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Yedioth Ahronot ist die auflagenstärkste Tageszeitung in Israel. Ausgerechnet dort erschien am 24. Juni 2016 dieser Artikel von Sima Kadmon über die Kriegsdienstverweigerin Tair Kaminer.

UNSER MÄDCHEN
von Sima Kadmon, Yediot Ahronot

Am vergangenen Freitag stand Tair Kaminer, 19, vor dem Kommandanten der Einberufungsstelle Oberst Aran Shani und wurde zum sechsten Mal wegen Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen verurteilt. Das Urteil lautete: Weitere 45 Tage Gefängnis. Damit haben sich ihre Hafttage auf insgesamt 170 addiert.

Oberst Shani sagte zu Kaminer, sie sei in der Tat tapfer und intelligent, sie stünde jedoch wegen der Verweigerung ihrer Einberufung vor Gericht, nicht etwa wegen ihrer Ansichten, und das würde sie teuer zu stehen kommen. Er betonte auch, falls es ihr nicht klar sei, dass das Militär stärker sei als sie.

An dieser Stelle sei betont, dass die Israelische Armee (IDF) mehr als der Hälfte der jährlichen Einberufenen die Möglichkeit gibt, die Einberufung zu umgehen oder vorzeitig entlassen zu werden. Dafür gibt es mannigfache Gründe: Gesundheitsprobleme, Heirat oder Schwangerschaft, wirtschaftliche Engpässe daheim, psychologischer Stress. Ein weiterer Grund ist der Ausschluss aus religiösen oder Gewissensgründen.

Zweifellos weiß der Kommandant der Einberufungsstelle, Oberst Aran Shani, was Religion ist; ob er auch weiß, was Gewissen bedeutet, ist fraglich.

Diese Zeilen schrieb Tair Kaminer an das ‚Gewissens-Komitee‘, das Ende des Monats tagt, um ihren Fall zu besprechen:

„Ich wurde in Israel geboren und bin hier aufgewachsen, ich habe eine höhere Schulbildung auf dem Kunstgymnasium genossen, ich war zunächst Mitglied und dann Gruppenführerin der Jugendbewegung der Pfadfinder in Tel Aviv und vor zehn Monaten beendete ich mein Freiwilliges Soziales Jahr bei den Pfadfindern von Sderot. Seit dem 10. Januar 2016 wurde ich wegen meiner Verweigerung, beim Militär zu dienen, wiederholt zu Haftstrafen in Militärgefängnissen verurteilt – trotz meines Ersuchens, alternativ einen Zivildienst zu leisten.

Seit meiner Kindheit höre ich von vielen Ereignissen, die mit der Armee zu tun haben; von ihrer Herrschaft über die palästinensische Bevölkerung, ihrer Rolle bei der Verteidigung der Siedlungen und darüber, dass vielen Bewohnern in der Region ihre Rechte verweigert werden. Zuhause wurde ich zu kritischem Denken erzogen und dazu, Dinge nicht einfach zu akzeptieren, ohne nachzufragen. Aber ich wurde nie in eine Richtung gedrängt bezüglich einer Entscheidung, den Militärdienst zu verweigern oder nicht.“

Kaminer beschreibt frühere eindrückliche Erlebnisse wie etwa eine Demonstration für Freiheit und Gleichheit in einem palästinensischen Dorf, der sie als 9-Jährige beiwohnte. Die Demonstration wurde von der IDF mit Rauchgranaten aufgelöst. Oder den Wandel, den sie erfuhr, nachdem sie nach einem Jahr freiwilliger Arbeit in Sderot beschloss, nicht beim Militär zu dienen. „Die Kids, mit denen ich gearbeitet habe“ schreibt Kaminer, „wachsen im Herzen des Konfliktes auf und leiden von klein auf unter Traumata. Sie sind prägend und erzeugen Hass (verständlicherweise); es sind die selben Erfahrungen, die die Kinder in Gaza oder den besetzten Gebieten machen. Ich bin nicht in der Lage, aktiv am Erhalt dieses Status Quo mitzuwirken. Das würde bedeuten, gegen mein Gewissen zu handeln. … Mir wurde klar, dass ich nicht fähig wäre, mit mir selbst zu leben, wenn ich wüsste, dass ich geschwiegen hätte angesichts all der Dinge, die sich in meinem Land abspielen. Leider bedeutet Sicherheit bei uns nur Sicherheit für Juden. Zudem führt die Atmosphäre heutzutage in Israel zum Blutvergießen von all jenen, die Nicht-Juden sind … So lange die israelische Regierung mit Hilfe des Militärs weiterhin das palästinensische Volk besetzt und unterdrückt und weiterhin das Grundrecht dieses Volkes auf Freiheit und Selbstbestimmung verweigert, bin ich nicht fähig, in solch einer Armee zu dienen, die in krassem Gegensatz zu meinen Überzeugungen steht.“

Nachdem der Todesschütze von Hebron, Eluor Azria, von so Vielen unterstützt und als „unser Junge“ bezeichnet wurde, erlaube ich mir jetzt, Tair Kaminer „unser Mädchen“ zu nennen.

Ein Mädchen, das sich der Besatzung widersetzt, das die Anerkennung ihres Dienstes beim Militär aus Gewissensgründen fordert, anstatt zu behaupten, sie sei orthodox, anstatt eine Scheinehe einzugehen oder sich dem Militärpsychologen vorzustellen und psychische Belastungen vorzutäuschen; anstatt zu versuchen, einen ruhigen Job zu bekommen im IDF Warenager, beim IDF Radiosender, im IDF Pressebüro oder beim militärischen Rabbinat.

Sie verweigert es, im Rampenlicht zu stehen wie eine außergewöhnliche Athletin oder so manche Knesset-Abgeordnete – so wie Säulen der Gesellschaft oder Minister oder Parteiführer es bereits taten. Hartnäckig besteht sie darauf, aus Gewissensgründen befreit zu werden vom Dienst bei einer Armee, die längst vergessen zu haben scheint, was Gewissen bedeutet.

Der schießende Soldat aus Hebron hat keinen einzigen Tag im Gefängnis verbracht, und es ist zweifelhaft, ob er das je tun wird. Der Bataillonsführer, der einen fliehenden Jungen, der zuvor Steine geworfen hatte, in den Rücken schoss, wurde niemals angeklagt. Eine Verwaltungsprüfung – keine juristische – befreite ihn vor einer Bestrafung. Ultraorthodoxe Männer erscheinen nicht einmal vor dem Einberufungszentrum, um sich ihre Entlassung abzuholen; sie bevölkern die Straßen. Aber Kaminer, unser Mädchen, sitzt im Gefängnis.

Sybil Goldfeiner, Tairs Mutter, erzählte mir diese Woche, dass ihre Tochter sich nicht als Pazifistin bezeichne, denn sie sei keine. Die meisten Menschen lügen einfach, sagte Goldfeiner, aber Tair wolle nicht lügen. „Sie hat ein freiwilliges Jahr absolviert und sie will einen nationalen Dienst ableisten. Aber die Armee kämpft gegen meine moralische Tochter, die ja einen Beitrag leisten will! Eine wahre Feindin Israels.“

Kaminer sitzt im Gefängnis Nr. 6 in Haft. Sieben Minuten pro Tag darf sie telefonieren. Sie darf eine halbe Stunde Besuch empfangen, einmal alle zwei Wochen. Sie schreibt auf Papier ein Gefängnistagebuch und gibt es ihrer Mutter. Goldfeiner tippt es ab und postet es als Blog.

Sie könnte so viel tun als Zivildienstleistende, sagt Goldfeiner. Im Dizengoff Pfadfinderclub organisierte sie als Jugendleiterin ein Sommercamp für 800 Kinder. In Sderot managte sie die gesamte Pfadfinder-Jugendgruppe ein ganzes Jahr lang.

Aber das, was ihre Mutter sieht, scheint der IDF zu entgehen. Und der Befehlshaber der Einzugsbehörde und seine Offiziere werden so lange ihre Macht gegen Kaminer einsetzen, bis sie aufgibt. Allein schon, um anderen Verweigerern aus Gewissensgründen klar zu machen, wie der Hase läuft. (Omri Barnes, die bereits 37 Tage abgesessen hatte, wurde gerade zum dritten Mal verurteilt).

Offensichtlich fürchtet die Armee, dass bei den Vielen, die lügen und die Jahr für Jahr entlassen werden, die Zahl der Gewissens-Verweigerer sich verdoppeln könnte oder sogar auf sechs steigen könnte – und was würde man da tun?! Man ist entschlossen zu beweisen, dass die Armee stärker ist als sie – als gäbe es daran irgend einen Zweifel.

Aber es gibt Zweifel. Ganz offensichtlich gibt es da eine junge Frau, die stärker ist. Auf jeden Fall klüger.

(ins Deutsche übertragen von Nirit Sommerfeld)

 

 

3 Kommentare

  1. Ich finde es fantastisch, daß eine junge Frau den Mut hat, alle Konsequenzen einer Verweigerung des Militärdienstes zu tragen und gleichzeitig erschreckend, eher abstoßend, daß der Staat Israel eine so mutige und differenzierte, aktive Frau hinter Gitter bringt, um sie mundtot zu machen!!

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