Krieg in Israel/Palästina
BIP-Aktuell #276:
- Al Aqsa Flut / Eiserne Schwerter
- EIN TAG IM LEBEN VON ABED SALAMA – Anatomie einer Jerusalemer Tragödie von Nathan Thrall, Rezension von James North
Palästinensische Streitkräfte griffen Israel am 7. Oktober an und überraschten die israelische Armee. Fast zweitausend Menschen wurden getötet, und zum ersten Mal in der Geschichte sind die meisten Opfer auf israelischer Seite zu beklagen. Während die israelische Gesellschaft von Wut und Rachegelüsten beherrscht wird, versagen der israelische Staat, die Wirtschaft, das Militär und die Medien. Die Weltöffentlichkeit ist in der Frage der Unterstützung oder Verurteilung des palästinensischen Widerstands und des israelischen Gegenangriffs gespalten.
Am frühen Morgen des 7. Oktober, der mit dem jüdischen Feiertag Sukkot zusammenfiel, starteten Palästinenser aus dem Gazastreifen einen koordinierten Überraschungsangriff auf Israel. Medienberichten zufolge wurde der Angriff von der Hamas orchestriert, aber auch andere Parteien wie der Islamische Dschihad haben sich daran beteiligt. Der Angriff begann mit einem Sperrfeuer von Tausenden von Raketen. Im Schutz der Raketen überflogen Paraglider die Verteidigungsanlagen um den Gazastreifen, Landstreitkräfte sprengten Löcher in den Sperrzaun, unter dem Sperrzaun hatten die Palästinenser Tunnel gegraben. In Booten und selbst schwimmend wurde Israel vom Meer aus angegriffen.
Kibbutz Beeri in der Nähe von Gaza nach dem Angriff. Quelle: 2023, Ashdodnet.com.
Der israelische Geheimdienst wurde völlig überrumpelt, und es gab nur wenige Militäreinheiten in dem Gebiet. Als palästinensische Kämpfer in die Städte und Kibbuzim rund um den Gazastreifen eindrangen, Soldaten und Zivilisten töteten und Geiseln nahmen, waren die Israelis in diesem Gebiet hilflos. Die Militäreinheiten brauchten mehrere Stunden, um das Gebiet zu erreichen und mehr als zwei Tage, bevor israelische Militäreinheiten die Städte und Kibbuzim zurückeroberten. Eine Open-Air-Party wurde angegriffen, wobei etwa 260 der jungen Leute getötet wurden. Die Parallelen zwischen dem militärischen Fiasko vom 6. Oktober 1973 vor fünfzig Jahren (siehe BIP-Aktuell #275) und dem vom 7. Oktober 2023 wurden in allen israelischen Medien wiederholt erwähnt. Andere haben es mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA verglichen. Die Hamas nannte ihren Angriff „Al-Aqsa-Flut“ und die israelische Regierung nannte den Krieg gegen die Palästinenser „Eiserne Schwerter“. Das militärische Machtungleichgewicht zwischen dem Besatzer Israel und dem besetzten Palästina bleibt bestehen, aber der Angriff hat gezeigt, dass die Kluft nicht so groß ist wie angenommen.
Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes sind über 1200 Israelis und über 1200 Palästinenser getötet worden. Die Krankenhäuser in Gaza und in Israel sind mit Verletzten überfüllt. Mehr als hundert israelische Geiseln wurden in den Gazastreifen verschleppt. Ihre Anwesenheit führte dazu, dass die israelische Armee bisher davon abgehalten wurde, den Gazastreifen zu bombardieren. Bis Mittwoch, 12. Oktober war es das erste Mal in der Geschichte des Staates Israel, dass es auf israelischer Seite mehr Opfer gab als auf arabischer. Das hat sich am Donnerstag morgen mit einer wahllosen Bombardierung von Wohngebäuden im Gazastreifen durch israelische Streitkräfte geändert. Die israelische Regierung setzt die Bombardierung des Gazastreifens fort und bereitet sich auf eine Bodeninvasion vor. Der Gazastreifen wird vollständig abgeriegelt – es dürfen weder Wasser, Lebensmittel noch Medikamente in den Gazastreifen gelangen. Dies stellt eine völkerrechtswidrige kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung dar, wodurch das Leben der gesamten Bevölkerung von Gaza gefährdet wird.
Die israelische Öffentlichkeit reagierte mit einer Mischung aus Panik, Hass und Rassismus. Die Medien benutzten das Wort „Palästinenser“ überhaupt nicht mehr und sprachen nur noch von „Terroristen“, als ob alle Palästinenser, auch die im besetzten Westjordanland und die Palästinenser in Israel, Terroristen wären (Quelle auf Hebräisch). Die Militärs erklärten, sie müssten das Gebiet um den Gazastreifen „säubern“, eine Terminologie, die wahlloses Töten impliziert. Der ehemalige Verteidigungsminister Avigdor Lieberman sagte sogar, dass der ganze Gazastreifen „gesäubert werden muss“ (Quelle auf Hebräisch). Premierminister Netanjahu erklärte den Krieg, obwohl die Palästinenser keinen souveränen Staat haben, dem Israel den Krieg erklären könnte. Zudem ist unklar, ob der israelische Premierminister ohne Zustimmung des Kabinetts überhaupt den Krieg erklären kann. Verteidigungsminister Yoav Galant, der erst kürzlich Deutschland besuchte, sagte, die Palästinenser seien „menschliche Tiere“. Diese rassistische Äußerung rief eine Reaktion des kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro hervor, der sagte: „Das ist, was die Nazis über die Juden gesagt haben.“ Aufrufe zum Völkermord an den Palästinensern sind schon seit langem weit verbreitet. Bewaffnete Bürgerwehrgruppen organisieren sich in binationalen Städten Israels wie Lod, Ramleh und Akre und rufen dazu auf, alle Araber zu töten. Auf dem großen Marktplatz von Jerusalem ist es palästinensischen Ladenbesitzern verboten, ihre Stände zu öffnen. Der Knessetabgeordnete der Likud-Partei Ariel Kallner rief zur „Nakba jetzt“ auf, und sein Likud-Kollege Tali Golib forderte einen Atomschlag gegen Gaza. Michal Cotler-Wunsh, die israelische Delegierte bei der EU für die Bekämpfung von Antisemitismus, schrieb, dass „es ein Krieg zwischen barbarischen Wilden und der Zivilisation ist, die das Leben und die Freiheit schätzt“. Die EU-Beauftragte für Antisemitismus, Katarina von Schnurbein, retweetete diese rassistische Botschaft.
Die Berichterstattung über die Kämpfe war und ist voll von Fehlinformationen und Fake News. Während pro-palästinensische Medien falsche Informationen über getötete oder gefangen genommene Israelis veröffentlichten, verbreiteten Israelis Fake News über „Verräter“ von der Linken, die angeblich den Hamas-Kämpfern die Tore öffneten. Die israelische Regierung verbreitete selbst Falschinformationen, indem sie behauptete, Netanjahu habe immer versprochen, die Hamas zu zerstören, obwohl er die Hamas-Partei unterstützt habe. Sein Zitat „Wer einen palästinensischen Staat verhindern will, muss die Hamas unterstützen“ wird von Journalisten gepostet, die sein Argument widerlegen (Quelle auf Hebräisch).
Die wirtschaftlichen Auswirkungen des palästinensischen Angriffs auf Israel sind enorm. Das System Iron Dome, das – wenn auch erfolglos – eingesetzt wird, um die Raketen aus dem Gazastreifen abzufangen, kostet Hunderte von Millionen Dollar. Internationale Fluggesellschaften weigerten sich aus Angst, in Israel zu landen, so dass Tausende nicht reisen konnten. Die Schulen in Israel waren geschlossen, ebenso die Geschäfte im ganzen Land. Die Logistik für Krankenhäuser, Supermärkte, Straßen und für das Militär funktioniert nicht richtig; die Menschen haben Schwierigkeiten, Lebensmittel zu kaufen. Die Krankenhäuser baten die Öffentlichkeit um Spenden von Eiern und Tomaten. Da die israelische Armee 300.000 Reservisten einberuft und sich auf einen Einmarsch von Bodentruppen in den Gazastreifen vorbereitet, ist der Haushalt nicht in der Lage, die Militärkosten zu decken (siehe BIP-Aktuell #182). Internationale Versicherungsunternehmen haben die Versicherungspreise für Israel wegen des Risikos um 58 % erhöht. Die israelischen Erdgasbohrplattformen wurden gestoppt, und die Ölpreise stiegen weltweit an.
Der Krieg führte sofort zu weltweiten Reaktionen. Während die westlichen Staaten, insbesondere die USA und Deutschland, Israel uneingeschränkt unterstützen und dabei die Rechte der Palästinenser und die Realität der Besatzung, die zu dem Krieg geführt haben, ignorieren, haben die arabischen Länder einen nuancierteren Ansatz gewählt. Die arabischen Staaten rufen zu einem Waffenstillstand auf und appellieren an die Hamas, die Angriffe einzustellen, aber auch an Israel, die Belagerung und die Besatzung zu beenden. Malaysia veröffentlichte eine Presseerklärung, die differenzierter ist als jede Erklärung eines westlichen Staates. China weigerte sich, den palästinensischen Angriff zu verurteilen. Die Vereinigten Staaten kündigten an, mehr Waffen an Israel zu liefern. Deutschland und Österreich haben innerhalb der EU den Versuch unternommen, die Hilfe für Palästina ganz einzustellen, ein weiterer Akt der kollektiven Bestrafung, der, wenn er angenommen wird, zum Zusammenbruch der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland führen und den Aufstand auch auf das Westjordanland ausweiten würde. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat dagegen am 11.10. klargestellt, dass die humanitäre Hilfe wie bisher gewährt wird.
Bombardiertes Wohngebäude in Gaza. Quelle: October 9th, Trong Khiem Nguyen, Flickr.
Die deutsche Regierung hat die Bemühungen der Palästinenser, mit friedlichen Mitteln Freiheit zu erlangen, nie unterstützt, weder durch die Forderung nach einer Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof, noch durch Tolerierung der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS). In einigen Städten wollen die Behörden propalästinensische Demonstrationen verbieten. Ob diese Verbote einer gerichtlichen Überprüfung standhalten, war bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt. Die deutschen Medien diffamieren die Palästinenser, indem sie behaupten, ”die” Palästinenser würden sich über die Morde „freuen“. Palästinenser stehen jetzt undifferenziert wieder am Pranger der veröffentlichten Meinung, auch wenn es sich bei ihnen um Menschenrechtsaktivisten handelt.
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BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden.
„EIN TAG IM LEBEN VON ABED SALAMA – Anatomie einer Jerusalemer Tragödie
von Nathan Thrall, Rezension von James North
Jahrelang haben aufmerksame Reporter erklärt, dass es eine Herausforderung ist, die Wahrheit über die israelische Besatzung Palästinas zu vermitteln. Manchmal, wie etwa im letzten Jahr, leisten die Palästinenser offen Widerstand – aber die US-Mainstream-Presse stellt diese Nachrichten gewöhnlich als „palästinensischen Terrorismus“ dar und vermeidet es, die Hintergründe zu erklären.
Thrall hat einen anderen Weg gewählt: Die zentrale Figur in seiner Geschichte ist Abed Salama, ein Vater, der in Anata lebt, einem abgesonderten palästinensischen Viertel im Großraum Jerusalem. Eines Morgens im Februar 2012 verabschiedet sich Abed von seinem 5-jährigen Sohn Milad, der auf einem Klassenausflug zu einem Picknick ist. Bald darauf erfährt Abed, dass der Bus, der Milads Kindergartenklasse transportiert, in einen schweren Unfall verwickelt war. Der Bus stand in Flammen, und wir verfolgen akribischdie Bemühungen von Abed, seiner Familie und anderen Eltern, herauszufinden, was mit ihren kleinen Kindern passiert ist. Im Laufe des Tages macht Thrall uns mit anderen Palästinensern und auch mit einigen Israelis bekannt. Durch sie vermittelt er ein umfassenderes Bild der israelischen Besatzung, als viele von uns Außenstehenden es vielleicht kennen.
Thralls Bericht ist eine außergewöhnliche Leistung. Das Herzstück seines Buches sind die Interviews mit Dutzenden von Menschen, die meisten von ihnen Palästinenser, von denen alle bis auf vier unter ihrem richtigen Namen erscheinen. Er brachte Menschen dazu, ihm zu vertrauen, die allen Grund haben, misstrauisch zu sein, und sie erzählten ihm außergewöhnliche Details aus ihrem Leben, darunter auch einige der schmerzhaftesten Momente, die sie vielleicht jemals erleben mussten.
Verkehrsunfälle können überall passieren. Aber Thrall erklärt auch in seiner charakteristischen, zurückhaltenden Art, wie die israelische Besatzung jeden Aspekt der Tragödie beeinflusst hat – die in einer normaleren und gerechteren Gesellschaft vielleicht gar nicht passiert wäre. Hier sind nur einige der Punkte, die er anspricht: Das System der Straßen-Apartheid im palästinensischen Westjordanland und die berüchtigte „Trennungsmauer“ zwingen den Bus voller Kindergartenkinder dazu, „einen langen, gefährlichen Umweg“ über eine „einzige, schlecht gewartete“ Straße zu nehmen, um zum Spielplatz zu gelangen; Palästinenser nannten sie bereits routinemäßig „die Todesstraße“. Israelische Militärkontrollpunkte verlangsamten die Ankunft von Rettungsfahrzeugen aus dem palästinensischen Gebiet, und auch die israelischen Besatzungsbehörden erschienen nicht rechtzeitig. Thrall stellt fest:
Jeder wusste, wie schnell die israelischen Streitkräfte eine Straße im Westjordanland stürmen würden, sobald ein [palästinensisches] Kind anfängt, Steine [auf israelische Soldaten oder Siedler] zu werfen. Doch die Soldaten an den Kontrollpunkten, die Truppen auf dem Stützpunkt Rama, die Feuerwehrautos in den nahe gelegenen Siedlungen – sie alle haben nichts unternommen und den Bus mehr als eine halbe Stunde lang brennen lassen.“
Thrall stellt uns Menschen jenseits von Abed Salamas unmittelbarer Familie vor, darunter Huda Dahbour, eine palästinensische Ärztin, die das Busunglück mitbekam und versuchte, den Opfern zu helfen; Ibraham Salama, ein palästinensischer Führer (und ein Cousin von Abed), der – meist erfolglos – versucht, mit den israelischen Behörden zusammenzuarbeiten, um die Besatzung zu erleichtern; und junge Palästinenser, die Widerstand geleistet haben und oft jahrelang ohne Gerichtsverfahren inhaftiert wurden. Thrall weist darauf hin, dass Israel während der ersten Intifada (1987-1993) rund 700.000 Palästinenser verhaftet hat, „das entspricht etwa 40 Prozent aller Männer und Jungen in den Gebieten“. Er fügt hinzu:
Der Schaden war nicht nur für die betroffenen Familien, die alle um verlorene Jahre und verlorene Kindheiten trauern. Er betraf die gesamte Gesellschaft, jede Mutter, jeden Vater und jedes Großelternteil, die alle wussten oder erfahren würden, dass sie ihre Kinder nicht schützen konnten.
Man beendet dieses Buch mit der Überzeugung, dass die „Zweistaatenlösung“ seit vielen Jahren ein geschmackloser schlechter Scherz ist. Das Buch enthält eine Reihe von Karten, die zeigen, wie israelische „Siedlungen“, Apartheidstraßen und die Trennmauer (die 3 Milliarden Dollar gekostet hat) wie beabsichtigt die Chance zerstört haben, dass die Palästinenser irgendetwas aufbauen können, das einem Staat ähnelt. Thrall erklärt gleich zu Beginn, dass nach der Eroberung des Westjordanlandes durch Israel im Junikrieg 1967 :
. … die Demographie und Geographie der besetzten Gebiete wurden von Israel verändert, das eine Reihe von Maßnahmen ergriff, um sie zu judaisieren. In Anata beschlagnahmte die Regierung das Land Stück für Stück, erließ Hunderte von Abrissverfügungen, schloss einen Teil der Stadt an Jerusalem an, errichtete eine Trennmauer um das Stadtzentrum und konfiszierte den Rest, um vier [ausschließlich jüdische] Siedlungen, einen Militärstützpunkt und eine abgetrennte Autobahn zu errichten, die in der Mitte durch eine weitere Mauer geteilt wurde, die den Siedlern die Sicht auf den palästinensischen Verkehr versperrte.“
Heute gibt es schätzungsweise 700.000 israelische „Siedler“ im Westjordanland und im besetzten Jerusalem. Sie werden nicht abziehen.
AIPAC und der rechte Flügel der Israel-Lobby werden Thralls Buch entweder ignorieren oder verdrehen, um es zu widerlegen. Aber A Day in the Life of Abed Salama ist eine Herausforderung für liberale Zionisten – und für alle anderen, die nicht verstehen, wie schrecklich die israelische Besatzung wirklich ist. Wenn sie es lesen, und wenn sie ehrlich sind, werden sie sich ändern.“
https://mondoweiss.net/2023/10/nathan-thrall-has-written-a-masterpiece-about-israels-occupation/?ml_recipient=101221792884982882&ml_link=101221579723113540
Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.