittel.png

Am vergangenen Montag, den 8. Januar 2017, raste ein Mensch in einem LKW in Jerusalem in eine Gruppe von Soldaten, tötete dabei vier und verletzte 17 Menschen. Dann wurde er selbst erschossen.

Diese grausame Gewalttat wird in aller Welt verdammt und verurteilt – zu Recht. Denn sie hat nicht nur fünf Menschenleben gekostet (vier Opfer und der Attentäter), sondern hinterlässt auch – zusätzlich zu den Verletzten – zahllose Menschen mit Schocks, Ängsten, Traumata, Verlust und Schmerzen, die womöglich ein Leben lang anhalten. Zudem erzeugt diese Gewalt – wie kann es anders sein – Gegengewalt: Das Wohnviertel des Attentäters wird mit Roadblocks abgeriegelt, es gibt Verhöre, Verhaftungen, womöglich einen Hausabriss, womöglich Racheakte, womöglich noch mehr Ängste, Trauma, Verlust und Schmerzen. Wohin das führen soll? Richtig: zu noch mehr Gewalt.

Nun sind Politik und Medien schnell im Reagieren auf so eine schreckliche Tat. Scheinbar offensichtliche Zusammenhänge werden festgestellt, eine Verbindung zum IS etwa und zu den anderen LKW-Attentaten in Berlin und Nizza. Der Volksmund spricht von der „Gewaltspirale“ und dass es „da unten wohl niemals Ruhe geben werde“; in aller Munde ist das Wort „Terror“ und „Terrorist“ und die Frage steht im Raum, ob „die Araber denn niemals zur Vernunft kommen, Israel endlich mal anzuerkennen und die Hand zum Frieden auszustrecken“. Es geschähen „fast täglich palästinensische Attentate“; die israelische Seite „wehrt sich“ oder antwortet mit „Vergeltungsschlägen“. Schließlich enden Tischgespräche häufig mit der resignierten Annahme, dass das wohl ewig so weitergehen werde mit den „palästinensischen Terroristen“ und der „Verteidigung der einzigen Demokratie im Nahen Osten“ durch die Israelis.


Historie der Gewalt im Konflikt um Palästina


Militär ist seit Jahrzehnten in Israel und im besetzten Westjordanland allgegenwärtig (Quelle: priv.)

Bis 1949:
In der Tat reicht die Gewalt in diesem Konflikt weit zurück. Vor 97 Jahren, 1920, rebellierten arabische Freischärler gegen die britisch-französische Aufteilung ihres Landes und die jüdische Einwanderung und Landaneignung im 1920 eingerichteten britischen „Mandatsgebiet Palästina“, denn damals verloren viele arabische Bauern ihre Existenzgrundlage durch „jüdische Arbeit“, wie es hieß. An der Grenze zwischen Palästina und Libanon, in Tel-Chai, entlud sich die Spannung in einer Schießerei zwischen bewaffneten Gruppen, bei der fünf Araber und acht Juden starben, u.a. Josef Trumpeldor, ein auf jüdischer Seite hoch angesehener russisch-jüdischer Kriegsheld. 1929 führten in Hebron Gerüchte über eine jüdische Übernahme der Moscheen in Jerusalem zu einem Pogrom an der alteingesessenen jüdischen Bevölkerung mit 67 Toten. Natürlich wollte sich die jüdische Seite die Erfolge ihrer Landaneignung nicht durch Gewalt zunichte machen lassen. Der nationalistische Flügel der jüdischen Seite setzte seinerseits auf Gewalt: Höhepunkte dieser Terrorakte sind das Attentat auf das britische Hauptquartier im King David Hotel in Jerusalem 1946 mit mindestens 90 Todesopfern (in der Mehrheit Araber), die Liquidierung des Jerusalemer Vororts Deir Jassin im April 1948 mit rund 100 arabischen Toten (daraufhin setzte eine Massenflucht der palästinensischen Bevölkerung ein) und die Erschießung des UN-Konfliktvermittlers Graf Folke Bernadotte im September 1948 (der sich für das Recht der Geflohenen und Vertriebenen auf Rückkehr eingesetzt hatte). Besiegelt wurde die israelische Landnahme durch Israels Sieg im sogenannten Unabhängigkeitskrieg 1948/49 gegen die desorganisierten Armeen der (ihrerseits erst jüngst unabhängig gewordenen) arabischen Nachbarstaaten. Der Krieg forderte Tausende Opfer auf beiden Seiten; er markiert für die Israelis die verlust- und siegreiche Manifestierung ihrer Unabhängigkeit und ihres Nationalstaates und für die Palästinenser den Beginn der Nakba (Katastrophe).

1949-1993:
Selbstverständlich waren die arabischen Palästinenser unglücklich über den Kriegsausgang von 1949, insbesondere über die ersatzlose Enteignung ihres Landes, ihrer Wohnhäuser und ihrer Besitztümer. Die israelische dominierende Fraktion unter Ben-Gurion zeigte sich niemals kompromissbereit (im Gegensatz zum Außenminister und kurzzeitigen Premierminister Mosche Scharet), rückkehrwillige Palästinenser wurden als „Infiltranten“ erschossen und die in Israel verbliebenen Palästinenser bis 1966 unter Militärrecht gestellt. Die palästinensische Seite reagierte ab 1969 mit terroristischen Akten – u.a. Flugzeugentführungen oder dem Attentat japanischer Gesinnungsgenossen im Flughafen Tel-Aviv (26 Tote). All dies war zwar historisch verständlich, aber moralisch und rechtlich verwerflich – es traf meist unbeteiligte Zivilisten – und darüber hinaus zwecklos: Es brachte der palästinensischen Sache keine Sympathien. So sprang dann Jassir Arafat über seinen Schatten und erkannte in Oslo 1993 den Staat Israel an.

1967 – heute:
Arafats 1993er Anerkennung Israels in den Grenzen von 1949 hinkte aber der Entwicklung hinterher. Denn Israel hält seit dem „Sechs-Tage“-Juni-Krieg 1967 Ost-Jerusalem, Westjordanland, Gazastreifen und syrische Golanhöhen besetzt und siedelt systematisch seine Bevölkerung im Westjordanland an. Die Millionen Palästinenser im Westjordanland leben unter israelischem Militärrecht, und Israel macht ihnen nach Kräften das Leben schwer durch Straßensperren, keine Baugenehmigungen, Wassermangel und vor allem Landenteignungen und Siedlungsbau – wo immer möglich.

Der Schein trügt: Dies ist keine Haltestelle, an der dieser Mann gemütlich lehnt, sondern ein Roadblock, eine Straßensperre, die Palästinenser daran hindern soll, diese Straße zwischen Jerusalem und Jericho zu benutzen. Rechts im Hintergrund ein abgeholzter Olivenhain. (Quelle: priv.)

Das ist unserer Meinung nach der Nährboden für die andauernde Gewalt in Palästina: Es ist nicht nur eine Spirale der Gewalt von palästinensischen individuellen Terrorakten (als der Waffe des Schwächeren) und israelischen Polizei-, Geheimdienst- und Militäraktionen (als der Waffe des Stärkeren). Sondern Israels Besatzungspolitik raubt den Palästinensern zunehmend die Perspektive auf Selbstbestimmung und einen eigenen Staat – weil ihnen von Israel kein Land mehr übriggelassen wird.


Individuelle Gewalterfahrung

Die individuelle Erfahrung von Gewalt unterscheidet sich für Israelis und Palästinenser grundlegend.

  • Israelis erleben Gewalt punktuell, etwa bei einer Messerattacke oder einem Attentat, und leiden dauerhaft unter der Angst, es könnte sie oder ihren Nächsten treffen. Die Präsenz des israelischen Militärs, Warnschilder, Handtaschenkontrollen und die Akzeptanz jeglicher Einschränkungen „for security reasons“ unterstreichen das Bedrohungsgefühl.
  • Palästinenser erleben Gewalt als integrierten, dauerhaft präsenten Teil ihres Alltags. Sie sind schon auf dem Weg zur Schule oder zur Arbeit in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, erleben Leibesvisitationen, Verhaftungen, Eindringen in ihre Häuser bei Nacht, Wassermangel, Hauszerstörungen, gezielte Tötungen, Kollektivstrafen.
  • Beide Seiten leiden individuell gleichermaßen am Schmerz und Verlust ihrer Angehörigen. Einige Opfer-Familien beider Seiten haben sich im Parents Circle zusammengetan und suchen neue gemeinsame Wege. Sehen Sie sich diesen 5-minütigen Film darüber an.

[youtube https://www.youtube.com/watch?v=RzJkBxQC4Tg&w=560&h=315]

Anhand der folgenden Grafik von VisualizingPALESTINE zeigt sich die Folge von struktureller Gewalt sogar gegen ungeborene Palästinenser:VisPal_born_in_checkpoint.jpegQuelle: visualizingpalestine.org


Zahlen über Gewaltopfer

Das Ungleichgewicht der Opferzahlen zwischen der individuellen Gewalt der Palästinenser und der institutionellen Gewalt des Staates Israel macht diese Grafik der UN-Organisation OCHA deutlich, die beispielhaft die Opferzahlen im Oktober 2015 gegenüberstellt, einer Zeit, in der es massiven Aufstand seitens der Palästinenser gegen die Besatzung gab: : 8 israelische Tote, 69 palästinensische Tote; über 100 israelische Verletzte, über 7.000 palästinensische Verletzte.

  • während der Ersten Intifada (’87-’93) starben über 1.400 Palästinenser und über 200 Israelis (Quelle: B’tselem)
  • während der Operation ‚Gegossenes Blei‘ in Gaza 2008/09 starben fast 1.400 Palästinenser und 13 Israelis (Quelle: B’tselem)
  • beim jüngsten Gaza-Krieg im Sommer 2014 gab es über 1.800 Todesopfer auf der palästinensischen und 67 auf der israelischen Seite zu beklagen
  • auf beiden Seiten gibt es Hunderte Familien, die Angehörige verloren haben
  • auf beiden Seiten gibt es traumatisierte, verkrüppelte, psychisch und physisch eingeschränkte Menschen infolge von Gewalt
„Es liegt in der Natur des Menschen, auf die Besatzung zu reagieren, die oft als mächtiger Brutkasten des Hasses und des Extremismus dient.“
Ban Ki-Moon, Generalsekretär der Vereinten Nationen, 2016

 


Neue Fragen

Neue Fragen
Wir meinen, es ist an der Zeit, neue Fragen zu stellen, wie etwa:

  • Wie kann Deutschland dazu beitragen, ein Ende der Besatzung herbeizuführen?
  • Wie sollten Palästinenser auf fünf Jahrzehnte Besatzung und massive Einschränkung reagieren?
  • Wie kann man sie dabei mit rechtsstaatlichen Mitteln gewaltfrei unterstützen?
  • Wer profitiert davon, dass die Besatzung aufrecht erhalten wird?
  • Wie lange kann ein Leben (für beide Seiten) mit der Besatzung weiter gehen?
  • Was fehlt, um die Besatzung zu beenden?
  • Was spricht gegen die Beendigung der Besatzung?

Stellen auch Sie diese Fragen im Freundeskreis, in den Medien oder an Politiker.

 

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