Der Bericht von Amnesty International ist ein Wendepunkt in der Diskussion über Israel/Palästina
Der Bericht von Amnesty International ist der sechste in einer Reihe von Berichten, die beweisen, dass die israelischen Behörden das Verbrechen der Apartheid gegen die Palästinenser begehen. Der Bericht verbindet eine historische mit einer juristischen Analyse und endet mit klaren Schlussfolgerungen, in denen ein Waffenembargo gegen Israel und die Einleitung einer Untersuchung durch den Internationalen Strafgerichtshof gefordert werden.
Die weltweit größte Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat am 1. Februar einen umfangreichen Bericht veröffentlicht, in dem sie den Staat Israel beschuldigt, das Verbrechen der Apartheid zu begehen. Der Bericht, für den vier Jahre recherchiert wurde, ist 280 Seiten lang und beschreibt detailliert die Art und Weise, wie die israelischen Behörden Apartheid ausüben.
Amnesty International reiht sich mit seinem Bericht in eine Liste von sechs Berichten über das vom Staat Israel begangene Verbrechen der Apartheid ein. Der erste aus dem Jahr 2017 war der zensierte UN-ESCWA–Bericht, der von zwei Professoren für internationales Recht, Prof. Richard Falk und Prof. Virginia Tilly, verfasst wurde. Der zweite Bericht wurde von der israelischen Organisation Yesh Din im Jahr 2020 veröffentlicht und ist der einzige der sechs Berichte, der sich nur auf das Westjordanland konzentriert. Der dritte wurde von Al-Haq veröffentlicht, der größten palästinensischen Menschenrechtsorganisation, die von der israelischen Regierung ohne Beweise des Terrorismus beschuldigt wird (siehe BIP-Aktuell #193). Der vierte Bericht wurde von der größten israelischen Menschenrechtsorganisation B’tselem im Januar 2021 (siehe BIP-Aktuell #154) und der fünfte Bericht von Human Rights Watch im April 2021 veröffentlicht (siehe BIP-Aktuell #169).
Der Bericht von Amnesty International bestätigt, dass die Menschenrechtsbewegung nicht nur in Israel/Palästina, sondern in der ganzen Welt inzwischen davon überzeugt ist, dass das Verbrechen der Apartheid von der israelischen Regierung begangen wird. Der israelische Außenminister Yair Lapid sagte im Januar, im Jahr 2022 werde der Kampf gegen die Apartheiddefinition geführt, aber schon im Februar scheint es, dass Israel den Kampf verloren hat. Da Amnesty International im Gegensatz zu den ersten fünf Organisationen eine eher pro-westliche und pro-amerikanische Organisation ist, ist die klare Botschaft dieser Organisation zur israelischen Apartheid ein Wendepunkt in der Diskussion.
Der Bericht von Amnesty International konzentriert sich, wie auch der Bericht von Human Rights Watch, auf die Frage der Intention der israelischen Apartheidpolitik. Der Bericht beschränkt sich nicht auf die Wiedergabe einer langen Liste von Beispielen, wie Palästinenser seit der Gründung des Staates Israel von den israelischen Behörden diskriminiert, benachteiligt, vertrieben und getötet wurden, denn Rassismus und Diskriminierung gibt es in vielen Ländern der Welt. Ein Staat ist dann ein Apartheidstaat, wenn diese Ungerechtigkeiten Teil einer vorsätzlichen Strategie sind, die auf die rassistische Vorherrschaft einer Gruppe über eine andere abzielt.
Daher konzentriert sich der Bericht von Amnesty International vor allem auf die Politik der ethnischen Säuberung seit der Gründung des Staates Israel und die Verweigerung des Rechts auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge, während alle Juden der Welt das Recht erhalten, automatisch israelische Staatsbürger zu werden. Der Bericht belegt die Schaffung getrennter Rechtssysteme für Palästinenser und Juden, die mit der Militärherrschaft über palästinensische Bürger Israels zwischen 1948 und 1966 begann und mit dem Nationalstaatsgesetz 2018 ihren Höhepunkt erreichte (siehe BIP-Aktuell #27).
Diese Fokussierung auf die Geschichte der Apartheid ist aus juristischen Gründen wichtig, um nachzuweisen zu können, dass die Apartheids-Massnahmen vorsätzlich ergriffen wurden. Das hat jedoch die meiste Kritik auf sich gezogen, weil Amnesty International auch Verbrechen aus der Vergangenheit erwähnt, die nicht mehr praktiziert werden wie zur Zeit der Militärherrschaft über die palästinensischen Bürger Israels bis zum Jahr 1966. Saleh Hijazi von Amnesty Internationalerklärte, ein weiterer Grund für die Analyse der Ursachen der Apartheid bestehe darin, das Leiden der Palästinenser zu dokumentieren, die sie seit 74 Jahren zu ertragen haben.
Die Zerstörung von Häusern, die Konfiszierung von Eigentum in Ostjerusalem, ein getrenntes Ausweissystem, das Juden von Palästinensern trennt, die Ermordung von Zivilisten ohne Rechenschaftspflicht und die Administrativhaft gehören zu den in dem Bericht aufgeführten spezifischen Verbrechen, die nur dann als Apartheidverbrechen eingestuft werden, wenn sie zu einer systematischen Politik mit der Intention kombiniert werden, die Vorherrschaft einer Gruppe über eine andere zu errichten. Das belegt Amnesty International mit Zitaten von israelischen Politikern.
Der Bericht endet mit vier klaren Empfehlungen:
Erstens fordert Amnesty International die israelische Regierung auf, den Palästinensern die gleichen Rechte wie den Juden zuzuerkennen und das Völkerrecht zu achten. Zweitens wird ein Waffenembargo gegen Israel gefordert, solange das Verbrechen der Apartheid fortbesteht. Drittens fordert der Bericht rechtliche Schritte gegen den Staat Israel, insbesondere vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Der IStGH hat eine Untersuchung gegen Israel wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeleitet (siehe BIP-Aktuell #157), nicht aber wegen Apartheid, obwohl sie im Römischen Statut des IStGH aufgeführt ist. Abschließend ruft Amnesty International alle Regierungen und Privatunternehmen dazu auf, sich ihrer eigenen Verantwortung bewusst zu werden und sich nicht an diesem Verbrechen zu beteiligen.
Latuff-Karicatur aus 2009.
Die Reaktion der israelischen Regierung auf den Bericht wurde vom Haaretz-Journalisten Anschel Pfeffer als „hysterisch“ bezeichnet. Erstens ließ die israelische Regierung den mit einer Sperrfrist belegten Bericht durchsickern, um zu versuchen, ihn schon vor der Veröffentlichung zu delegitimieren mit der Konsequenz, dass von Organisationen, die die israelische Politik kritisieren, keine Stellungnahme der israelischen Regierung mehr erwartet werden kann. Die Regierung beschuldigteAmnesty International natürlich des Antisemitismus. Sie geht jedoch nicht auf die Tatsachen ein, mit denen im AI-Bericht die Apartheid belegt wird.
Außenminister Yair Lapid benutzte ein typisches „Whataboutism“-Argument, als er Amnesty International vorwarf, keine ähnlichen Anschuldigungen gegen Syrien und Iran zu erheben. Zu Unrecht, denn Amnesty International wirft sowohl Syrien als auch dem Iran Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor, aber das Verbrechen der Apartheid trifft auf diese Länder nicht zu.
Die offizielle israelische Kritik an dem Bericht konzentriert sich auf den historischen Teil und nicht auf die Leugnung der gegenwärtig an den Palästinensern begangenen Verbrechen. Das gegen Amnesty International vorgebrachte Argument ist nicht, dass die Fakten falsch sind, sondern dass der Bericht die Existenz Israels selbst untergräbt, indem er behauptet, dass seit der Staatsgründung systematisch versucht wurde, palästinensisches Land zu konfiszieren, um eine jüdische Mehrheit statt der bisherigen palästinensischen Bevölkerungsmehrheit zu schaffen. In der Stellungnahme des israelischen Außenministeriums heißt es, der Bericht bestreite Israels Recht, überhaupt zu existieren. Kein anderes Land, das von Amnesty International beschuldigt wird, hat in dieser Weise auf Vorwürfe reagiert. Syrien und der Iran würden auch dann weiter existieren, wenn sie aufhören, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen, aber der Staat Israel, so muss man die israelische Regierung verstehen, könne die Apartheid nicht beenden, ohne seine Existenz auszulöschen.
Innerhalb Israels berichteten die Zeitungen in hebräischer Sprache nicht darüber, dass Amnesty International einen Bericht über Apartheid veröffentlicht hat (Quelle auf Hebräisch), darunter die drei größten hebräischsprachigen Zeitungen: Yedioth Ahronot, Maariv und Israel Hayom. Die englischsprachigen Zeitungen (Jerusalem Post und Times of Israel) zitierten lediglich die Reaktion der israelischen Regierung auf den Bericht. Nur Haaretz und die ultra-orthodoxe Zeitung Hamodia veröffentlichten auf ihren ersten Seiten, dass Amnesty International Israel der Apartheid beschuldigt.
Generalsekretärin von Amnesty International, Agnès Callamard
Auf der Website des israelischen Fernsehsenders N12 wird ein schriftlicher Bericht über ein Interview mit der Generalsekretärin von Amnesty International, Agnès Callamard, wiedergegeben, in dem sie falsch zitiert wird. Sie sagte, sie verstehe, dass einige der Ergebnisse des Berichts schockierend sein könnten; daraus macht der Sender den Titel des Interviews: „Wir wollten die Menschen schockieren“ (Quelle auf Hebräisch).
Die israelische Sektion von Amnesty International hat den Bericht gebilligt und eine zusammenfassende Übersetzung auf Hebräisch veröffentlicht. Sie kündigte an, dass sie Veranstaltungen und Gespräche in Israel durchführen wird, um den Bericht zu diskutieren und bekannt zu machen, fügte aber hinzu, dass sie sich aus rechtlichen Gründen nicht mit den Schlussfolgerungen befassen kann, da die israelische Gesetzgebung gegen Boykott keine Redefreiheit zulässt (Quelle auf Hebräisch und Arabisch).
Vier in Haaretz veröffentlichte Artikel reagierten auf den Amnesty-Bericht. Der erste stammt von Mordechai Kremnitzer, einem Juraprofessor, der die Auffassung vertritt, ein Apartheidsystem bestehe in den besetzten palästinensischen Gebieten, nicht aber innerhalb des Staates Israel, obwohl er zugibt, dass das israelische „Nationalstaatsgesetz“ den Apartheid-Vorwurf belegt. Ähnlich äußerte sich Alon Liel, der ehemalige israelische Botschafter in Südafrika (Quelle auf Hebräisch).
Dass sich Palästinenser aus verschiedenen Teilen der israelisch besetzten Gebiete nur online treffen konnten, um den Amnesty International Bericht zu besprechen, ist für Hanin Majadli ein Beweis für Apartheid (Quelle auf Hebräisch). Selbst Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft (wie Majadli) haben nicht das Recht, Freunde und Verwandte im Westjordanland und im Gazastreifen zu treffen. Ein Teilnehmer aus dem Gazastreifen konnte wegen eines Stromausfalls nicht in vollem Umfang an dem Treffen teilnehmen.
Schließlich fragte der Haaretz-Journalist Gideon Levy einfach, was an dem Bericht von Amnesty International unwahr sei. Er schrieb, jeder Israeli wisse, dass diese Anschuldigungen zutreffend seien, und deshalb müsse die Schlussfolgerung akzeptiert werden – Apartheid existiere.
In Deutschland löste der Bericht von Amnesty International einen kleinen Skandal aus. Die deutsche Sektion von Amnesty International distanzierte sich zunächst von dem Bericht und schrieb eine kurze Mitteilung, dass sie Veranstaltungen und Vorträge zur Verbreitung des Berichts in Deutschland wegen des Holocausts nicht unterstützen werde. Michael Sappir von der jüdischen Gruppe in Leipzig „JID“ schrieb, die Entscheidung der deutschen Sektion von Amnesty International sei nicht durch ehrliche Schuldgefühle motiviert, sondern von der Angst, des Antisemitismus bezichtigt zu werden.
Diese Feigheit der deutschen Sektion von Amnesty International bewahrte die Organisation dennoch nicht vor dem Vorwurf des Antisemitismus, und tatsächlich wurde der Text mit der Distanzierung kurz darauf gelöscht, da Amnesty Deutschland mit Protestschreiben bombardiert wurde. Der Gedanke, dass das Engagement der Organisation für die Menschenrechte im Namen eines deutschen Partikularismus in Bezug auf den Holocaust in Frage gestellt werden sollte, impliziert, dass jüdische Rechte eine Sonderrolle im Rahmen der Menschenrechten innehaben – ein unhaltbarer Gedanke. Für die deutschen Aktivisten von Amnesty International ist es peinlich, dass die israelischen Aktivisten der Organisation bereit waren, den Bericht trotz des Risikos staatlicher Verfolgung offen zu unterstützen.
Wie nicht anders zu erwarten, griff das deutsche Außenministerium den Bericht an und nannte ihn „einseitig“ und unausgewogen: „Begriffe wie Apartheid ebenso wie eine einseitige Fokussierung der Kritik auf Israel lehnen wir ab. Für eine Lösung des Nahostkonflikts ist das nicht hilfreich.“
Der Zentralrat der Juden betete die offizielle Linie der israelischen Regierung gegen den Bericht nach, warf Amnesty International Antisemitismus vor und ignorierte die fünf früheren Berichte über die israelische Apartheid. Damit hat er wieder einmal bewiesen, dass er ein Sprachrohr der israelischen Regierung ist und keine Organisation, die deutsche Juden vertritt. Die Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost e.V.begrüßte den Bericht und vertrat die Auffassung, dass die deutsche Sektion von Amnesty International dem Kampf gegen Antisemitismus nicht dienlich sei, indem sie sich von dem Bericht distanziere.
In den deutschen Medien reagierten mehr deutschsprachige Zeitungen auf den Bericht als hebräischsprachige. Die taz veröffentlichte drei verschiedene Artikel: einen sachlichen und fairen Bericht von Jannis Hagmann, eine Diffamierung des Berichts von Judith Poppe, ohne auf seine Argumente einzugehen, indem sie ihn als antisemitisch bezeichnete, und einen pro-israelischen Propagandaartikel von Jan Feddersen.
Sowohl Hanno Hauenstein von der Berliner Zeitung als auch Peter Münch von der Süddeutschen Zeitung haben Artikel veröffentlicht, die eine ausgewogene und aufschlussreiche Perspektive auf den Bericht bieten, was zeigt, dass sie ihn tatsächlich gelesen haben, sie haben auch Kritik an ihm geäußert.
Bemerkenswert ist der Gastbeitrag des ehemaligen israelischen Generalstaatsanwaltes Michael Benyair in der Frankfurter Rundschau, der praktisch alle Vorwürfe des Amnesty-Berichts bestätigt.
BIP-Mitglied und Völkerrechtsprofessor Prof. Dr. Norman Paech hat für Telepolis eine rechtliche Analyse des Berichts verfasst, die dessen Bedeutung und Relevanz hervorhebt.
Amnesty International stellte klar, dass es in dem Bericht nicht um das Judentum oder die jüdische Selbstbestimmung geht. Generalsekretärin Agnès Callamard warf der israelischen Regierung Lüge vor, wenn sie behauptet, der Bericht würde zur Zerstörung des Staates Israel aufrufen (Quelle auf Hebräisch).
Einige Palästinenser haben kritisiert, dass der Bericht von Amnesty International nicht tief genug in die Ursachen der Apartheid eindringt, den Zionismus nicht anprangert und die israelische Apartheid nicht im Rahmen des Siedlerkolonialismus analysiert.
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Als Update zur BIP-Aktuell #199 möchten wir auf diesem Artikel hinweisen, über die Nutzung des Programme „Pegasus“ von NSO gegen israelische Aktivisten:
https://www.haaretz.com/israel-news/calcalist-police-used-pegasus-against-netanyahu-s-associates-protest-leaders-1.10595999?utm_source=mailchimp&utm_medium=content&utm_campaign=breaking-news&utm_content=afafc5b465
Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever. V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.