Dass Netanyahu keinerlei Interesse an einem autonomen palästinensischen Staat hat, sondern im Gegenteil dieser Tage wieder schwört (und damit der jahrzehntelangen politischen Linie Israels folgt), niemals Siedlungen aufzugeben, dürfte heute niemanden mehr überraschen.
Screenshot vom israelischen Nachrichtenmagazin 972
Oft taucht jedoch die Frage auf, was denn die palästinensische Führung selber tut, um aus der Misere herauszukommen. Gibt es überhaupt eine Führung? Ist die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) wirklich autonom? Dazu im Folgenden unser Thema der Woche.
Anfänge der PA in Oslo
In den sogenannten „Friedens“-Verhandlungen von Oslo (Oslo Accords), in denen vereinbart wurde, dass vorerst fünf Jahre lang nichts verbindlich vereinbart werden solle, wurde 1993 eine Prinzipienerklärung über eine vorübergehende Selbstverwaltung der Palästinenser getroffen. 1994 folgte das Gaza-Jericho-Abkommen zwischen der PLO und Israel und 1995 das Interimsabkommen über das Westjordanland und den Gazastreifen („Oslo II“), aus dem letztlich die Palästinensische Autonomiebehörde hervorging. Die PA übt seither nominell Regierungsfunktionen in den Palästinensischen Autonomiegebieten im Westjordanland und dem Gazastreifen aus – wobei ‚Autonomie’ hier sehr großzügig interpretiert werden muss: In den städtischen Gebieten (Zone A) ist die PA offiziell alleine zuständig für öffentliche Verwaltung, also Wasser- und Stromversorgung, Schulen, Straßen, Müllabfuhr usw. sowie für Sicherheitsfragen (Polizei, Justiz). Dies gelingt nur mit großzügiger Finanz- und Ausbildungshilfe vor allem aus der EU – und auch in Zone A dringt israelisches Militär und Polizei immer wieder „aus Sicherheitsgründen“ ein. In den ländlichen Gebieten (Zone B) ist die PA nur für die öffentliche Verwaltung zuständig. In der flächenmäßig größten (über 60%), von Palästinensern eher dünn besiedelten Zone C des Westjordanlandes, wo sich auch die jüdischen Siedlungen befinden, hat die israelische Armee die volle Kontrolle, auch über zivile Angelegenheiten. Seit Israel unter Premier Scharon 2005 die jüdischen Siedlungen im Gazastreifen auflöste, ist dieser de facto ebenfalls Zone A. (Ein Abkommen mit der Autonomiebehörde über den Abzug lehnte Scharon arroganterweise ab.)
Auch wenn immer wieder betont wurde, dass die PA im Zuge einer endgültigen Regelung die Basis für einen zu gründenden palästinensischen Staat werden solle, sahen die Verträge von Oslo („Oslo II“) keine explizite Regelung für die Zukunft der PA vor. „Die Israelis bestanden darauf, dass die Erklärung [Grundlagenerklärung von Oslo 1993] keinerlei Hinweise für die Errichtung eines palästinensischen Staates enthalte….“, schreiben Jörn Böhme und Christian Sterzing in Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts, S. 61.
Oslo: Das wohl berühmteste Foto mit dem wohl größten Friedensversprechen – und der größten Enttäuschung (Screenshot von diepresse.com)
Fremdfinanzierung, Abhängigkeit, Korruption
Laut Vierter Genfer Konvention ist es Aufgabe einer Besatzungsmacht, für die Erhaltung der Infrastruktur in dem von ihr besetzten Gebiet zu sorgen. Durch das Gaza-Jericho-Abkommen wurden diese Aufgaben auch für den Gazastreifen und die palästinensischen Städte im Westjordanland der PA übertragen, obwohl diese Gebiete, also Zone A, de facto von Israel besetzt sind. So muss also die PA für die Infrastruktur sorgen, wozu sie aber ohne umfangreiche Subventionen aus den USA, der EU und auch direkt aus vielen europäischen Ländern, allen voran Deutschland, nicht fähig wäre. Hinzu kommt ein direktes Abkommen mit Israel über eine sogenannte ‚Sicherheitszusammenarbeit’.
Unter anderem die Pariser Protokolle von 1994, die im Zuge des Oslo-Abkommens eigentlich die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Israelis und Palästinensern regeln sollten, führten in eine direkte Wirtschafts-, Steuer-, Währungs- und Zollabhängigkeit. (Israel verfügt z.B. direkt über Gelder, die den Palästinensern zugeführt werden sollen, und bestimmt über deren Verteilung abhängig vom ‚Benehmen’ der Palästinenser.) Demokratische Wahlen fanden zuletzt 2006 statt, und der Autonomiebehörde werden totale Abhängigkeit von Israel sowie marode und von Korruption durchsetzte, autoritäre Strukturen vorgeworfen.
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Die Tagesschau am 29. April 1994
Zusammenarbeit von PA und IDF
Autoritäre Struktur – wenig Demokratie
Derzeit dominiert die Fatah die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland, während Hamas de facto den Gazastreifen beherrscht. Beide Parteien halten teils mit Gewalt an ihren Positionen fest, wohl wissend, dass sie an Rückhalt in der Bevölkerung verloren haben. Seit Jahren sind Wahlen zum Legislativrat und für das Präsidentenamt überfällig. Am 8. Oktober 2016 waren zuletzt welche in beiden palästinensischen Autonomiegebieten vorgesehen, die dann wieder nicht stattfanden. Nicht wenige Palästinenser hatten gehofft, diese Wahlen könnten ein Schritt zur Beendigung der politischen Teilung zwischen Westjordanland und Gazastreifen sein und den Weg zu den überfälligen Parlamentswahlen ebnen. Die Wahlen wurden jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben, so die Heinrich Böll Stiftung in Ramallah.
Zum erbitterten Streit der beiden rivalisierenden Parteien kam es, nachdem die Hamas im März 2006 als Gewinnerin der demokratischen Wahlen hervorging, die im Westjordanland und Gaza abgehalten wurden – eine Volksentscheidung, die weder der bis dahin mächtigeren Fatah noch Israel und seinen westlichen Verbündeten behagte. Es war damals nicht die Hamas, die die blutigen Bruderkämpfe anzettelte, sondern massive Interventionen der PLO unter Führung von Mohammed Dahlan. Dahlan startete mit Hilfe der CIA Aktionen gegen die an die Macht gekommene Hamas. Bei einem Umsturzversuch im Juni 2006 unterlagen jedoch seine Männer, was zum Ende der Fatah-Herrschaft im Gazastreifen führte.
Massive Korruptionsvorwürfe werden sowohl an die PA wie auch an die Hamas erhoben. So wird immer wieder berichtet, dass z.B. EU-Gelder zum Wiederaufbau von Gaza in undurchsichtigen Kanälen verschwinden oder auch, dass sich Einzelpersonen im Westjordanland durch öffentliche Zuwendungen bereichern. Wirklichen Protest dagegen gibt es kaum, und wenn, dann wird er schnell seitens der PA unterdrückt, wie im Fall von Issa Amro, dem Gründer und Koordinator der gewaltfreien palästinensischen Menschenrechtsorganisation Youth Against Settlements. Er wurde wegen eines Facebook-Posts, in dem er die PA scharf kritisierte, von ebendieser im September inhaftiert und kam nur wegen massiver öffentlicher Proteste schnell wieder frei. Derzeit befindet er sich in den USA, wo er u.a. von Bernie Sanders empfangen wurde.
PA ohne Zukunft?
Korruption, Autorität, Willkür, die Gewaltbereitschaft des militanten Flügels der Hamas in Gaza, die extreme Abhängigkeit von Israel – oft werden die Führer und Funktionäre der PA als von Israel gelenkte Marionetten bezeichnet – sowie die Tatsache, dass es offensichtlich keinen noch so kleinen Ansatz, keinerlei Strategie seitens der palästinensischen Führung gibt, eine politische Lösung für den Konflikt, für das Ende der Besatzung, für bessere Lebensverhältnisse und einen selbstbestimmten Staat anzubieten, hat das Vertrauen der Palästinenser in die PA auf den Nullpunkt gebracht. Die Resignation ist weit verbreitet, die Amtszeit von Präsident Abbas endete 2009 und der derzeit einzig sichtbare, charismatische Fatah-Führer Marwan Barghouti sitzt seit 15 Jahren in israelischer Haft. Neuwahlen sind nicht in Sicht.
Wie sehr die PA die Tuchfühlung mit der Bevölkerung verloren hat, wird In einer lesenswerten Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung deutlich. An der Universität Birzeit im Westjordanland hat das anhaltende Demokratiedefizit dazu geführt, dass die meisten StudentInnen an die politische Elite nur noch geringe Hoffnungen knüpfen. „Die arbeiten doch eh nur für ihren eigenen Vorteil“, meint etwa die 20-jährige Marketingstudentin Maria Hreish aus Ramallah. „Ganz gleich, wer die Wahlen gewinnt: Die Dinge ändern sich nicht. Außerdem bleiben wir ohnehin ein besetztes Land.“
Daran konnte bislang weder das geänderte Grundsatzprogramm der Hamas noch ihr Angebot an die Fatah zu einer Versöhnung etwas ändern, wie die ZEIT Mitte September 2017 berichtete.
Wenn Sie mehr wissen wollen…
Es ist immer schwierig Quellen zu finden, die nicht tendenziös sind, die wir für weitgehend zuverlässig befinden und selber nutzen und weiter empfehlen. Das gilt ja ganz generell, aber ganz besonders für die Suche nach sachlichen Informationen im Kontext von Palästina/Israel. Daher empfehlen wir (neben Reisen in die Region, die wir selbst anbieten!) eine kritische Durchsicht und grundsätzlich die Frage zu stellen, wer die Autorenschaft hat und in welchem bzw. in wessen Interesse berichtet wird. Das gilt selbstverständlich für Informationen über beide Seiten.
Hier finden Sie einige Links, wenn Sie zum Thema ‚Palästinensische Autonomiebehörde’ weiter stöbern wollen. Natürlich konnten wir hier nur einen groben Überblick geben und freuen uns über Kommentare, besonders zu Themen, die wir nicht erwähnt haben. Danke für Ihr Interesse und Ihr Mitwirken!
Quellen/Links:
Auswärtiges Amt – Palästinensische Gebiete
Palästinensische Mission Berlin
Bundeszentrale für politische Bildung
Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Vertrauensverlust in die PA
Ein Kommentar
Sehr geehrte Damen und Herren,
erlauben sie mir bitte einige Anmerkungen zum wöchentlichen Newsletter vom 2.10.2017.
Zunächst einmal sollten Sie den korrekten Namen der sogenannten „Autonomiebehörde“ verwenden. Die heißt nämlich nicht Autonomiebehörde — das hieße trefflich Israel-Sprech übernehmen, denn von wem sollte sie autonom sein und ihre Autonomie erhalten haben? –, sondern Palestinian National Authority, was den Staatscharakter Palästinas unterstreicht.
Zum zweiten sollten Sie vorsichtig sein mit der Behauptung der autonomen Herrschaft selbst in den A-Gebieten. Auch dort ist und bleibt Israel der Besatzer, der die abschließenden Entscheidungen fällt, sollten ihm Beschlüsse der PNA nicht gefallen.
Drittens vergessen Sie zu erwähnen, daß „Oslo“ nur für eine Übergangszeit von fünf Jahren galt und nach Ablauf der Frist die Verhandlungen über eine endgültige Friedensregelung beginnen sollten. Das war 1998. Israel hat diese Gespräche mit seiner Siedlungspolitik unmöglich gemacht. Die Ursache dürfte in den Beschlüssen der israelischen Regierung während ihrer Sitzungen vom Juni 1967 zu suchen sein: Am 18.6.1967 wurde festgelegt, daß die Besetzen Gebiete, namentlich West Bank und Gazastreifen, von jeder künftigen Verhandlungen ausgeschlossen werden würden. Netanyhu kündigt also nicht eine neue Unverschämtheit an, sondern führt lediglich israelische Politik fort. (Nur wenige „Eingeweihte“ wissen, daß die Einführung der Emergency Regulations auf der West Bank und im Gazastreifen bereits ab Mitte 1963 geplant wurde und im Shacham-Plan mündete, der bereits im Mai 1967 an die künftigen Regionalgouverneure der israelischen Armee verteilt wurde, also einen Monat vor Beginn des Sechs-Tage-Kriegs.)
Viertens geht es bei Palästina nicht mehr um die Errichtung eines palästinensischen Staates — das wäre wieder Israel-Sprech –, sondern um die Verkündung seiner Unabhängigkeit. Die palästinensische Staatsangehörigkeit ist seit August 1925 in Kraft und beruhte auf den Festlegungen von Artikel 22 der Völkerbundstatuten und Artikel 7 des Mandats über Palästina. Daß Palästina von der Weltgemeinschaft als Staat betrachtet wird, finden wir in den schon in der Mandatszeit abgeschlossenen international gültigen Verträgen, der Mitgliedschaft in völkerrechtlich gültigen Konventionen sowie der Aufnahme in internationale Organisationen bestätigt, in denen nur Staaten Mitglied werden können, etwa Interpol, WHO oder der Erklärung Palästinas, daß es die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag anerkennen werde.
Beim Thema Korruption fehlt die sehr oft übersehene, aber immens wichtige Tatsache, daß die Finanzhoheit über Palästina bei Israel liegt. Es zieht die Steuern ein, die Zölle ebenfalls — und verdient an jedem Cent internationaler Hilfe mit. Israel verteilt Gelder, schreit aber in puncto Korruption am lautesten. Gut, Olmert nicht mehr. :o)
Hoffe, geholfen zu haben.
Mit freundlichem Gruß
André Wagner
Quellen:
John Quigley: „The Case for Palestine. An International Law Perspective“, (2nd edition)
John Quigley: „The Statehood of Palestine: International Law in the Middle East Conflict“
John Quigley – „The International Diplomacy of Israel’s Founders. Deception at the United Nations in the Quest for Palestine“
Ilan Pappé: „The Biggest Prison on Earth. A History of the Occupied Territories“
Henry Cattan: „Palestine and International Law“
Henry Cattan: „Jerusalem“