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Michelle Alexanders vollständiger Text

Vor einer Woche berichteten wir in Auszügen von Michelle Alexanders Essay in der New York Times, in dem sie unverblümt den Standpunkt Palästinas im Nahostkonflikt einnimmt.
Das Bemerkenswerte ist, dass ein solcher Text in der New York Times, dem liberalen Leitmedium der USA gedruckt wurde. Das steht in frappierendem Gegensatz zu unserem liberalen Leitmedium, der Süddeutschen Zeitung, die am letzten Montag einen ganzseitigen Artikel brachte, der kein gutes Haar am menschenrechtlich motivierten Eintreten für Palästinenser ließ.
Dies bestärkte uns darin, hier den vollständigen Artikel von Michelle Alexander, von uns übersetzt, (leicht gekürzt) abzudrucken.

Michelle Alexander ist Juristin, engagiert sich gegen die Diskriminierung von Afroamerikanern im Justizwesen der USA und schreibt seit 2018 Meinungsartikel in der New York Times (NYT).

ES IST ZEIT, DAS SCHWEIGEN ÜBER PALÄSTINA ZU BRECHEN

Martin Luther King Jr. wandte sich mutig gegen den Vietnamkrieg. Wir müssen das Gleiche tun, wenn es um das gravierende Unrecht unserer Tage geht.
New York Times, 19. Januar 2019
Von Michelle Alexander

Am 4. April 1967, genau ein Jahr vor seiner Ermordung, trat Pastor Dr. Martin Luther King Jr. an das Pult der Riverside Church in Manhattan. (…) Mehr als 400.000 amerikanische Soldaten kämpften damals in Vietnam, und das politische Establishment – von links bis rechts – unterstützte den Krieg.
Viele seiner engsten Verbündeten forderten King auf, über den Krieg zu schweigen oder seine Kritik zumindest zu mäßigen. (…) King wies alle wohlmeinenden Ratschläge zurück und sagte: „Ich komme heute Abend in dieses prächtige Gotteshaus, weil mir mein Gewissen keine andere Wahl lässt.“ Er zitierte eine Erklärung der Gruppe Clergy and Laymen Concerned about Vietnam: „Es kommt eine Zeit, in der Schweigen Verrat ist“ und fügte hinzu: „Diese Zeit ist für uns in Bezug auf Vietnam gekommen“.

Es war eine moralische Einstellung, mit der er ziemlich allein war. Und sie schadete ihm. Aber es ist ein Beispiel dafür, was von uns verlangt wird, wenn wir unsere grundlegenden Werte in Krisenzeiten respektieren wollen, auch wenn das Schweigen unseren persönlichen Interessen oder denen der Gemeinschaft, der wir angehören, mehr nützen würde. Daran denke ich, wenn ich über die Ausreden und Rationalisierungen nachdenke, die mich bisher bewogen haben, zu einer der großen moralischen Herausforderungen unserer Zeit, der Krise in Israel-Palästina, weitgehend zu schweigen.

Aber ich war damit nicht allein. Bis vor kurzem hat der gesamte Kongress zu den Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten weitgehend geschwiegen. Unsere gewählten Vertreter, die in einem politischen Umfeld agieren, in dem die politische Lobby Israels über einen allgemein bekannten Einfluss verfügt, haben die Kritik am Staat Israel durchweg auf ein Mindestmaß abgeschwächt, obwohl Israel sich bei seiner Besatzung des palästinensischen Territoriums immer mehr ermutigt fühlte, auch Maßnahmen zu ergreifen, die an die Apartheid in Südafrika und die Segregation von Jim Crow in den Vereinigten Staaten erinnern.
Auch viele Bürgerrechtler und Bürgerrechtsorganisationen haben geschwiegen, nicht weil sie nicht besorgt gewesen wären und keine Sympathie für das palästinensische Volk gehabt hätten, sondern weil sie den Verlust von finanzieller Unterstützung durch Stiftungen befürchteten und Antisemitismusvorwürfen entgehen wollten. (…) Ebenso haben viele Studierende Angst, sich für Rechte der Palästinenser einzusetzen, und zwar wegen des McCarthy-artigen Vorgehens von anonymen Organisationen wie der Canary Mission, die alle, die es wagen, einen Boykott gegen Israel öffentlich zu unterstützen, auf die schwarze Liste setzt und damit ihre Stellenaussichten und ihre zukünftige Karriere gefährdet.

Wenn ich Kings Rede in Riverside mehr als 50 Jahre später lese, stelle ich fest, dass seine Botschaft uns auffordert, entschieden gegen die Verletzung der Menschenrechte in Israel-Palästina Stellung zu beziehen (…). Als King von Vietnam sprach, argumentierte er, dass wir uns selbst dann nicht durch unsere Verunsicherung lähmen lassen dürfen, „wenn die anstehenden Probleme so verwirrend erscheinen wie oft bei diesem schrecklichen Konflikt. Wir müssen mit all der Demut sprechen, die unserem begrenzten Durchblick angemessen ist, aber wir müssen sprechen.“

Wenn wir also der Botschaft Kings und nicht nur seiner Person Anerkennung zollen wollen, müssen wir Israels Vorgehen verurteilen: gravierende Verletzungen des Völkerrechts, fortgesetzte Besetzung des Westjordanlandes, Ost-Jerusalems und des Gazastreifens, Hauszerstörungen und Beschlagnahmung von palästinensischem Land. Wir müssen die Behandlung der Palästinenser an den Kontrollpunkten, die routinemäßige Durchsuchung ihrer Häuser und die Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit sowie den stark eingeschränkten Zugang zu angemessenen Wohnungen, Schulen, Lebensmitteln, Krankenhäusern und Wasser, mit denen viele von ihnen konfrontiert sind, verurteilen.
Wir dürfen nicht tolerieren, dass Israel sich weigert, das Recht palästinensischer Flüchtlinge auf Rückkehr in ihre Heimat, wie es Resolutionen der Vereinten Nationen vorschreiben, auch nur zu diskutieren, und wir sollten sowohl die Gelder der US-Regierung, mit denen zahlreiche Angriffe mit Tausenden von zivilen Opfern in Gaza unterstützt wurden, als auch die 38 Milliarden Dollar, die die US-Regierung Israel zur militärischen Unterstützung zugesagt hat, hinterfragen.
Und schließlich müssen wir mit so viel Mut und Überzeugungskraft wie möglich gegen das System der gesetzlichen Diskriminierung innerhalb Israels die Stimme erheben, ein System, das laut Adalah, dem Legal Center for Arab Minority Rights in Israel, über 50 Gesetze umfasst, durch die die Palästinenser diskriminiert werden — wie das neue Nationalstaatsgesetz, das ausdrücklich besagt, dass nur jüdische Israelis das Recht auf Selbstbestimmung in Israel haben und damit die Rechte der arabischen Minderheit ignoriert.
(…)

Obwohl das Student Nonviolent Coordinating Committee die israelischen Aktionen gegen Palästinenser anprangerte, befand sich King in einem Konflikt. Wie viele schwarze Führer der damaligen Zeit erkannte er an, dass das europäische Judentum als verfolgtes, unterdrücktes und obdachloses Volk danach strebte, eine eigene Nation aufzubauen, und er wollte seine Solidarität mit der jüdischen Community zeigen, die in den USA ein äußerst wichtiger Verbündeter der Bürgerrechtsbewegung war.
Letztendlich stornierte King 1967 eine Pilgerreise nach Israel, nachdem Israel das Westjordanland erobert hatte. (…) Er sprach sich weiterhin für das Existenzrecht Israels aus, sagte im nationalen Fernsehen aber auch, es sei notwendig, dass Israel Teile des eroberten Territoriums zurückgibt, um echten Frieden und Sicherheit zu erreichen und eine Verschärfung des Konflikts zu vermeiden. Für King war es unmöglich, sein Engagement für Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit für alle Menschen, ganz gleich wo sie leben, mit den Ereignissen nach dem Krieg von 1967 öffentlich in Einklang zu bringen.
(…)

Tatsächlich hätten sich die Ansichten Kings wohl in Übereinstimmung mit denen vieler anderer geistlich inspirierter Denker wie Rabbi Brian Walt entwickelt, der öffentlich über die Gründe gesprochen hat, warum er seinen Glauben an das, was er als politischen Zionismus ansah, verloren hat. Er erklärte mir kürzlich, der liberale Zionismus bedeute, sich für die Schaffung eines jüdischen Staates einzusetzen, der ein dringend benötigter sicherer Hafen und kulturelles Zentrum für jüdische Menschen auf der ganzen Welt sein würde, „ein Staat, der die höchsten Ideale der jüdischen Tradition widerspiegeln und respektieren würde.“ Er sagte, dass er in Südafrika in einer Familie aufgewachsen sei, die diese Ansichten geteilt und sich zum liberalen Zionismus bekannt habe, bis seine Erfahrungen in den besetzten Gebieten ihn für immer veränderten.
Während seiner mehr als zwanzig Besuche im Westjordanland und im Gazastreifen sah er schreckliche Menschenrechtsverletzungen, darunter palästinensische Häuser, die von Bulldozern zerstört wurden, während die Menschen weinten – Kinderspielzeug, das über ein verwüstetes Grundstück verstreut war – und palästinensisches Land, das beschlagnahmt wurde, um Platz für neue illegale Siedlungen zu schaffen, die von der israelischen Regierung subventioniert wurden. Er musste zur Kenntnis nehmen, dass diese Zerstörungen, Siedlungen und gewaltsamen Enteignungen keine Taten Einzelner waren, sondern vom israelischen Militär voll unterstützt und ermöglicht wurden. Für ihn war der Wendepunkt, dass er Zeuge der legalisierten Diskriminierung von Palästinensern wurde – einschließlich der Straßen, die ausschließlich von Juden benutzt werden dürfen -, die in gewisser Weise schlimmer war als das, was er als Junge in Südafrika erlebt hatte.

Vor nicht allzu langer Zeit konnte man diese Sichtweisen nur sehr selten hören. Das ist nun nicht mehr der Fall. Jewish Voice for Peace hat es sich beispielsweise zur Aufgabe gemacht, die amerikanische Öffentlichkeit über „die Zwangsvertreibung von etwa 750.000 Palästinensern, die mit der Gründung Israels begann und bis heute andauert“, aufzuklären. (…). Amerikanische Organisationen wie If Not Now unterstützen junge amerikanische Juden, die sich dafür einsetzen, das tödliche Schweigen über die Besatzung zu brechen, das immer noch unter zu vielen Menschen zu finden ist , außerdem haben sich Hunderte von weltlichen und religiösen Gruppen der US Campaign for Palestinian Rights angeschlossen.

Angesichts dieser Entwicklungen scheint die Zeit vorüber zu sein, in der Kritik am Zionismus und am Vorgehen des Staates Israel als Antisemitismus abgetan werden kann. Es scheint ein zunehmendes Verständnis dafür zu geben, dass Kritik an der Politik und Praxis der israelischen Regierung an sich nicht antisemitisch ist.
Das soll nicht heißen, dass es keinen Antisemitismus gibt. Der Neonazismus erwacht in Deutschland innerhalb einer wachsenden fremdenfeindlichen Bewegung wieder zum Leben. In den Vereinigten Staaten nahmen antisemitische Vorfälle im Jahr 2017 um 57 Prozent zu, (…). Angesichts dieses Klimas müssen wir bedenken, dass die Kritik an Israel zwar nicht von Natur aus antisemitisch ist, aber in diese Richtung abrutschen kann.

Glücklicherweise gehen Menschen wie der Pastor Dr. William J. Barber II. mit gutem Beispiel voran und verpflichten sich dem Kampf gegen den Antisemitismus und zeigen gleichzeitig unerschütterliche Solidarität mit dem palästinensischen Volk, das unter der israelischen Besatzung ums Überleben kämpft.
Er erklärte im vergangenen Jahr in einer fesselnden Rede, dass wir nicht über Gerechtigkeit sprechen können, ohne die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung, den systemischen Rassismus des Kolonialismus und die Ungerechtigkeit von staatlichen Unterdrückung anzusprechen: „Ich möchte so deutlich wie möglich sagen, dass die Menschlichkeit und die Würde einer Person oder eines Volkes die Menschlichkeit und die Würde einer anderen Person oder eines anderen Volkes in keiner Weise beeinträchtigen darf. An der Überzeugung festzuhalten, dass jeder Mensch ein Ebenbild Gottes ist, bedeutet, darauf zu bestehen, dass das palästinensische Kind so wertvoll ist wie das jüdische Kind.“

Geleitet von dieser Art von moralischer Klarheit, handeln Gruppen unterschiedlicher Glaubensrichtungen. So schloss der Pensionsausschuss der United Methodist Church im Jahr 2016 israelische Banken von seinem Multimilliarden-Dollar-Pensionsfonds aus, weil deren Kredite für den Siedlungsbau gegen das Völkerrecht verstoßen. Im Jahr davor verabschiedete die United Church of Christ eine Resolution, in der zum Abzug von Investitionen und zum Boykott von Unternehmen aufgerufen wurde, die von der Besetzung palästinensischer Gebiete durch Israel profitieren.

Selbst im Kongress zeichnet sich ein Wandel ab. Zum ersten Mal unterstützen zwei amtierende Mitglieder des Repräsentantenhauses — Ilhan Omar, Demokratin aus Minnesota, und Rashida Tlaib, Demokratin aus Michigan — öffentlich die Initiative für Boykott, Abzug von Investitionen und Sanktionen (BDS). Im Jahr 2017 brachte das Mitglied des Repräsentantenhauses Betty McCollum, Demokratin aus Minnesota, eine Resolution ein, in der sie fordert, keine US-Militärhilfe zu leisten, mit der die israelische Militärhaft für jugendliche Palästinenser finanziert wird. Israel klagt regelmäßig in den besetzten Gebieten inhaftierte palästinensische Kinder vor dem Militärgericht an.

Das alles bedeutet nicht, dass sich die Lage völlig geändert hat oder dass die Vergeltungsmaßnahmen gegen diejenigen, die sich nachdrücklich für die palästinensischen Rechte einsetzen, eingestellt wurden. (…) Bahia Amawi, einer amerikanischen Logopädin palästinensischer Abstammung, wurde kürzlich wegen ihrer Weigerung gekündigt, einen Vertrag zu unterzeichnen, in dem sie versichern sollte, sich weder jetzt noch künftig an einem Boykott des Staates Israel zu beteiligen. Im November wurde Marc Lamont Hill von CNN gefeuert, weil er eine Rede zur Unterstützung der Rechte der Palästinenser gehalten hatte, die grob falsch interpretiert wurde, nämlich als Unterstützung von Gewalt. Für studentische Aktivisten stellt die Canary Mission weiterhin eine ernsthafte Bedrohung dar.

Und vor etwas mehr als einer Woche hob das Birmingham Civil Rights Institute in Alabama, anscheinend hauptsächlich unter dem Druck von Teilen der jüdischen Gemeinschaft und anderen, seinen Beschluss auf, die Bürgerrechtsikone Angela Davis, eine lautstarke Kritikerin der Behandlung der Palästinenser durch Israel und Unterstützerin von BDS, zu ehren.
Aber dieser Angriff ging nach hinten los. Innerhalb von 48 Stunden waren Akademiker und Aktivisten aktiv geworden. Der Bürgermeister von Birmingham, Randall Woodfin, die Birminghamer Schulbehörde und der Stadtrat äußerten sich empört über die Entscheidung des Instituts. Der Stadtrat verabschiedete einstimmig eine Resolution zu Ehren von Davis, außerdem wird eine alternative Veranstaltung organisiert, um ihr jahrzehntelanges Engagement für die Befreiung unterdrückter Menschen zu feiern.

Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass King die Stadt Birmingham für ihre engagierte Verteidigung von Davis` Solidarität mit dem palästinensischen Volk loben würde. Aber ich tue das. In diesem neuen Jahr möchte ich mit größerem Mut und Überzeugung über Ungerechtigkeiten sprechen, die es jenseits unserer Grenzen gibt, insbesondere über solche, die von unserer Regierung finanziert werden, und ich werde mich mit dem Kampf für Demokratie und Freiheit solidarisch zeigen. Mein Gewissen lässt mir keine andere Wahl.

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