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Zwei Berichte über Redner der BIP-Konferenz in Nürnberg

BIP-Aktuell #309:

  1. Interview mit Francesca Albanese Interview – Raz Segal verliert Jobangebot
  2. Adalah: Bezirksgericht genehmigt die Zwangsumsiedlung des Beduinendorfs Ras Jrabah

Diese Woche enthält BIP Aktuell zwei Teile, die sich beide auf die BIP-Konferenz beziehen, die im Mai in Nürnberg stattfand. Der erste Teil ist ein Interview mit Francesca Albanese, der zweite ein Bericht über die Universität von Minnesota, die Prof. Dr. Raz Segal eine leitende Stelle verweigerte – ein Akt der politischen Repression und Zensur.

Das folgende Interview wurde von Mario Damolin auf der BIP-Konferenz mit Francesca Albanese, Sonderberichterstatterin der UN für die besetzten palästinensischen Gebiete, geführt. Es wird hier mit seiner Erlaubnis veröffentlicht:



UN-Sonderberichterstatterin für die Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten Francesca Albanese. Quelle: 2022, Wikipedia.


Die Choreografie der Heuchelei
Ende Mai fand in Nürnberg die Dritte Internationale Konferenz des „Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern“ (BIP) statt. Thema: „Koloniale Gewalt und der Weg zur Gerechtigkeit“. Vor nahezu 200 Teilnehmern sprachen Referenten aus Israel, Palästina, USA, England und Deutschland. Anwesend war auch Francesca Albanese, die UN-Sonderberichterstatterin für Palästina und die besetzten Gebiete. Die promovierte Völkerrechtlerin referierte über das Thema: „Was kann die UNO für die Menschen in Israel/Palästina tun?“

FrageAls UN-Sonderberichterstatterin für die Menschenrechtslage in den Palästinensischen Gebieten stehen Sie mitten im Scheinwerferlicht einer weltpolitischen Krisenlage, in der man sehr oft zwischen Lüge und Wahrheit nur schwer unterscheiden kann. Es gibt im Deutschen ein Sprichwort, das ungefähr so lautet: „Je größer die Lüge, desto unsichtbarer wird sie.“ Kennen Sie dieses System in Ihrer politischen Arbeit?

Albanese: Oh ja, das kenne ich. Kenne ich gut. Für die Arbeit im politischen Feld ist es das, was ich „Truman-Show“ nenne, und was im gleichnamigen Hollywood-Film exemplarisch vorgeführt wird: die Inszenierung tatsächlichen Lebens als Reality-Show. Anders gesagt: die Konstruktion einer parallelen Realität. Konkret etwa im Verhältnis Deutschland – Israel. Ich will da nur in aller Bescheidenheit anmerken, dass in Deutschland, genauer in der deutschen Politik, ein Narrativ über Israel besteht, das mit der Realität dort und in den palästinensischen Gebieten nichts zu tun hat. In Deutschland wird dauernd die Holocaust-Karte gezogen, dauernd wird eine Geisteshaltung beschworen, die dieses deutsche Schuldbewusstsein stimuliert. Und deshalb halte ich gerade in Deutschland diese Auseinandersetzung für sehr wichtig, und deshalb komme ich auch zu dieser Konferenz des „Bündnisses für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern“.

FrageEin nicht unwichtiger Teil dieser Stimulierung wird auch von den Medien im Lande getragen…

Albanese: ….der Journalismus hat bisher versagt, die akademische Welt verstummt oder verhindert ein Engagement, die Zivilgesellschaft ist zum Teil merkwürdig befangen, nur die Jungen mucken auf. Es war für mich ein Schock mitzubekommen, wie die deutsche Polizei grob und brutal mit Protestierenden umging, die Solidarität mit Palästina forderten. Solidarität mit Menschen aus Palästina heißt doch nicht automatisch Feindschaft gegenüber israelischen Menschen. Es ist hier schon so, dass man den Kopf in den Sand steckt und die Realität nicht sehen will. Und ich sehe diese katastrophale, mörderische Realität jeden Tag, ob in Gaza oder in der Westbank. Wir müssen gegen die herrschende Ignoranz kämpfen, gerade auch in Deutschland.

Frage: Irgendwie hat es den Anschein, dass gerade in Deutschland wieder diese Lebenslügen aufbrechen, die vorgeben, die böse Vergangenheit doch bewältigt zu haben und damit auf der guten Seite zu stehen….

Albanese:…Sie sagen Lebenslügen, ich meine Traumata. Wenn ich die These wagen darf: Gerade viele Deutsche haben offenbar das Trauma nicht genug bearbeitet, was sie im „Dritten Reich“ angerichtet haben, die Vernichtung der Juden. Und auf der anderen Seite gibt es eine Lebenslüge, wie Sie das nennen, der jüdisch-israelischen Mehrheit, die einfach nicht wahrhaben will, was sie seit Jahrzehnten den Palästinensern antut, von Massakern bei der Staatsgründung über dauerhafte ethnische Säuberungen und Vertreibung bis hin zu steigender Gewalt in der Westbank durch einen brutalen Siedlerkolonialismus und dem derzeitigen massenhaften Mord an Frauen und Kindern in Gaza. Ich bezeichne das, und übrigens nicht nur ich, als Völkermord. Südafrika und andere Staaten haben ja in diese Richtung reagiert. Für mich als Juristin, spezialisiert auf Völkerrecht, die ich dieses ganze Elend vor Augen habe, ist völlig klar: Sollte der jüdischen Mehrheit in Israel je einmal aufgehen, was da wirklich passiert ist, wie die Existenzgrundlage und die Kultur der Palästinenser systematisch zerstört und vernichtet wird, hat das am Ende verheerende psychologische Folgen in dieser Gesellschaft.

Frage: Wie beeinflussen denn diese Lebenslügen Ihre Arbeit als Sonderberichterstatterin bei der UN?

Albanese: Diese Lebenslügen haben vor allem in den westlichen Staaten, aber auch in Israel zu einer enormen Heuchelei geführt, gegen die ich täglich kämpfen muss. Und mein Part in dieser „Truman Show“, um darauf zurückzukommen, ist eben, diese Choreografie der Heuchelei zu demaskieren oder zu stören…

Frage:…in Teilen der deutschen Presse, aber auch international werden Sie deshalb auch als „BDS-Ikone“, Antisemitin oder gar als Hamas-Unterstützerin geschmäht, besonders von der deutschen Springer-Presse. Trifft Sie das, wie gehen Sie damit um?

Albanese: Das ist natürlich schmerzhaft, aber auch einigermaßen lächerlich. Gerade für mich, die ich mit den Büchern von Primo Levi groß geworden bin. Wie soll ich etwa Hamas-Unterstützerin sein, wenn diese terroristische Gruppe jene Palästinenser unterdrückt, benutzt und ausbeutet, deren Interessen ich zu vertreten habe, für deren Menschenrechte und Menschenwürde ich einzutreten habe? Die Palästinenser waren die ersten Opfer dieser diktatorischen Hamas-Politik. Diese Verleumdungen, dieser Schmutz mir gegenüber, das sind alles Kampagnen, die vor allem der israelischen Regierung dienen und von deren politischen und medialen Freunden losgetreten werden. Das ist alles Einschüchterung.

FrageIsrael ist offensichtlich weder durch UN-Resolutionen noch durch Anordnungen des Internationalen Gerichtshofes (IGH) zu bewegen, von seiner Gewaltpolitik abzurücken. Im Gegenteil: die Tötungen gehen weiter. Das Völkerrecht wird permanent verletzt, eigentlich wird das Völkerrecht in dieser konkreten Auseinandersetzung seit Jahrzehnten von Israel permanent außer Kraft gesetzt. Dagegen gibt es überall auf der Welt Demonstrationen.

Albanese: Die vielen jungen Demonstranten überall auf der Welt waren und sind ganz konkret in ihren Forderungen nach Anwendung des Internationalen Rechts. Sie sind dann aber auch meist mit dieser Heuchelei konfrontiert, die Israel einfach machen lässt, was es will. Der israelische Ex-Diplomat Daniel Levy hat einmal gesagt: „Wir müssen die generelle Straflosigkeit, die Israel bei all seinen Aktivitäten zugestanden wird, im Auge haben – und den daraus wachsenden Extremismus innerhalb und außerhalb der israelischen Gesellschaft.“ Wir müssen in der Implementierung des Internationalen Rechts beharrlich sein – und zwar zugunsten von Israelis und Palästinensern. Und wir müssen nicht nur die jüdische Geschichte zu verstehen versuchen, sondern auch die Geschichte der Palästinenser mit all ihrer Unterdrückung, Rechtlosigkeit, mit zwölf bewaffneten Auseinandersetzungen seit 1948. Wir müssen darauf hinarbeiten, dass ein Verständnis beider Parteien für einander entsteht.

FrageDas ist leichter gesagt als getan. Die Traumata beider Seiten sind so groß, dass man doch den Eindruck haben kann: dieser Konflikt ist letztlich unlösbar.

Albanese: Ja, es scheint so, aber diese Traumata werden durch die aktuellen Ereignisse – das schreckliche Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 und die darauf folgende genozidale Reaktion des israelischen Militärs – noch befeuert. Das alles muss aufhören, sofort. Eine israelische Kollegin sagte mir vor kurzem bei einer Reise durch das Land: Der Holocaust ist passiert, wir sind verfolgt und umgebracht worden, das ist historisch anerkannt; und wir müssen diese Erinnerung hochhalten; jetzt können wir neu anfangen, können reflektieren, wie wir gelitten haben. Nur könnten die Palästinenser das eben nicht, denn ihre Geschichte sei im Westen kein Thema, sie seien nicht in der Lage, ihre Geschichte zu historisieren. Sie erleben das heute als Fortsetzung der „Nakba“ 1948, die ethnische Säuberung Palästinas, und sie stehen da, mit nichts in der Hand.

FrageViele Israelis sehen das Thema Nakba, die Vertreibung von 750 000 Palästinensern aus ihren Dörfern, völlig anders: die seien freiwillig gegangen, auf Anordnung ihrer Führer, oder: das Land sei eh von Gott den Juden versprochen etc. Da prallen unterschiedliche Geschichtsschreibungen aufeinander.

Albanese: Man sollte sich ehrlich machen. Der radikale Zionist Wladimir Jabotinsky oder auch Staatsgründer David Ben-Gurion haben immer wieder von „Kolonisierung“ Palästinas gesprochen. Von Jabotinsky ist folgendes Zitat überliefert: „Habt ihr je einmal indigene Menschen gesehen, die nicht revoltiert haben, wenn man ihnen ihr Land weggenommen hat?“ Wir haben es hier also mit Siedler-Kolonialismus zu tun, ein Begriff, der sowohl von der zionistischen Nomenklatura als auch ihren Verbündeten, etwa auch Deutschland, strikt abgelehnt wird.

FrageGlauben Sie denn, dass über diese historisch definierten Klippen eine Verständigung in naher Zukunft möglich sein wird? Dass etwa die Israelis ihre eindeutig dominante – und vor allem militärisch begründete – Stellung aufgeben werden?

Albanese: Das kann ich nur hoffen. Es gibt ein Buch der vom Europäischen Parlament mit dem Sacharow-Preis ausgezeichneten israelischen Sprachwissenschaftlerin Nurit Peled-Elhanan mit dem Titel „Palästina in israelischen Schulbüchern. Ideologie und Propaganda in der Erziehung“. In dieser luziden und akribischen Studie beschreibt die Autorin in aller Drastik, wie in Israel die Schüler indoktriniert, gegenüber Palästinensern positioniert, rassistische Theoreme verbreitet werden und so eine „jüdische Identität“ geformt wird. Eine erschreckende Analyse, da kann einem schon jede Hoffnung für eine friedliche Zukunft dort abhanden kommen. Mit dieser Indoktrination gehen die jungen Leute dann zum Militärdienst, vielleicht in die besetzten Gebiete, und da muss man sich nicht wundern, welche Grausamkeiten dort geschehen.

FrageDie meisten israelischen Medien, vor allem das Fernsehen, berichten sehr tendenziös über den Krieg. Man hört, dass viele Leute gar nicht wissen oder wissen wollen, was da im aktuellen Krieg vor sich geht. Wie können die Israelis aus dieser verfahrenen Situation befreit werden?

Albanese: Ja, es gibt eine spezifische Blindheit in der israelischen Gesellschaft. Aber meine Antwort auf ihre Frage ist ziemlich einfach: Die internationale Gemeinschaft muss nur genügend Druck auf Israel ausüben, um die Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs auch glaubwürdig zu vertreten und durchzusetzen. Und konkret bedeutet das auch, Sanktionen gegen Israel zu verhängen, um dieses Land auf die Ebene des Internationalen Rechts zu bringen. Und natürlich muss man verhandeln.

Frage: Wie Sanktionen etwa gegen Russland wirken, weiß man jetzt. Sie sind offenbar ziemlich erfolglos.

Albanese: Israel ist ein anderer Fall. Das Land ist stark abhängig vom Westen mit all seinen Erfindungen im technologischen, sicherheitsrelevanten und KI-Bereich. Bei einer Einigkeit im Westen würde das bestimmt Wirkung zeigen.

Frau Albanese, wir danken für das Gespräch.



Prof. Dr. Raz Segal. Quelle: 2017, Scholarly Commons.


Ein anderer Redner der BIP-Konferenz, Prof. Dr. Raz Segal von der Stockston University in New Jersey, Historiker und Experte für die Erforschung von Völkermord, wurde angegriffen, weil er seine moralisch und akademisch begründete Meinung geäußert hat. Nach einem strengen und transparenten Auswahlverfahren wurde Segal eine leitende Position an der Universität von Minnesota angeboten. Zusätzlich zu einer Professur wurde Segal angeboten, Direktor des Zentrums für Holocaust- und Völkermordstudien (CHGS) der Universität Minnesota zu werden.

Aufgrund des Drucks von Spendern, die mit Segals Analyse, nach der Israel im Gazastreifen einen Völkermord begeht, nicht einverstanden waren – ein Argument, das er in seinem Artikel für Jewish Currents erläuterte: A Textbook Case of Genocide (Ein Lehrbuchfall von Völkermord) darlegte, zog die Universität das Angebot an Segal zurück. Dies hat in den USA einen Skandal ausgelöst, und Hunderte von Professoren haben sich in einem Schreiben an die Universität von Minnesota über diesen Akt der akademischen Zensur empört.

Wie Segal selbst in einem Interview für Democracy Now erklärte, hing die Entscheidung, das Stellenangebot zurückzuziehen, mit seiner Identität als Jude zusammen, und zwar aufgrund der Erwartung, dass er als Jude seine Unterstützung für den Zionismus und den Staat Israel zum Ausdruck bringen müsse, sonst  habe er die Folgen zu tragen. Eine solche Erwartung in Verbindung mit dem Widerruf des Angebots für eine akademische Stelle ist ein antisemitischer Akt. Es handelt sich um die Art von Antisemitismus, die in Deutschland häufig Juden unterstellt wird, die bestraft werden, wenn sie sich nicht an die von ihnen erwarteten politischen Ansichten halten (siehe BIP-Aktuell #145).

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Werde Mitglied im Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e.V. (BIP) und unterstütze unsere Arbeit. Jahresbeitrag für stimmberechtigte ordentliche Mitglieder
150 €, für Fördermitglieder 100 €. 
Ein Aufnahmeantrag ist  an den Vorstand zu stellen: info@bip-jetzt.de.
Weitere Informationen: www.bip-jetzt.de
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BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden. dfsf

Die palästinensische Menschenrechtsorganisation Adalah (Vorsitzender Dr. Hassan Jabareen, Redner auf der 3. Internationalen Nürnberger BIP-Konferenz), berichtete am 6.6.2024:
Bezirksgericht genehmigt die Zwangsumsiedlung des Beduinendorfs Ras Jrabah

„Obwohl das Gericht anerkannte, dass die Bewohner seit mindestens 1978 auf dem Land wohnen durften, ordnete es an, dass die gesamte Bevölkerung von über 500 Bewohnern ihre Häuser abreißen und das Dorf bis Ende 2024 räumen muss. Die Zwangsumsiedlung von Ras Jrabah, einem Dorf, das schon vor der Gründung des Staates Israel bestand, soll Platz für die Erweiterung der jüdischen Stadt Dimona im Negev schaffen.
Am 3. Juni 2024 wies das Bezirksgericht Be’er Sheva die Berufung von Adalah gegen eine Entscheidung der unteren Instanz ab, mit der die Zwangsumsiedlung der gesamten Bevölkerung des Beduinendorfs Ras Jrabah in der Naqab (Negev, Südisrael) mit über 500 Personen genehmigt wurde.

In der Berufung, die am 9. Januar 2024 von der Adalah-Anwältin Myssana Morany eingereicht wurde, wird argumentiert, dass die im Juli 2023 ergangene Entscheidung des Bezirksgerichts, zehn Räumungsklagen des Staates gegen alle Bewohner von Ras Jrabah zu genehmigen, die Segregation unterstützt und die grundlegendsten Rechte der Bewohner verletzt. Nach Ansicht von Adalah wird diese Verletzung durch den Grund für die Versuche des Staates, die Bewohner von Ras Jrabah – die einer nationalen Minderheit angehören und in ihrem Heimatland leben – zu vertreiben, noch verschärft, nämlich um Platz für einen neuen Stadtteil der jüdischen Stadt Dimona zu schaffen. Es handelt sich also um eine eindeutige rassistische Diskriminierung, die sowohl nach israelischem als auch nach internationalem Recht verboten ist. Adalah hat die Bewohner von Ras Jrabah während des gesamten Gerichtsverfahrens vertreten.

Nach einer Anhörung am 29. Mai 2024 stimmte das Bezirksgericht mit dem Amtsgericht überein und erkannte an, dass die Bewohner von Ras Jrabah seit mindestens 1978, also seit fast 50 Jahren, in dem Dorf wohnten. Anders als das Amtsgericht entschied das Bezirksgericht jedoch, dass die Beschwerdeführer ein stillschweigendes Recht hatten, sich auf dem Grundstück aufzuhalten, und keine unbefugten Eindringlinge waren. Dieses Recht, so das Bezirksgericht, ergebe sich daraus, dass die israelische Landbehörde von dem jahrzehntelangen Aufenthalt der Dorfbewohner auf dem Grundstück wusste und in dieser Zeit keine Maßnahmen gegen sie ergriffen habe. Das Gericht stellte jedoch auch fest, dass dieses Recht jederzeit vom Eigentümer des Grundstücks widerrufen werden kann, was nach dem israelischen System für öffentliches Land der Staat ist. Somit wurde das Recht aufgehoben, als die israelische Landbehörde (ILA) Räumungsbescheide verschickte und Klagen gegen die Bewohner von Ras Jrabah einreichte.

Das Gericht stellte ferner fest, dass der Rat der  israelischem Landbehörde Beduinen Grundstücke ohne Bieterverfahren zuweisen kann, allerdings nur innerhalb von Beduinendörfern und- städten. Infolgedessen entschied das Gericht, dass die Behörde den Bewohnern von Ras Jrabah keine Grundstücke im neuen Stadtteil Dimona zuteilen darf, der auf den Ruinen des Beduinendorfes errichtet werden soll.

Adalah argumentiert, dass diese Entscheidung das Ausmaß der Segregation in Israel verdeutlicht: Nach dieser Entscheidung können sich die Regierungsbehörden weigern und sogar behaupten, nicht befugt zu sein, die Integration von Beduinen in jüdische Städte in Erwägung zu ziehen, was zur Folge hat, dass sie zwangsweise in Beduinendörfer umgesiedelt werden. Diese Politik verfestigt die systematische Segregation und zielt darauf ab, die beduinische Bevölkerung auf ein minimales Gebiet in ausschließlich beduinischen Städten zu konzentrieren.

Das Gericht wies die Behauptung von Adalah, es handele sich um Segregation, mit der Begründung zurück, dass ’die Beschwerdeführer wie jede andere Person berechtigt sind, sich an den Geboten für den Kauf von Grundstücken in der Nachbarschaft zu beteiligen, die auf dem Land gebaut werden sollen. Daher gibt es keine Grundlage für die Behauptung einer Ungleichbehandlung gegenüber anderen potenziellen Bewohnern, die sich ebenfalls um die Teilnahme an diesen Ausschreibungen bemühen.” Das Gericht stellte somit fest, dass es keine rassistische Trennung gebe, allein aufgrund der Tatsache, dass Personen aus Ras Jrabah nicht daran gehindert werden, Land in dem neuen Stadtteil von Dimona zu erwerben, der auf den Ruinen ihres Dorfes errichtet werden soll.

Das Gericht zitierte eine Aussage des Koordinators der Beduinenbehörde über den Ort, an den die Beschwerdeführer umgesiedelt werden sollen: ´Zunächst einmal werfen wir niemanden auf die Straße, egal ob wir Vereinbarungen oder Meinungsverschiedenheiten haben… Niemand wird auf die Straße geworfen, bis eine Lösung gefunden ist. Das Letzte, was die Beduinenbehörde will, ist, Menschen auf die Straße zu setzen.’ Diese Aussage ist äußerst irreführend. Tatsächlich ist die Beduinenbehörde speziell damit beauftragt, Beduinen zu vertreiben und sie in verarmte, ausschließlich von Beduinen bewohnte Gemeinden umzusiedeln. In vielen Fällen führt sie den Abriss von Häusern durch, ohne dass vereinbarte Alternativunterkünfte bereitgestellt werden. Allein im Jahr 2023 rissen die staatlichen Behörden 3.283 Gebäude ab, darunter viele Wohnhäuser, und machten mehr als 300 Bewohner obdachlos. Zuletzt wurden im Mai 2024 alle 75 Gebäude im Beduinendorf Wadi al-Khalil, darunter 47 Wohnhäuser, abgerissen, so dass mehr als 300 Bewohner ohne Wohnung bleiben.

Unmittelbar nach dem Urteil des Bezirksgerichts reagierte die ILA auf wiederholte Anfragen von Bimkom – Planners for Planning Rights im Namen der Bewohner von Ras Jrabah, die über ihre Integration in das neue Stadtviertel Dimona verhandeln wollten. In der Antwort der ILA hieß es, dass es derzeit keinen Raum für Diskussionen in dieser Angelegenheit gebe, da die Entscheidung des Gerichts selbsterklärend sei.

Hintergrund:

Ras Jrabah umfasst eine Fläche von 340 Dunam (ca. 84 Hektar) Land, das den Mitgliedern des Al-Hawashleh-Stammes gehört, die dort seit Generationen leben. Ras Jrabah grenzt an die jüdische Stadt Dimona, die auf dem Land des Al-Hawashleh-Stammes errichtet wurde. Die Bewohner von Ras Jrabah – vertreten durch Adalah – wehren sich seit Mai 2019 gegen die Versuche des Staates, sie zu vertreiben. Damals reichte die ILA zehn Räumungsklagen gegen die Bewohner ein und forderte sie auf, ihre Häuser zu verlassen. Die Räumung wird damit begründet, dass die nahe gelegene jüdische Stadt Dimona auf dem Land von Ras Jrabah erweitert werden soll. Den Bewohnern wurde nur eine einzige Möglichkeit angeboten: die Umsiedlung in die nahe gelegene Beduinenstadt Qasr Al-Sirr.

Das Gericht entschied, die Räumungsklagen im Juli 2023 zu genehmigen. In ihrer Berufung argumentierte Adalah, dass das Gericht einen schweren Fehler begangen habe, als es zu dem Schluss kam, dass die Bewohner von Ras Jrabah keinen rechtmäßigen Anspruch auf das Land hätten. Obwohl das Gericht anerkannte, dass das Dorf nach seiner Einschätzung seit 45 Jahren an genau diesem Ort existiert, und ungeachtet der späteren Entwicklung des Dorfes, wurde in dem Urteil unerklärlicherweise davon ausgegangen, dass sich die Bewohner unrechtmäßig in ihren Häusern aufhalten, und sie wurden als Eindringlinge und nicht als Mitglieder einer seit langem bestehenden Gemeinschaft dargestellt.

Im Jahr 2022, noch vor der Entscheidung des Gerichts, äußerten sich UN-Menschenrechtsexperten besorgt über die Zwangsräumung von Ras Jrabah. Sie stellten fest, dass ´etwa 500 Beduinen im Dorf Ras Jrabah, das von den israelischen Behörden nicht anerkannt wird, unmittelbar von der Räumung bedroht sind`, und forderten die israelischen Behörden auf, ´die Räumungen und den Abriss von Häusern, die der traditionellen Lebensweise der Beduinen, ihrem Lebensunterhalt, ihren kulturellen Praktiken und ihrer Beziehung zu ihrem Land irreparablen Schaden zufügen könnten, unverzüglich einzustellen`“. https://www.adalah.org/en/content/view/11130


Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.

Tag: 25. Juni 2024