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Warum verfolgt das israelische Militär nicht SoldatInnen, die gegen das Gesetz verstoßen?

Zusammenfassung: In seinem neuesten Artikel beleuchtet Gideon Levy die regelmäßige Praxis des israelischen Militärs, die Tötung von PalästinenserInnen durch SoldatInnen nicht zu untersuchen. Schlupflöcher im israelischen Militärgerichtssystem ermöglichen es, von einer Bestrafung abzusehen, es sei denn, sie haben Eigentum gestohlen. Selbst wenn Strafen verhängt werden, sind sie viel milder als Strafen für PalästinenserInnen, die Israelis getötet haben. Die israelischen SoldatInnen haben sich an ihre Macht gewöhnt, PalästinenserInnen brutal zu behandeln, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Allerdings müssen sie möglicherweise mit einer Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof rechnen.

In seinem wöchentlichen Artikel über die Besatzung übt Gideon Levy in Haaretz scharfe Kritik am israelischen Militärjustizsystem. Er listet sieben Fälle auf, in denen israelische SoldatInnen wehrlose PalästinenserInnen töteten – am Boden oder aus der Luft, wobei sie scharfe Munition gegen Männer, Frauen und Kinder, also gegen unbewaffnete ZivilistInnen, einsetzten. Stets war die Reaktion des Militärs dieselbe. Zunächst veröffentlicht das Militär eine Erklärung, dass die SoldatInnen in Selbstverteidigung gehandelt und auf Angriffe von PalästinenserInnen reagiert hätten. Wenn Videomaterial und Zeugenaussagen auftauchen, die beweisen, dass dies eine Lüge ist, verspricht das Militär, eine Untersuchung einzuleiten. Die Untersuchung wird jedoch regelmäßig auf unbestimmte Zeit verschoben, und die SoldatInnen werden fast nie für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen.

Die israelischen SoldatInnen unterliegen der Militärgerichtsbarkeit, bei der ihre eigenen Kommandeure sie vor Gericht stellen und bestrafen können. Die Militärgerichtsbarkeit wird jedoch nur auf kleinere Vergehen während der Ausbildung oder in Kriegszeiten angewandt. Bei Misshandlung oder Ermordung von PalästinenserInnen durch israelische SoldatInnen sind Militärpolizei, Militärstaatsanwalt und Militärrichter für die Ermittlungen und für den Prozess zuständig. Gehören die Täter der Grenzpolizei an, einer paramilitärischen Sondereinheit, die offiziell dem Polizeiministerium untersteht, müsste dessen Abteilung die internen Ermittlungen aufnehmen. In der Realität führt keines dieser beiden Systeme zu Ermittlungen oder gar zur Erhebung von Anklagen gegen SoldatInnen und GrenzpolizistInnen.

Wie palästinensische und israelische Anwälte gezeigt haben, nutzt die Militärjustiz die Tatsache aus, dass die Militärgerichtsbarkeit nicht nur ein System ist, das die Menschenrechte der Soldaten missachtet, sondern ihnen auch Schutz gewährt, wenn sie Handlungen begehen, die als Verbrechen eingestuft würden, wenn ein Zivilist sie begangen hätte. Wenn die Untersuchung lange genug hinausgezögert wird, haben die SoldatInnen ihren Militärdienst beendet, sie sind dann ZivilistInnen und fallen nicht mehr unter die Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit. Die Militärpolizei schließt dann den Fall mit der Begründung ab, dass sie den Verdächtigen nicht mehr zur Anklage bringen kann. Der berühmte Satz „Verzögerte Gerechtigkeit ist verweigerte Gerechtigkeit“, der dem ehemaligen britischen Premierminister William E. Gladstone zugeschrieben wird, ist nicht nur ein Sprichwort, sondern Realität in Israel/Palästina. Wenn die Ermittlungen lange genug hinausgezögert werden, bleibt keine Möglichkeit mehr, Anklage zu erheben, selbst wenn es um Mord geht.

Graffiti an der Trennmauer zum Gedenken an Eyad el-Hallaq, der im Mai 2020 von der Grenzpolizei getötet wurde. Seine Mörder wurden weder verhaftet noch eines Verbrechens angeklagt. Quelle: Seka Hamed, Wikipedia, 2020.

Anders ist es, wenn SoldatInnen Eigentumsdelikte begehen. SoldatInnen, die Geld und Wertsachen von PalästinenserInnen und internationalen AktivistInnen in den besetzten Gebieten stehlen, werden häufiger zur Rechenschaft gezogen und bestraft. Die Begründung, die SoldatInnen hätten Gewalt zur Selbstverteidigung angewendet, kann nicht zur Rechtfertigung von Diebstahl oder Raub verwendet werden, so dass die JuristInnen keine andere Wahl haben, als das Gesetz strikt anzuwenden. Die Tatsache, dass Verbrechen gegen Privateigentum härter bestraft werden als Verbrechen gegen Menschen, führt für die PalästinenserInnen im täglichen Leben jedoch keineswegs zu größerer Sicherheit. SoldatInnen wissen, dass es für sie schwerwiegendere Konsequenzen hat, einer PalästinenserIn die Brieftasche zu stehlen, als sie zu töten. Gideon Levy schrieb seinen Artikel als Reaktion auf einen besonderen Fall, bei dem fünf Grenzpolizisten wegen 14 verschiedenen Fällen von Misshandlung und Folter palästinensischer Arbeiter in der Nähe der Trennmauer vor Gericht gestellt wurden. Die Grenzpolizisten wurden noch nicht verurteilt, aber dass die Ermittlungen gegen sie effizient geführt wurden und Anklage erhoben wurde, liegt nicht daran, dass sie die palästinensischen Arbeiter verprügelten, sondern dass sie ihr Geld stahlen.

In seltenen Fällen, bei denen Soldaten für die Tötung von Palästinensern verurteilt wurden, war es wegen kleinerer Schuldvorwürfe wie „Eröffnen des Feuers entgegen den Vorschriften“ oder höchstens „Totschlag“, aber niemals wegen Mord. Infolgedessen wissen die Soldaten, dass die Strafe, die ihnen droht, selbst wenn sie angeklagt und verurteilt werden, viel milder sein wird als die Strafe, die einem Palästinenser für dieselbe Gewalt droht, wenn sie gegen Israelis gerichtet war.

Berühmt wurde der Fall des israelischen Sergeanten Elor Azaria, der im März 2016 Abdel Fatahl el-Sharif in Hebron ermordete, eine Tat, die von B`tselem aufgezeichnet wurde. Azaria lehnte es ab, Selbstverteidigung geltend zu machen, und wurde deshalb 2017 wegen Totschlags verurteilt. Er wurde jedoch nur zu 18 Monaten Haft verurteilt und nach neun Monaten freigelassen. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Gefängnisstrafe für Totschlag infolge eines Autounfalls beträgt in Israel vier Jahre (z.B dieser Fall auf Hebräisch).

In seinem Artikel listet Gideon Levy die folgenden Verbrechen auf: Die Tötung von Eyad al-Hallaq, ein junger Mann, der Autist war und im Mai 2020 in der Altstadt von Jerusalem von der Grenzpolizei erschossen wurde; die Tötung von neun Mitgliedern der Familie Al-Sawarka im Schlaf im Gazastreifen durch einen israelischen Piloten im November 2019; die Tötung von Omar Badawi im Al-Aroub-Flüchtlingslager im Westjordanland durch israelische SoldatInnen im November 2019, als er ein Handtuch in der Hand hielt, um einen kleinen Brand zu löschen; die Verwundung von Abdel Rahman Schatawi, 9 Jahre alt, in Nablus durch SoldatInnen. Sie hatten im Januar 2020 dem Jungen in den Kopf geschossen, er ist bis heute hirntot. Muhamed Schatawi, der Cousin von Abdel Rahman Schatawi, war 14 Jahre alt, als SoldatInnen ihn im Januar 2020 in Kadoum mit einem Kopfschuss töteten. Im Februar 2020 töteten israelische Soldaten in Dschenin Tareq Baduan, einen palästinensischen Polizeibeamten. Der junge Bader Haraschi, 20 Jahre alt, sprach während einer Demonstration im Februar 2020 neben Qaffin im nordwestlichen Teil des Westjordanlandes mit einem israelischen Soldaten. Der Soldat ging weg und kehrte mit einem Fahrzeug zurück, öffnete die Tür und schoss Haraschi in den Kopf und tötete ihn. Schließlich erzählt Gideon Levy die Geschichte von Zaid Qaisiya, 17 Jahre alt, der im Mai 2020 im al-Fawwar-Flüchtlingslager mit seinem kleinen Bruder auf dem Hausdach stand, als ein als Palästinenser verkleideter israelischer Soldat ihm ins Gesicht schoss und ihn tötete. In allen diesen sieben Fällen behauptete das israelische Militär zunächst, dass die Gewalt als Selbstverteidigung gerechtfertigt gewesen sei, und versprach später, eine Untersuchung einzuleiten, aber in keinem dieser Fälle wurde Anklage gegen die Täter erhoben. Fünf Tage nach dem Artikel von Gideon Levy wurde ein weiterer Palästinenser von israelischen Streitkräften getötet. Samir Ahmad Hamidi, 28 Jahre alt, wurde in Beit Lid im Westjordanland erschossen. Das Militär behauptet, die Soldaten hätten in Selbstverteidigung geschossen, weil Hamidi angeblich Molotow-Cocktails auf sie geworfen habe. Die übliche vorgeschobene Begründung.

Diese Infografik von Visualising Palestine wurde 2017 erstellt, um auf die Straflosigkeit der israelischen Soldaten hinzuweisen, die 2014 Palästinenser in Gaza getötet haben. Mit Genehmigung verwendet.

Warum dürfen israelische Soldaten ungestraft töten und werden nicht für exzessive Gewaltanwendung bestraft, selbst wenn sie gegen die Befehle ihrer Kommandeure verstoßen? Der Grund dafür ist, dass das israelische Militär zu einer kolonialen Expeditionstruppe verkommen ist, „Statthalter der Besatzung der Zivilbevölkerung”, so Prof. Moshe Zuckermann. Die SoldatInnen genießen dennoch hohes Ansehen in der israelischen Öffentlichkeit und entwickeln ein Überlegenheitsgefühl, das sie durch die unmenschliche Behandlung der PalästinenserInnen gewinnen. Das scheint auch auf die Wehrpflichtigen zuzutreffen. Da die Zahl derer, die ihre Wehrpflicht erfüllen, in Israel unter 48 % gesunken ist, kann man nicht mehr sagen, dass der Militärdienst in Israel wirklich obligatorisch ist. Die meisten jungen Israelis, die der Armee beitreten, tun dies offensichtlich, um Macht ausüben zu können. Was ihnen Macht verleiht, ist die Möglichkeit, brutal und straflos gegen Palästinenser vorzugehen. Während der wilden Demonstrationen zur Unterstützung von Elor Azaria befürchteten die Generäle, dass die Erzwingung von Disziplin sowie echte Gerichtsverfahren eine Meuterei bei den SoldatInnen auslösen könnten. In Videos, die in sozialen Medien veröffentlicht wurden, wurde deutlich, dass die SoldatInnen die Gelegenheit, Palästinenser zu töten, als eine Ehre und als Belohnung für ihren Militärdienst betrachten.

Wenn man Soldaten für die Tötung von Palästinensern nicht zur Rechenschaft zieht, gewinnt das israelische Militär vielleicht motiviertere und loyalere Soldaten, aber zu einem sehr hohen Preis. Nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs kann gegen Einzelpersonen nur dann Anklage erhoben werden, wenn ihr eigenes Land ihre Verbrechen nicht ordnungsgemäß verfolgt. Solange das israelische Militärgerichtssystem nicht gegen die illegale Tötung von Palästinensern ermittelt und Anklage erhebt, kann jeder israelische Soldat und jede Soldatin vom Internationalen Strafgerichtshof mit einer Anklage konfrontiert werden. Wenn die ersten Anklagen wegen Kriegsverbrechen gegen israelische SoldatInnen und Offiziere vorgebracht werden, werden Loyalität und Disziplin der israelischen Armee wahrscheinlich nicht sehr lange aufrechtzuhalten sein.

Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever.
V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand 

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